„Der 20. Dezember 2023 wird in die Geschichte eingehen“, erklärte EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, nachdem sich Vertreter der EU-Staaten und des Europaparlaments wenige Tage vor Weihnachten endgültig auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) geeinigt hatten. Sie sei „sehr stolz darauf, dass wir mit dem Migrations- und Asylpakt Lösungen gefunden und umgesetzt haben.“
Der Tag wird in der Tat in die Geschichte eingehen, als Tag, an dem die EU und ihre nationalen Regierungen ganz offen das flüchtlingsfeindliche Programm der extremen Rechten übernommen haben. Die Umsetzung der von der EU auf den Weg gebrachten „Lösungen“ bedeutet die Abschaffung des Asylrechts, den Ausbau der Festung Europa, Massendeportationen und die Inhaftierung selbst von Frauen und Kindern in KZ-ähnlichen Abschiebelagern.
Unmittelbar nach Verkündung des Deals durch Metsola jubelte die rechtsextreme AfD auf der Online-Plattform X (vormals Twitter): „Parlament und Europarat haben sich jetzt auf ein entschiedeneres Vorgehen gegen illegale Migranten verständigt. Kontrollen, ausnahmslose Registrierung aller Nicht-EU-Bürger ohne Pass und Asylzentren direkt an den Außengrenzen, um Migranten aus sicheren Ländern so schnell wie möglich wieder abzuschieben. All das fordert die AfD schon seit langem.“
Die geplanten Maßnahmen sind barbarisch und erinnern an die dunkelsten Zeiten der europäischen Geschichte. Mit dem Deal werde „die dystopische Vision eines Europas der Haftlager ... Realität werden“, schreibt die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl. Und Eve Geddie, Direktorin des Büros für Europäische Institutionen von Amnesty International, warnt: „Diese Vereinbarung wird das europäische Asylrecht auf Jahrzehnte zurückwerfen. Das wahrscheinliche Ergebnis ist ein Anstieg des Leids auf jeder Etappe der Reise eines Menschen, der in der EU Asyl sucht.“
Unter anderem sieht der Deal vor, dass Geflüchtete in Zukunft direkt an den EU-Außengrenzen festgehalten werden. In der Pressemitteilung des Europäischen Rats und des Europäischen Parlaments vom 21. Dezember heißt es, das mit der sogenannten Asylverfahrensverordnung (APR) ein „obligatorisches Grenzverfahren eingeführt“ werde, „um an den EU-Außengrenzen schnell zu prüfen, ob Asylanträge unbegründet oder unzulässig sind“. Personen, die diesen Asylgrenzverfahren unterliegen, dürften „nicht in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates einreisen“. Stattdessen müssen sie „den Behörden am Kontrollort zur Verfügung stehen“ und können „in Gewahrsam genommen werden“.
Was das konkret bedeutet, ist klar. Flüchtlinge werden in mit Stacheldraht umgebenen Haftlagern eingesperrt, wie sie bereits jetzt an den europäischen Außengrenzen existieren, und müssen dort jederzeit mit ihrer Abschiebung rechnen. In der Pressemitteilung fordert die EU von ihren Mitgliedstaaten, „eine angemessene Aufnahme- und Personalkapazität zu schaffen“ – konkret ist die Rede von 30.000 Haftplätzen –, „die es ihnen ermöglicht, jederzeit das Grenzverfahren durchzuführen und Rückführungsentscheidungen für eine bestimmte Anzahl von Anträgen zu vollstrecken“.
Von den Maßnahmen betroffen sind praktisch alle Flüchtlinge, die die tödliche Flucht über das Mittelmeer überleben. Das Grenzverfahren werde angewandt, „wenn ein Asylbewerber an einer Außengrenzübergangsstelle einen Antrag stellt, nachdem er im Zusammenhang mit einem illegalen Grenzübertritt aufgegriffen wurde und nachdem er nach einer Such- und Rettungsaktion auf See von Bord gegangen ist“, heißt es in der Pressemitteilung der EU.
