Polens Schulsystem vor dem „Burnout“

Am 31. August enden in ganz Polen die Sommerferien und ein neuer Negativrekord offenbart den maroden Zustand des polnischen Bildungssystems. 26.000 Lehrer wurden im Juli von Schulleitern privater und staatlichen Schulen auf der offiziellen Website der Bildungsbehörde gesucht. Das sind 30 Prozent mehr als vor einem Jahr. Damit setzt sich ein langwieriger Negativtrend fort.

Warschau 2019: Schüler demonstrieren zur Unterstützung der streikenden Lehrer

Bildungsminister Przemysław Czarnek und die Regierung spielen diese Zahlen herunter. Es handle sich um normale Personalwechsel zwischen den Schuljahren und es fehlten nur einige wenige Prozent bei etwa 700.000 Lehrern landesweit.

Dass jedoch die offiziellen Zahlen trügerisch sind, weist seit einigen Jahren die Lehrerinitiative „Dealerzy Wiedzy“ nach, die eine eigene, langfristige Datenbank erstellt hat. Einer ihrer Gründer, Robert Górniak, Englischlehrer und stellvertretender Schulleiter an einer Privatschule in Sosnowiec, verweist in einem Interview mit Gazetta Wyborcza auf den Mechanismus der offiziellen Stellengesuche.

So verschwinden die geschalteten Anzeigen nach einer automatisierten Ablaufzeit Mitte oder Ende des Monats einfach. Deswegen sank die Zahl Ende Juli um 6000 und Anfang August kamen 4000 hinzu. Es ist jedoch unklar, wie viele Stellen besetzt wurden und wo Schulleiter schlicht die Hoffnung aufgegeben haben, noch kurzfristig Lehrer zu finden. Doch selbst diese offiziellen Zahlen steigen von Jahr zu Jahr um 30 Prozent, wie Górniak deutlich macht.

Grund sind vor allem die niedrigen Lehrergehälter. Sprachwissenschaftler, Psychologen oder Informatiker können in der Wirtschaft deutlich mehr verdienen als in einer Schule. So liegen die Grundgehälter für Neueinsteiger bei 3690 Złoty brutto (rund 800 Euro), also auf Mindestlohnniveau, und steigen im Laufe der Zeit auch nur geringfügig auf umgerechnet 1000 Euro.

In Großstädten, wo die Mieten ähnlich hoch sind wie in Westeuropa, wird das Problem daher besonders deutlich. „Etwa die Hälfte aller Stellenangebote kommt aus Warschau. Kein Wunder: Die Tarife für Lehrer sind in jeder Stadt gleich und die Lebenshaltungs- und Mietkosten variieren in Warschau oder im Karpatenvorland deutlich,“ sagt Górniak.

Das gleiche Probleme gibt es in Vorschulen und Kindergärten. Auch dort fehlen im kommenden Schuljahr alleine in Warschau über 500 Pädagogen. Die Stadtverwaltung hat darauf reagiert, indem sie ab dem 1. September Erziehungszuschüsse in gleicher Höhe wie für Klassenlehrer zahlt. Diese 84 Euro (380 Złoty) sind jedoch kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Dahinter steht eine grundlegende Entwicklung. Der polnische Staat hat die Kosten mehr und mehr auf die Kommunen abgeladen. So lag der Anteil der kommunalen Zuschüsse Anfang der 1990er-Jahre noch bei durchschnittlich 20 Prozent, letztes Jahr mussten die Kommunen 60 Prozent der Bildungskosten übernehmen.

Die Regierung hat die Auszahlung von ähnlichen Almosen beschlossen. Einen Tag vor der Parlamentswahl erhält jeder Pädagoge eine Einmalzahlung von 1125 Złoty (etwa 250 Euro). Angesichts einer Gehaltserhöhung von 7,8 Prozent in diesem Jahr bei einer mehr als doppelt so hohen Inflationen empfinden das viele Lehrer als Beleidung, wenn nicht als Verhöhnung ihrer Arbeit.

„Eine angehende Lehrerin verdient etwas mehr als 2800 Złoty auf die Hand,“ sagt Magdalena Kaszulanis von der Lehrergewerkschaft ZNP, „und das bedeutet oft, dass sie in der Stadt, in der sie studiert hat, nicht in der Lage sein wird, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.“ Laut ZNP gibt es sogar 40.000 offene Lehrerstellen und jeder Lehrer leistet durchschnittlich 3,3 Überstunden pro Woche.

Im ländlichen Raum sind zwar die Lebenshaltungskosten geringer, aber die kleinen Schulen haben gerade für Fachlehrer nicht genug Wochenstunden, um sie in Vollzeit zu beschäftigen. So müssen Lehrer von Schule zu Schule pendeln. Letztes Jahr wurde der Fall einer Schulleiterin aus Krynica Morska bekannt, die mit sechs anderen Schulen gemeinsam Stundenpläne erstellte, weil sie dieselben Lehrer beschäftigten. Zugleich suchen Lehrer oft auch Nebenjobs, gerade auch in den Ferien.

