Bushs früherer Anti-Terror-Koordinator Richard Clarke hat Bush und seine Spitzenberater in einem gerade erschienenen Buch und einem Interview in der CBS-Sendung "60 Minutes" am Sonntag Abend beschuldigt, die Terroranschläge vom 11. September als Vorwand für ihren Krieg gegen den Irak benutzt zu haben.
In dem Fernsehinterview kritisierte Clarke Bushs Verhalten im "Krieg gegen den Terrorismus" und sagte, die Regierung habe in den acht Monaten, von Bushs Amtsübernahme bis zum 11. September 2001, wenig Interesse an einer Verfolgung von Al-Qaida an den Tag gelegt. Danach, sagte er, hätten Spitzenpolitiker, wie Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, den Irak als Ziel einer US-Militäraktion in den Vordergrund gestellt, obwohl es überhaupt keine Verbindung zwischen Saddam Hussein und den Terroranschlägen gab.
Clarke berichtete über einen Zwischenfall vom 12. September 2001. Damals nahm Bush Clarke und mehrere andere Berater bei einer Lagebesprechung im Weißen Haus zur Seite und wies sie an, nach Hinweisen darauf zu suchen, dass der irakische Präsident in die Anschläge in New York und Washington verwickelt sei. Wie sich Clarke erinnerte, ging es Bush nicht um ein gründliches Vorgehen oder die Überprüfung aller denkbaren Möglichkeiten. Bush habe "gereizt" gesprochen und sich "drohend" verhalten, berichtete Clarke in "60 Minutes": "Er sagte nie: Konstruiere etwas.' Aber die ganze Unterhaltung hinterließ bei mir absolut keinen Zweifel, dass George Bush von mir einen Bericht erwartete, wonach der Irak verantwortlich sei."
Das Clarke-Interview und sein Buch sind ein vernichtender Schlag gegen die gesamte nationale Sicherheitsführung der Bush-Regierung. "Ich finde es empörend, dass sich der Präsident als Mann zur Wiederwahl stellt, der Großes gegen den Terrorismus vollbracht habe", sagte er. "Er hat ihn ignoriert. Monatelang ignorierte er den Terrorismus zu einer Zeit, als wir vielleicht den 11. September noch hätten aufhalten können."
Laut Clarke hatte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in den ersten Diskussionen nach dem 11. September den Irak, und nicht Afghanistan, als Ziel für einen Bombenangriff vorgeschlagen, weil es in Afghanistan keine guten Bombenziele gebe. Clarke schreibt: "Ich erkannte mit einem scharfen, fast körperlichen Schmerz, dass Rumsfeld und Wolfowitz dabei waren, aus dieser nationalen Tragödie Vorteile zu ziehen, um ihre Pläne im Irak zu verwirklichen."
Bush habe sich mit seinem Verhalten in den Wochen nach dem 11. September - wofür er das Lob der amerikanischen Medien erntete - keine Lorbeeren verdient, sagte Clarke. "Jeder Führer, den man sich als Präsidenten vorstellen kann, hätte auf den 11. September mit einem Krieg gegen Terrorismus' und einer Invasion des afghanischen Freiraums reagiert", schreibt Clarke in seinem Buch. "Das Einmalige an George Bushs Reaktion" sei dessen Entscheidung gewesen, "nicht in ein Land einzumarschieren, das in den US-feindlichen Terrorismus verstrickt war, sondern in eines, das nichts damit zu tun hatte - den Irak".
Clarke versuchte in seinem "60 Minutes"-Interview, den willkürlichen Charakter der Entscheidung zu verdeutlichen, den Irak anzugreifen. Es sei, als habe Franklin Roosevelt nach dem Angriff auf Pearl Harbor nicht Japan, sondern Mexiko den Krieg erklärt. Bushs Entscheidung, Saddam Hussein anzugreifen, "führte zu einem unnötigen und teuren Krieg im Irak, der die fundamentalistische, radikal-islamistische Terrorbewegung auf der ganzen Welt stärkte".
Wie er sagte, sei der Zeitplan für den Irakkrieg durch innenpolitische Erwägungen bestimmt gewesen. Der Beweis dafür sei die Verabschiedung einer Kongress-Resolution nur wenige Wochen vor den Halbzeit-Wahlen von 2002. "Die Krise wurde bewusst herbei geführt, und Bushs politischer Berater Karl Rove forderte die Republikaner auf, die Kriegsfrage für den Wahlkampf auszubeuten."
Nie zuvor hat sich ein ehemaliger führender Geheimdienstmann einer solchen Sprache bedient, um einen Präsidenten zu beschreiben, der sein oberster Dienstherr war und der sich immer noch im Amt befindet. Das Verhalten, das Clarke beschreibt, ist nicht bloß nachlässig vor dem 11. September und zynisch und verlogen danach. Es ist im vollen Wortsinn kriminell und würde hinreichen, um Bush, Cheney, Rumsfeld, Condoleezza Rice und andere Spitzenpolitiker wegen der gleichen Verbrechen anzuklagen, weswegen die Naziführer vor das Nürnberger Gericht kamen: Vorsätzlich einen Aggressionskrieg geplant und angefacht zu haben.
Dies ist auch der Grund, warum Clarkes Insider-Abrechnung mit dem "Antiterrorkrieg" eine wütende Reaktion und Schimpfkanonade von Seiten der Bush-Regierung hervorgerufen hat. Das Weiße Haus behauptete sofort, dass das Buch politisch motiviert und zeitlich darauf angelegt sei, den Wahlkampf der Demokratischen Partei und Kerrys zu unterstützen. Clarke ist jedoch ein Veteran des nationalen Sicherheitsapparates, der dreißig Jahre lang gedient hat und schon unter Reagan und in der ersten Bush-Regierung Posten bekleidete, ehe er unter Bill Clinton zum Koordinator der Terrorismusbekämpfung aufstieg. Was den Zeitpunkt der Erscheinung seines Buchs angeht, so war er durch das Weiße Haus selbst bestimmt, das seine Veröffentlichung drei Monate lang unter dem Vorwand einer Überprüfung aus Sicherheitsgründen hinauszögerte.
