Leo Trotzki
Porträt des Nationalsozialismus

Vorwort zur Neuauflage von Leo Trotzkis »Porträt des Nationalsozialismus«

Wir veröffentlichen hier das Vorwort zur erweiterten Neuauflage von Leo Trotzkis Schriften zu Deutschland unter dem Titel »Porträt des Nationalsozialismus«, die in diesem Herbst im Mehring Verlag erscheint. Das Buch kann hier vorbestellt werden.

Wir rufen alle Leser auf, den Mehring Verlag zu unterstützen und das Gesamtpaket der drei Trotzki-Neuerscheinungen zum Sonderpreis vorzubestellen: »Wohin geht Frankreich?«, »Porträt des Nationalsozialismus« und »Geschichte der Russischen Revolution«. Diese Bände behandeln zentrale Erfahrungen und Lehren der Arbeiterbewegung, die gerade jetzt höchst aktuell sind.

***

Vorwort

Die Machtübernahme der Nazis am 30. Januar 1933 markiert einen schrecklichen Wendepunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er führte zu den schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte: dem Nazi-Terror, der bis ins Detail organisierten Vernichtung von sechs Millionen Juden und dem barbarischen Vernichtungskrieg gegen Ost- und Südosteuropa. Die Arbeiterbewegung wurde atomisiert, die Blüte von Kunst und Kultur zerstört. Die Folgen dieses Vernichtungsfeldzugs sind noch heute allgegenwärtig.

Die Schriften Leo Trotzkis über Deutschland, die wir hier in einer erweiterten Auswahl veröffentlichen, bieten ein unvergleichliches Verständnis der Vorgänge und Dynamiken, die in diese Katastrophe geführt haben. Der berühmte Kriegsgegner und Schriftsteller Kurt Tucholsky äußerte seine Bewunderung, dass Trotzki in seinem Exil auf Prinkipo, 2000 Kilometer von Berlin entfernt, einen klareren Blick auf die Ereignisse in Deutschland hatte als jeder seiner Zeitgenossen. »Porträt des Nationalsozialismus« bezeichnete er als »Meisterleistung«, in der »alles, aber auch alles drin« stehe.[1] Auch Bertolt Brecht soll laut Walter Benjamin im Frühjahr 1931 erklärt haben, »dass Trotzki der größte lebende Schriftsteller von Europa wäre«.[2] Der britische Historiker E. H. Carr widmete Trotzkis Schriften über Deutschland in seinem Werk »Twilight of the Comintern« einen eigenen Anhang und führte aus: »Während Hitlers Aufstieg zur Macht nahm Trotzki mit solcher Eindringlichkeit und zumeist auch Weitsicht Stellung zu den Ereignissen in Deutschland, dass es für die Nachwelt bewahrt werden muss.«[3]

Doch Trotzkis Schriften sind nicht nur eine literarische Meisterleistung und unübertroffene Analyse der geschichtlichen Entwicklung, sie sind selbst Teil dieser Geschichte. Trotzki schrieb in seinen Artikeln und Pamphleten unermüdlich gegen die verhängnisvolle Politik der stalinistischen und sozialdemokratischen Bürokratien an und bewaffnete die Arbeiterklasse mit einer Perspektive zum Kampf gegen den Faschismus. Die Lektüre dieser Texte zeigt erst das ganze Potenzial der Situation und macht klar: Hitler hätte gestoppt und die Katastrophe verhindert werden können. Man kann daher »Trotzkis Worte nicht ohne Erbitterung über das Ausmaß der Verluste und die Vergeudung lesen«, stellt David North treffend fest. »Wie viel Leid und Elend hätte vermieden werden können, wie anders hätte das 20. Jahrhundert verlaufen können, wenn sich die Politik Trotzkis, die Politik des revolutionären Marxismus durchgesetzt hätte.«[4]

North antwortet mit diesen Zeilen auf den Historiker Eric Hobsbawm, der die verheerende Politik der Stalinisten und ihre historischen Verbrechen angesichts der objektiven Bedingungen in der Sowjetunion für alternativlos erklärt. Hobsbawm verwandelt die Analyse der sozioökonomischen Prozesse und der Klassendynamik in eine reine Apologetik des Bestehenden. Für Marxisten ist diese Analyse hingegen immer die Grundlage für eine Intervention in die politische Situation, um die Arbeiter zum unabhängigen Handeln zu befähigen. Diese marxistische Herangehensweise wird in den vorliegenden Schriften zu unvergleichlicher Meisterschaft getrieben.