Laut der Fachzeitschrift Głos Nauczycielski (Lehrerstimme) geht jeder fünfte Lehrer einem Nebenjob nach. Das Nachrichenportal wydarzenia.interia berichtet von einer Lehrerin, die seit sechs Jahren im Sommer sechs Wochen lang, zehn Stunden am Tag als Küchenhilfe arbeitet. „All dies, damit ich im Winter Strom und Treibstoff bezahlen kann. Mit dem Gehalt einer Landlehrerin ist das nicht möglich.“

Eine andere, Dagmara, erklärt, sie sei seit über 20 Jahren als Trainerin und Sportlehrerin tätig. „Seit ich denken kann, arbeite ich in den Ferien. Als ich anfing, in diesem Beruf zu arbeiten, war das eine absolute Notwendigkeit, denn das Gehalt war so dürftig, dass ich ohne die Hilfe meiner Eltern und zusätzliche Arbeit nicht in der Lage gewesen wäre, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten.“

Auch Lehrer an Privatschulen sind bei den Gehältern kaum noch besser gestellt. Die Flucht, gerade von städtischen Mittelschichten in Privatschulen hat deren Klassen ebenso überlaufen lassen wie die staatlicher Schulen. So geht in Warschau mittlerweile jeder fünfte Schüler in eine Privatschule. Ihre Eltern stehen trotz hoher Kosten von 1000 bis über 3000 Złoty monatlich vor dem gleichen Problem: Unterricht im Fließbandmodus. „Allein der Gedanke, wieder zur Schule zu gehen, lässt mich zusammenzucken. Mein Magen dreht sich um, mein Hals schnürt sich zu“, zitiert Gazetta Wyborcza eine Lehrerin.

In einer Umfrage, die Głos Nauczycielski zu Beginn des Schuljahres unter 33.000 Lehrern durchführte, gaben nur 4 Prozent an, ausgeruht und positiv in das Schuljahr zu starten. 46 Prozent wählten die Antwort: „Ich fühle Verzweiflung, Müdigkeit und Burnout.“ 27 Prozent antworteten: „Ich habe Angst, ich bin sehr besorgt über die Veränderungen im Bildungswesen.“

Während die Opposition die Missstände allein der PiS-Regierung zuschieben will, wird das polnische Schulen schon lange kaputtgespart. Mit der massiven Aufrüstung für den Ukrainekrieg, die genauso von der oppositionellen Bürgerplattform (PO) unterstützt wird, eskalieren nun die sozialen Kürzungen. „Das ist der größte Personalzusammenbruch, an den ich mich erinnern kann, und ich arbeite seit zwanzig Jahren im Bildungswesen“, zitierte Gazetta die Schulleiterin Beata Molik.

Wie Arbeiter in anderen Ländern können auch die polnischen Lehrer einen erfolgreichen Kampf nur gegen die korporatistischen Gewerkschaften führen. 2019 hatte die Lehrergewerkschaft ZNP einen machtvollen 17-tägigen Streik mit mehr als 300.000 Teilnehmern für beendet erklärt, obwohl keine ihrer Forderungen erfüllt war. Es war der erste nationale Streik seit 1993. Begleitet wurde der Ausverkauf von Phrasen wie: „Wir setzen den Streik aus, aber der Kampf geht weiter bis zum Ende!“ Nun will die ZNP am 1. September erneut eine harmlose Protestaktion vor dem Bildungsministerium starten.

Bereits im letzten Jahr hatte sie den Protest auf ein „Bildungsdorf“ vor dem Ministerium beschränkt. Sie kopierte damit die Medizinergewerkschaften, die 2021 die Kampfbereitschaft von 40.000 Krankenschwestern, Pflegern, Apothekern, Physiotherapeuten, Krankenhaustechnikern und Sanitätern nach einem mächtigen Protest für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen in Warschau in der „Białe miasteczko“ (weißen Stadt) versanden ließen, in der Workshops und zahlreiche Gesprächsrunden mit Politikern und Medien zu nichts führten.

Angesichts der ungelösten Probleme, die durch die Corona-Pandemie mit über 100.000 Toten verschärft wurden, hielten auch die Medizinergewerkschaften am 30. September einen Protesttag ab – um „eine gesellschaftliche Debatte anzustoßen“, wie Sebastian Goncerz, Leiter der Gewerkschaft PR OZZL, sagte. „Wir rechnen derzeit nicht damit, die derzeitige Regierung zu irgendetwas zu zwingen. Aber wir wollen sicherstellen, dass die neue Regierung – egal wer an die Macht kommt – die Probleme des Gesundheitssystems ernst nimmt, und zwar ernster als bisher.“

Mit anderen Worten, die Gewerkschaften organisieren vor sechs Wochen vor der Parlamentswahl am 15. Oktober symbolische Aktionen, um die Wut der Arbeiter zu kanalisieren und sich der zukünftigen Regierungspartei als Partner anzubiedern. Im Wahlkampf überbieten sich PiS und PO mit Forderungen nach mehr Aufrüstung, Nationalismus, Rassismus und antirussischer Kriegshysterie.

Die Gewerkschaften sind der verlängerte Arm dieser reaktionären Parteien und agieren als Handlanger der Superreichen, die von der Plünderung des einstigen Staatseigentums der Volksrepublik Polen und jetzt auch vom Ukrainekrieg profitiert haben.

So stellte Wiesław Klimkowski, Präsident des Chemieunternehmens PCC Rokita, im letzten Jahr mit einem Jahresverdienst von 43,3 Millionen Złoty (9,7 Millionen Euro) einen neuen gigantischen Rekord auf. PCC Rokita profitierte von explodierenden Weltmarktpreisen für Natronlauge als Folge des Ukrainekriegs. Ein polnischer Arbeiter müsste für das Einkommen von Klimkowski 488 Jahre arbeiten.

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