Für drei Gruppen von schutzsuchenden Menschen ist die Anwendung dieser Grenzverfahren „obligatorisch“. Für Menschen aus Herkunftsländern mit einer „Anerkennungsquote unter 20 Prozent“; für Personen – darunter auch unbegleiteten Minderjährigen – denen unterstellt wird, „eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung“ zu sein; und für Schutzsuchende, denen vorgeworfen wird, „die Behörden mit falschen Angaben oder durch Zurückhalten von Informationen getäuscht“ zu haben.
Als „besonders dramatisch“ bezeichnet Pro Asyl die Tatsache, dass es selbst für Kinder und ihre Familien keine Ausnahmen gibt. Dies bedeute „letztlich die monatelange Inhaftierung Minderjähriger, die mit den UN- Kinderrechtskonventionen nicht zu vereinbaren sind“.
Flüchtlinge sind in den Augen der EU keine Schutzbedürftigen mit Rechten, sondern potentielle Feinde, die überwacht, abgeschoben und ausgemerzt werden müssen. „Ein weiterer Pfeiler des Paktes ist die Screening-Verordnung“, brüstet sich die EU. Ihr Ziel sei es, „die Personenkontrollen an den Außengrenzen zu verstärken“. Sie sorge „auch dafür, dass schnell das richtige Verfahren – wie die Rückführung in das Herkunftsland – ... eingeleitet wird“. Die Überprüfung umfasse „Identitäts-, Gesundheits- und Sicherheitskontrollen sowie die Abnahme von Fingerabdrücken und die Registrierung in der Eurodac-Datenbank“.
Zudem enthalte das neue Gesetz „auch Regeln für den Umgang mit den Auswirkungen einer Situation, in der Migranten für politische Zwecke instrumentalisiert werden, d.h. ausländische staatliche Akteure die Migrationsströme [nutzen], um die EU und ihre Mitgliedstaaten zu destabilisieren“. In diesem Fall wäre es den Mitgliedstaaten erlaubt, sogar alle Asylsuchenden an ihren Grenzen zu inhaftieren.
Das ist Orwellscher Neusprech, der die Wirklichkeit auf den Kopf stellt. Tatsächlich ist es die EU, die Flüchtlinge „instrumentalisiert“, und das gleich in mehrfacher Hinsicht und mit mörderischen Konsequenzen. Nachdem die führenden europäischen Nato-Mächte und die USA mit ihren neokolonialen Kriegen in Afrika und dem Nahen Osten ganze Länder zerstört haben, entschieden sie bewusst, Flüchtlinge sterben zu lassen, um andere abzuschrecken und von der „Festung Europa“ fernzuhalten. Nach offiziellen Zahlen sind allein seit 2014 über 28.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Dieses Jahr war das tödlichste seit 2020 mit bereits mehr als 2500 Toten.
Nun organisieren die gleichen europäischen Regierungen, die die vergangenen Kriege noch zynisch als „humanitäre“ Interventionen gerechtfertigt haben, ein noch größeres Blutbad. Sie eskalieren die Nato-Kriegsoffensive gegen Russland in der Ukraine, die bereits Hunderttausenden das Leben gekostet hat. Und im Nahen Osten unterstützen sie ganz offen Israels Genozid an den Palästinensern und bereiten einen umfassenderen Krieg gegen den Iran und seine Verbündeten vor, der die ganze Region in ein Inferno verwandeln würde.
Der Terror gegen Flüchtlinge und die Kriegseskalation sind direkt miteinander verbunden. Je aggressiver die herrschende Klasse ihre imperialistischen Kriegsziele verfolgt und den damit verbundenen Sozialkahlschlag vorantreibt, desto stärker setzt sie auf Diktatur und Faschismus, um die wachsende soziale und politische Opposition im Inneren zu unterdrücken. Mit ihrer unablässigen Hetze versuchen Politik und Medien Flüchtlinge und Migranten zum Sündenbock für die tiefe soziale Krise zu machen und die extreme Rechte zu stärken.