Clarke, der noch bis 2000 Mitglied bei den Republikanern war, gehörte seit vielen Jahren zum aggressivsten Flügel der nationalen Sicherheitskreise. 1991 unterstützte er die Weiterführung des ersten Golfkriegs und bezeichnete die Entscheidung von Präsident George H. W. Bush, den Bodenkrieg nach vier Tagen abzubrechen, statt weiter in den Südirak vorzudringen, als falsch. Während der neunziger Jahre unterstützte er ein aggressives Vorgehen der US-Armee gegen die angeblich im Irak vorhandenen Bestände an Massenvernichtungswaffen. Wenn ein solcher Mensch öffentlich gegen Bushs Weißes Haus auftritt, ist das ein deutliches Anzeichen, dass die ernste Krise, die nach der Besetzung des Irak entstanden ist, tiefe Spaltungen in der amerikanischen herrschende Elite und ihrem militärischen und geheimdienstlichen Apparat hinterlassen hat.
Wie der frühere Finanzminister Paul O'Neill, der im Januar ebenfalls ein kritisches Buch über die Bush-Regierung veröffentlichte, beschreibt Clarke das Führungspersonal der Bush-Administration als "rechte Ideologen", die sich schlicht weigern, Fakten wahrzunehmen, die nicht in ihr Weltbild passen, und die schon zu der Zeit, als Bush in das Weiße Haus einzog, darauf angesetzt wurden, einen Krieg gegen den Irak vorzubereiten.
Laut Clarke schien die neue Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice, als sie in der Zeit der Amtsübergabe von den Beamten der Clinton-Regierung erste Informationen erhielt, den Namen "Al-Qaida" gar nicht zu kennen. In den ersten paar Monaten der Bush-Regierung schob Rice mehrmals Clarkes Vorschläge beiseite, die Regierung über die Gefahr von Al-Qaida-Angriffen auf amerikanische Ziele ins Bild zu setzen. Als eine solche Einweisung für Kabinettsmitglieder im April 2001 endlich zustande kam, tat der Vertreter des Pentagons, Paul Wolfowitz, Bin Laden als "kleinen Fisch" ab, der eine viel geringere Gefahr darstelle, als der angeblich von Saddam Hussein gesponserte Terrorismus.
Clarke sagte, obwohl er selbst der führende amerikanische Koordinator für Terrorabwehr war, seien die FBI- und CIA-Berichte über Al-Qaida-Kämpfer, die zu Beginn des Jahres 2001 in die Vereinigten Staaten eingereist waren, niemals bis zu ihm durchgedrungen. Man habe ihn auch nicht über die Verhaftung von Zacarias Moussaoui informiert, des Al-Qaida-Mitglieds, das aufgrund eines Verstoßes gegen Einreisebestimmungen im August 2001 verhaftet worden war, nachdem es an einer Flugschule in Minnesota Unterricht im Steuern einer Boeing 747 genommen hatte.
Clarke besteht darauf, dass eine ernsthafte Initiative des Weißen Hauses einem Al-Qaida-Attentat möglicherweise hätte zuvorzukommen können. "Wir wären in der Lage gewesen, dem roten Faden zu folgen und mehr über die Verschwörung herauszukriegen. Ich sage nicht, wir hätten den 11. September aufgehalten, aber zumindest hätten wir eine Chance gehabt." George Bush "unterließ es vor dem 11. September, trotz wiederholter Warnungen gegen die Bedrohung durch Al-Qaida vorzugehen, und danach nutzte er die Gunst der Stunde, um nach dem Angriff für Schritte Lob einzuheimsen, die selbstverständlich waren, aber nicht ausreichten."
Clarkes Einschätzung bestätigt, was Millionen Kriegsgegner schon längst verstanden haben. Die Invasion des Irak hatte überhaupt nichts mit einem "Krieg gegen Terrorismus" zu tun, und ihre Gründe müssen anderswo gesucht werden - vor allem im Versuch des amerikanischen Imperialismus, sich die Ölressourcen und eine wichtige strategische Position im Nahen Osten zu sichern.
Noch bedeutender als Clarkes Ausführungen darüber, wie die Bush-Regierung den Gewaltakt vom 11. September zynisch nutzte, um bereits bestehende Pläne gegen den Irak zu verwirklichen, sind seine von der Presse weit weniger beachteten Enthüllungen über ihre Haltung zur Terrorgefahr vor dem 11. September. Das mindeste, was seine Schilderung nahe legt, ist ein Ausmaß an Inkompetenz und scheinbarer Gleichgültigkeit gegenüber Warnungen vor einem Terroranschlag in den Vereinigten Staaten, das sich auf dem Niveau einer kriminellen Nachlässigkeit bewegt.
Wahrscheinlicher ist jedoch eine andere Erklärung, warum die Bush-Regierung nur geringe Anstrengungen unternahm, Al-Qaida-Kämpfer aufzuspüren und ihre terroristischen Vorhaben zu durchkreuzen. Ohne vielleicht die genauen Dimensionen eines solchen Terroranschlags im voraus abzuschätzen - Voraussicht ist keine Stärke von Bush & Co. - begrüßte die Regierung im Stillen die Möglichkeit einer Übeltat des "kleinen Fischs" (wie ihn Wolfowitz nannte), weil ihr dies den nötigen Vorwand liefern konnte, um dem "großen Fisch" - Saddam Hussein - den Krieg zu erklären.