Mittwoch, den 23. Februar 2005 - Im Rhein-Main-Gebiet, einer der dichtbesiedeltsten Regionen Deutschlands, herrscht Ausnahmezustand. Vier Autobahnen werden zeitweise total gesperrt, Eisenbahnen angehalten, Rhein und Main für den Schiffsverkehr blockiert, Schulen und Behörden geschlossen und das historische Zentrum von Mainz vollständig abgeriegelt. Hubschrauber, Polizeieinheiten und Scharfschützen überwachen die Stadt.
Die Umleitung und teilweise Vollsperrung der Verkehrswege zwischen Frankfurter Flughafen und Mainz zwingen Zehntausende Arbeitnehmer in der Region, darunter Beschäftigte der Opelwerke in Rüsselsheim, die Schichten zu tauschen oder sich einen Tag frei zu nehmen.
Über dem Frankfurter Flughafen wird der Luftraum für fast eine Stunde geschlossen. Im Umkreis von 60 km um die Stadt Mainz gilt ein ganztägiges Flugverbot für Privatflugzeuge. Erstmalig stehen Kampfjets der Bundeswehr bereit, um im Falle einer Luftraumstörung sofort aufsteigen und angreifen zu können.
Entlang der Route vom Flughafen nach Mainz und in der Innenstadt sind amerikanische Scharfschützen auf Balkonen und Hausdächern postiert - obwohl es normalerweise ausländischen Sicherheitskräften, selbst Bodyguards, streng untersagt ist, in der Öffentlichkeit Waffen zu tragen. Seit Tagen haben Vorauskommandos der US-Geheimdienste die Lage in der Region sondiert, mit großen Maschinen wurden gepanzerte Staatskarossen, zerlegte Hubschrauber und Hunderte amerikanische "Spezialisten" eingeflogen.
In der Mainzer Innenstadt ist der Bereich um den Dom, das Schloss, den Landtag, die Staatskanzlei und das Gutenberg-Museum in eine Hochsicherheitszone verwandelt. Die Innenstadt ist ringsum mit Stellgittern zugesperrt und wird von bewaffneten Polizisten kontrolliert. Tausende Anwohner und Berufstätige gelangen nur zu Fuß und mit Ausweis hinein oder heraus, die Theodor-Heuss-Brücke - zentrale Verbindung über den Rhein nach Wiesbaden - ist sogar für Fußgänger total gesperrt.
Aus Angst vor versteckten Bomben sind 1.300 Gully- und Kanaldeckel zugeschweißt, freistehende Briefkästen, Mülleimer, Stromkästen und Fahrräder sind abmontiert. Den Anwohnern ist es ausdrücklich untersagt, ihre Balkone zu betreten oder aus dem offenen Fenster zu schauen. Sie dürfen ihre PKWs weder am Straßenrand noch in der eigenen Garage parken - viele Garagen sind versiegelt. Die Polizei hat gewarnt, sie werde sämtliche Fahrzeuge, die am Dienstag früh um sieben noch im Sperrbereich stehen, aufbrechen und abschleppen.
Müllabfuhr und Straßenreinigung stellen den ganzen Tag die Arbeit ein, viele Schulen in der Region sind geschlossen, die Uniklinik ist bis auf die Intensivstation geräumt und wird für Notfälle freigehalten. Andere Krankenhäuser haben Übernachtungen im Hause organisiert, damit Ärzte, Anästhesisten und Krankenpflegepersonal zur Arbeit gelangen können.
Droht Mainz am kommenden Mittwoch ein Terroranschlag, vergleichbar mit dem 11. September? Droht gar ein Krieg oder Bürgerkrieg? Nichts dergleichen. Es steht lediglich ein Kurzbesuch von George W. Bush ins Haus. All diese Maßnahmen werden ergriffen, um den amerikanischen Präsidenten abzuschirmen, der von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Joschka Fischer (Grüne) im Kurfürstlichen Schloss zu Mainz empfangen wird.
Die Sicherheitsmaßnahmen, von denen der Besuch begleitet wird, sind in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Sie können mit rein sicherheitstechnischen Gesichtspunkten nicht erklärt werden. Schließlich ist Mainz nicht Bagdad. Hier herrscht kein Bürgerkrieg, und Deutschland ist seit Jahrzehnten mit den USA verbündet. Die Mordrate ist niedrig, und politische Attentate hat es seit der Zerschlagung der RAF in den achtziger Jahren nicht mehr gegeben.