Dabei sind die Angriffe auf Flüchtlinge nur die Speerspitze eines umfassenden Angriffs auf die demokratischen Rechte der gesamten Arbeiterklasse. In den letzten Wochen gab es in ganz Europa Bemühungen, die Massenproteste gegen den Genozid in Gaza zu unterdrücken. Vor allem in Deutschland ist dieser Prozess weit fortgeschritten: Demonstrationsverbote, Angriffe auf kritische Künstler und Kulturzentren, brutale Polizeieinsätze gegen Studierende an Universitäten und Razzien gegen linke Gruppierungen gehören mittlerweile zur Tagesordnung.
Die reaktionäre Offensive wird vor allem auch von den nominell linken und liberalen Parteien vorangetrieben.
In Deutschland organisieren SPD und Grüne in der Regierung die Kriegs- und Diktaturoffensive und feiern die Asylrechtsverschärfungen. „Damit begrenzen wir die irreguläre Migration und entlasten die Staaten, die besonders stark betroffen sind – auch Deutschland“, schrieb Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf X. Die Einigung sei ein „ganz wichtiger Beschluss“. Auch die grüne Bundesaußenministerin Annalena Baerbock begrüßte in einem Statement die Einigung und bezeichnete den Deal als „dringend notwendig und längst überfällig“.
In Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron mit dem rechtsextremen Rassemblement National Marine Le Pens faktisch eine Koalition gebildet, um eines der schärfsten Einwanderungsgesetze der EU durchs Parlament zu peitschen. Die beschlossenen Maßnahmen sind durch und durch rassistisch. Das Gesetz blockiert für fünf Jahre den Zugang von Migranten zu Sozialleistungen, und selbst Jugendliche, die in Frankreich geboren und aufgewachsen sind, erhalten mit 18 nicht mehr automatisch die französische Staatsbürgerschaft.
Auch die europäischen Pseudolinken sind Wegbereiter dieser Politik. So wurde die GEAS-Reform federführend von der spanischen PSOE/Sumar Koalition ausgearbeitet, die aktuell die europäische Ratspräsidentschaft innehat und nach wie vor von der pseudolinken Podemos unterstützt wird.
Als Modell diente Madrid, Berlin und Brüssel in vielerlei Hinsicht die pseudolinke Syriza-Regierung in Griechenland, die zwischen 2015 und 2019 die Migrationspolitik im Bündnis mit den rechtsextremen Unabhängigen Griechen (Anel) massiv verschärfte und ähnliche Maßnahmen auf den Weg brachte, wie sie jetzt von der EU implementiert werden. Dazu zählten das Einpferchen von Flüchtlingen in Konzentrationslager-ähnlichen „Hotspots“ wie Moria, illegale Pushbacks und der Einsatz des Militärs gegen Migranten in der Ägäis.
Der europäische Asyldeal, der noch vor den Europawahlen vom 6. bis 9. Juni 2024 endgültig verabschiedet werden soll, bedroht Millionen, aber er schafft auch Klarheit. Die Tatsache, dass alle Teile der herrschenden Klasse den Terror gegen Flüchtlinge unterstützen, zeigt, dass Arbeiter und Jugendliche nicht einfach mit der ein oder anderen Regierung konfrontiert sind, sondern mit der gesamten herrschenden Klasse und ihrem System. Der europäische Kapitalismus kann nicht reformiert werden, sondern er muss durch eine revolutionäre Bewegung der europäischen Arbeiterklasse abgeschafft und durch die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa ersetzt werden.
Die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre Schwesterorganisationen in ganz Europa werden den Europawahlkampf nutzen, um die wachsenden Proteste und Streiks der europäischen Arbeiter mit einem internationalen sozialistischen Programm zu bewaffnen und die Vierte Internationale auf dem ganzen Kontinent und weltweit als neue politische Führung aufzubauen. Nur so können demokratische Rechte verteidigt, Krieg und Genozid gestoppt und die kapitalistische Barbarei beendet werden.