Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten hat am 6. August eine junge Frau iranischer Herkunft zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie die Parole „From the River to the Sea, Palestine will be free“ gerufen hatte. Die junge Frau bekam eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu 15 Euro, also von 600 Euro auferlegt. Verurteilt wurde sie wegen „Billigung von Straftaten“, § 140 Nr. 2 StGB.
Die 22-jährige Ava M. hatte am 11. Oktober vergangenen Jahres eine Kundgebung gegen Gewalt an Berliner Schulen vor dem Ernst-Abbe-Gymnasium in Berlin-Neukölln angemeldet, die verboten wurde. Zwei Tage zuvor hatte ein Lehrer an dieser Schule einen 15-jährigen Schüler ins Gesicht geschlagen, weil er sich mit einem jüngeren Schüler solidarisiert hatte. Der Lehrer hatte diesem zuvor eine Palästinenser-Fahne aus den Händen gerissen, woraufhin er vom älteren Schüler konfrontiert wurde. Suspendiert wurde dennoch der Schüler, nicht der Lehrer. Zahlreiche Protestdemonstrationen wurden daraufhin verboten, die Polizei ging äußerst massiv gegen Schüler und Eltern vor, die WSWS hat darüber berichtet.
Dies war der Kontext, in dem Ava M. die Parole gerufen hatte. Nach einem Bericht der Jungen Welt erklärte sie, sie stehe zu ihrem Ruf nach „einem säkularen Staat ohne Unterdrückung“ in Israel/Palästina. Ihre Familie bestehe aus iranischen Kommunisten, die verfolgt wurden, das habe sie auch politisch geprägt.
Die 22-Jährige äußerte sich gegen „jeden Sexismus, Rassismus und Antisemitismus“ und „für ein Ende des Krieges, der Besatzung und der Gewalt“. Ava M. soll der linken Frauengruppe Zora angehören, die bereits von der Polizei wegen Palästina-Solidarität massiv terrorisiert worden ist.
Zwei Tage vor der verbotenen Demonstration hatte der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant in einer berüchtigten Rede angekündigt, die gesamte palästinensische Bevölkerung gezielt auszuhungern: „Ich habe eine vollständige Belagerung des Gazastreifens angeordnet. Es gibt keinen Strom, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff, alles ist geschlossen.“ Gallant erklärte weiter: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend.“
Der Internationale Gerichtshof zitierte das in seiner Entscheidung, es sei „plausibel“, dass Israel in Gaza Völkermord begehe. Der Gerichtshof ordnete völkerrechtlich bindende Maßnahmen an, denen sich Israel seither offen widersetzt. Inzwischen hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs einen Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen gegen Gallant sowie Israels Regierungschef Netanyahu beantragt.
Es ist das erste Mal, dass ein Gericht die Parole „From the River to the Sea“ nach mündlicher Verhandlung als Straftat wertet. Strafbefehle waren zwar laut Legal Tribune Online auch schon früher ergangen, aber ohne dass es zu einer Verhandlung kam. Verwaltungsgerichte hatten die Parole im Vorfeld von Demonstrationen unterschiedlich beurteilt; einige hatten sie erlaubt, andere verboten. Einig ist sich die Rechtsprechung nur, dass es auf den jeweiligen Kontext ankommt.
Diese Auffassung vertrat auch das Berliner Amtsgericht. Aber es wollte weder den Kontext der Gewalt gegen Palästinenser an der Schule als unmittelbaren Anlass für die Demonstration, noch den Kontext, dass Israel einen Krieg mit dem erklärten Willen zur Vernichtung gegen Gaza entfesselt hatte, noch den persönlichen Kontext der Familiengeschichte der jungen Frau berücksichtigen. Einzig und allein den Angriff der Hamas und anderer palästinensischer bewaffneter Gruppen auf Israel vom 7. Oktober 2023 ließ Amtsrichterin Birgit Balzer als Kontext gelten.
Die Parole „From the River to the Sea“ (vom Mittelmeer bis zum Jordan) könne „nur bedeuten, das Existenzrecht Israels zu leugnen“ – das Existenzrecht von Apartheid und Besatzung eines ausländischen Staats ist allerdings im deutschen Strafgesetzbuch nicht geschützt. Die Formel sei laut der Richterin so zu verstehen, dass das Ziel eines freien Palästinas auch „gewaltsam angestrebt“ werde. Tatsächlich hat der Internationale Gerichtshof erst kürzlich festgestellt, dass Gaza unter illegaler israelischer Besatzung steht.
Unklar ist daher, ob die Richterin gewaltsamen Widerstand gegen eine illegale Besatzung generell als Verbrechen ansieht. Dies würde allerdings der offiziellen deutschen Propaganda gegen Russland wegen der Besatzung von Teilen der Ukraine – und deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine – widersprechen.
Die Richterin soll in ihrer mündlichen Urteilsbegründung laut manchen Prozessbeobachtern auch von der bereits seit einiger Zeit widerlegten Gräuelpropaganda über Vergewaltigungen und enthauptete Babies schwadroniert haben. Zudem bemühte sie offenbar die „deutsche Staatsräson“, wonach Deutschland stets für die Sicherheit Israels einzustehen habe – die jedoch in keinem Gesetz oder gar Verfassungsartikel enthalten ist.
Schon allein die richterliche Wertung, aufgrund der zeitlichen Nähe von vier Tagen könne die Parole nur als Unterstützung des palästinensischen Angriffs vom 7. Oktober verstanden werden, ist eine Unterstellung. Und es gibt erst recht keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Ava M. auch das Töten und Entführen von unbewaffneten Zivilisten am 7. Oktober in Israel befürwortet hätte – von der bereits widerlegten Gräuelpropaganda ganz zu schweigen.
Auf eine weitere juristisch umstrittene Frage ging das Amtsgericht nicht ein. Seit das Bundesinnenministerium am 2. November die Hamas verboten hat, kann einigen Juristen zufolge die Parole „From the River to the Sea“ auch als Verwenden von Kennzeichen verbotener Organisationen nach § 86, 86a StGB verfolgt werden. Das Innenministerium hat nämlich in seiner Verbotsverfügung die weitverbreitete Parole in sämtlichen Sprachen „als Kennzeichen der Hamas“ eingestuft. Diese Beschuldigung wurde gegen Ava M. nicht erhoben.
Die hunderten zivilen Opfer vom 7. Oktober, einem Ausbruch aus dem „größten Freiluftgefängnis der Welt“ und illegal besetztem Gebiet, sind ohne Zweifel tragisch. Anders als die deutsche Strafrichterin meint, sind sie jedoch keine Rechtsfertigung dafür, dass der Besatzer im Gegenzug das von ihm illegal besetzte Gebiet dem Erdboden gleichmacht, seine Bewohner umbringt, foltert, vertreibt. Für die Gewalt sind die Unterdrücker verantwortlich, wie die WSWS von Beginn an erklärt hat. Sie macht es nicht zu einem kriminellen Vergehen, für Freiheit und Gleichheit aller Menschen statt Besatzung und Apartheid einzutreten. Doch genau dafür soll nun ein Präzedenzfall geschaffen werden.