Kein anderer amerikanischer Präsidentenbesuch ist von vergleichbaren Sicherheitsmaßnahmen begleitet worden. Als John F. Kennedy 1963 vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin sprach, wurde er bejubelt und nahm anschließend ein Bad in der Menge. Selbst Bill Clinton tauchte bei seinem letzten Berlin-Besuch in Begleitung von Kanzler Schröder Abends überraschend in einer Szenekneipe im Prenzlauer Berg auf, bewacht lediglich von ein paar Leibwächtern.
Die Hysterie, die den Bush-Besuch begleitet, sagt weniger über die tatsächliche Gefahrenlage aus, als über die Art und Weise, wie Bush und seine Sicherheitsberater die deutsche Bevölkerung wahrnehmen. Sie wissen und spüren instinktiv, dass Bushs Politik zutiefst verhasst ist - und behandeln die deutsche Bevölkerung, als sei sie ein Nährboden für Al Qaeda. Ihre Haltung grenzt an paranoiden Verfolgungswahn.
Hätte es noch einer Wiederlegung bedurft, dass Bushs Außenpolitik den Kampf gegen "Tyrannei" und die Verbreitung von "Demokratie und Freiheit" zum Ziel hat, die Umstände seines Deutschlandbesuchs hätten sie geliefert. Nur Diktatoren, die sich der Feindschaft, die ihnen aus der Bevölkerung entgegenschlägt, zutiefst bewusst sind, umgeben sich mit derart exzessiven Sicherheitsvorkehrungen.
Viele Ostberliner erinnern sich an die Zeiten des SED-Regimes, als alle Ampeln auf Rot sprangen und ein Verkehrschaos verursachten, wenn die Karosse eines Politbüromitglieds die Stadt durchquerte oder gar Breschnew zu Staatsbesuch kam. Doch verglichen mit den Sicherheitsmaßnahmen in Mainz war dies eine harmlose Bagatelle.
Fassungslos, ungläubig und empört beobachtet die Bevölkerung das Schauspiel. Hier einige Ausschnitte aus Leserbriefen der Frankfurter Rundschau :
"Wer hat eigentlich uns Bürger gefragt, ob wir einen solchen Tag mit all den angekündigten Zumutungen wollten? Auf unsere Kosten sollen wir Urlaub nehmen, damit ein Kriegsherr auch unsere Region für mindestens einen Tag unsicher (da überall angreifbar) macht." - "Angesichts von fünf Millionen Arbeitslosen stellt sich die Frage: Kann sich die Bundesregierung... solch einen im Übrigen vollkommen überflüssigen Besuch und die damit verbundenen Maßnahmen überhaupt leisten? Mit welchem Recht wird hier Zehntausenden Pendlern und Berufstätigen so etwas zugemutet? Wer kommt für den enormen wirtschaftlichen Schaden auf?" - "Man kann doch die Bevölkerung nicht zu Gefangenen im eigenen Land machen, nur weil wir den Besuch eines anderen Präsidenten erwarten." - "Und hat man überhaupt bedacht, dass beispielsweise die Zufahrten zu Krankenhäusern sowie Verkehrswege für Rettungsfahrzeuge frei bleiben müssen? Oder nimmt man wegen des Besuchs eines Staatsgastes gar Tote in Kauf?"
Eine für Mittwoch angekündigte Demonstration unter dem Motto "Not welcome, Mr. Bush" wird von der Mainzer Innenstadt derart hermetisch abgeriegelt, dass der Staatsbesuch von ihr nichts hört oder sieht. Die Mainzer Stadtverwaltung hatte sogar verlangt, dass alle Ordner vorher namentlich erfasst werden und kein Transparent breiter als zwei Meter fünfzig sein darf - Auflagen, auf die sie erst verzichtete, als die Organisatoren der Demonstration Klage beim Verwaltungsgericht einreichten.
Was für eine Angst muss dieser "weltweit mächtigste Mann" in Wirklichkeit vor der einfachen Bevölkerung haben, dass er sich derart verschanzen muss. Eins jedoch haben die bizarren Vorkehrungen des kommenden Mittwochs schon jetzt erreicht: Sie zeigen den wahren Gehalt der "Freiheit", für die der US-Präsident weltweit eintritt - eine Freiheit, die nur durch Polizeisperren und bewacht von Scharfschützen zu erreichen ist.