Trotzki verkörpert eine Tradition des Marxismus, gegen die sich der ganze Terror der stalinistischen Bürokratie und der faschistischen Schergen richtete. Er hatte die russische Oktoberrevolution mit der Perspektive der permanenten Revolution theoretisch vorbereitet und war neben Lenin ihr wichtigster Führer. Als Befehlshaber der Roten Armee verteidigte er den ersten Arbeiterstaat nicht nur militärisch gegen die Reaktion, sondern vor allem auch politisch und kulturell.

Als die stalinistische Bürokratie in der Sowjetunion das Erbe der Revolution verriet und ihr Terrorregime errichtete, verteidigte Trotzki die sozialistischen Prinzipien des Internationalismus und der Arbeiterdemokratie. Während die Stalin-Fraktion in wachsendem Maße die engstirnigen, nationalen Interessen der Bürokratie in der Sowjetunion zum Ausdruck brachte, ging Trotzki jede Frage des Klassenkampfs und der internationalen Politik vom Standpunkt der sozialistischen Weltrevolution an. Für ihn war die entscheidende Frage, welche politische Linie in der Lage ist, das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu entwickeln und auf die Höhe ihrer historischen Aufgaben zu bringen. Das gilt in besonderem Maße für die vorliegenden Schriften.

Als Marxist verstand Trotzki den Faschismus aus der Klassendynamik der kapitalistischen Gesellschaft heraus. »Die Reihe ist ans faschistische Regime gekommen, sobald die ›normalen‹ militärisch-polizeilichen Mittel der bürgerlichen Diktatur mitsamt ihrer parlamentarischen Hülle für die Erhaltung des Gleichgewichts der Gesellschaft nicht mehr ausreichen«, schrieb er im Januar 1932 in »Was nun?«. »Durch die faschistische Agentur setzt das Kapital die Massen des verdummten Kleinbürgertums in Bewegung, die Banden deklassierter, demoralisierter Lumpenproletarier und all die zahllosen Menschenexistenzen, die das gleiche Finanzkapital in Verzweiflung und Elend gestürzt hat.«[5]

Die deutschen Kapitalisten brauchten die Faschisten, um die mächtigen Arbeiterorganisationen zu zerschlagen. Denn nur so konnten sie Deutschland nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs für einen neuen Krieg rüsten. Der Vernichtungskrieg der Nazis, der insgesamt 80 Millionen Menschen das Leben kostete, war nicht einfach das Ergebnis von Hitlers Größenwahn, vielmehr war Hitler das Ergebnis der Bestrebungen der herrschenden Klasse, die Niederlage wettzumachen und Europa unter deutscher Führung zu organisieren.

Der deutsche Kapitalismus, schrieb Trotzki, »ist der fortgeschrittenste Kapitalismus unter den Bedingungen der europäischen Ausweglosigkeit. Je größer die den Produktivkräften Deutschlands innewohnende dynamische Kraft, umso mehr muss Europas Staatensystem an ihnen würgen, das dem Käfigsystem einer zusammengeschrumpften Provinzmenagerie gleicht. Jede Konjunkturschwankung stellt den deutschen Kapitalismus vor eben die Aufgaben, die er durch den Krieg zu lösen versucht hatte.«[6]

Wir haben dieser erweiterten Auflage den Text »Nation und Weltwirtschaft« hinzugefügt, in dem Trotzki die Grundlage für Weltkrieg und Faschismus in brillanten Worten auf den Begriff bringt. Im unlösbaren Widerspruch zwischen globaler Integration der kapitalistischen Wirtschaft und der Organisation des Kapitalismus in Nationalstaaten kann jeder Schritt zur nationalen Autarkie, zur Entflechtung der Abhängigkeiten nur die Inkubation für umso heftigere internationale Konflikte sein. »Versuche, die Wirtschaft zu retten, indem man sie mit dem Leichengift des Nationalismus impft, führen zu jener Blutvergiftung, welche den Namen Faschismus trägt.«[7]

Die Parallelen zur heutigen Entwicklung sind augenfällig. Die Versuche der westlichen Länder, sich wirtschaftlich unabhängig von russischen Bodenschätzen und chinesischer Produktion zu machen, können nur als Vorbereitung des Weltkriegs verstanden werden. Denn der technisch hoch entwickelte Kapitalismus braucht die Produktivkräfte der ganzen Welt, und jede imperialistische Großmacht strebt danach, sie nach ihren Bedürfnissen zu organisieren.

In Trotzkis Schriften ist diese glasklare Analyse Teil der politischen Intervention. Der Kontrast zu all den Büchern, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben wurden, um die Unvermeidlichkeit des faschistischen Aufstiegs nachzuweisen, könnte größer nicht sein. Während Trotzki ein Programm zum Kampf gegen den Faschismus entwarf, sind diese Schriften darauf ausgelegt, die Verantwortung von Sozialdemokratie und Stalinismus zu vertuschen oder gleich die Wurzel des Faschismus im kapitalistischen System zu leugnen.

Historiker wie Daniel Goldhagen oder Götz Aly eliminieren zu diesem Zweck die schroffe Klassenspaltung der kapitalistischen Gesellschaft und suchen die Ursache des Faschismus im »ganz gewöhnlichen Deutschen«[8] bzw. »Hitlers Volksstaat«[9]. Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich bezeichnete den Faschismus kurz nach dessen Machtübernahme als »die emotionelle Grundhaltung des autoritär unterdrückten Menschen der maschinellen Zivilisation und ihrer mechanistisch-mystischen Lebensauffassung«.[10] Die Arbeiterparteien hätten es nicht vermocht, ihrerseits an die unterdrückten sexuellen Triebe zu appellieren, und dem Faschismus deshalb nichts entgegenzusetzen gehabt.

Die Vertreter der Frankfurter Schule Theodor Adorno und Max Horkheimer entwickelten diese Konzeption weiter und machten sie zum ideologischen Fundament der Bundesrepublik. Auch sie sahen im »autoritären Charakter« die Grundlage des Faschismus und machten dafür die Aufklärung und die zivilisatorische Entwicklung selbst verantwortlich. Angesichts der modernen Arbeitsteilung ähnele sie die Erfahrungswelt der Arbeiter »tendenziell wieder der der Lurche an«, schreiben sie in »Dialektik der Aufklärung«. Daraus ergäbe sich die »rätselhafte Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen, in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten«, und deren »selbstzerstörerische Affinität zur völkischen Paranoia«. »Die Ohnmacht der Arbeiter«, schlussfolgern sie, »ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der Industriegesellschaft.«[11]

Die Quintessenz dieser Ablehnung der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse ist der tiefe Pessimismus, der die Frankfurter Schule auszeichnet und der die Grundlage für ihr Arrangement mit dem naziverseuchten Nachkriegsdeutschland bildete.

Aber entgegen dieser Auffassung war Hitler nicht von der Mehrheit der Bevölkerung und erst recht nicht von der Arbeiterklasse an die Macht gebracht worden. Bei den letzten einigermaßen freien Wahlen im November 1932 verlor die NSDAP über zwei Millionen Wähler und erreichte nur 33,1 Prozent der Stimmen. Die NSDAP stand vor dem Bankrott, und Hitler äußerte sogar Suizidgedanken. Doch keine drei Monate später wurde er durch eine Verschwörung aus Vertretern von Armee, Kapital und Medien zum Reichskanzler ernannt. Kurz darauf stimmten sämtliche bürgerliche Parteien dem Ermächtigungsgesetz zu und versahen Hitler mit diktatorischen Vollmachten.

Die beiden Arbeiterparteien SPD und KPD hatten im November zusammen 37,3 Prozent und damit deutlich mehr Stimmen als die Nazis erhalten. Selbst im April 1933, als die NSDAP ihr Terrorregime schon errichtet und die ersten Konzentrationslager gebaut hatte, erhielten die Nazis bei den angesetzten Betriebsratswahlen nur elf Prozent der Mandate und mussten den Urnengang abbrechen. Die große Mehrheit der Arbeiter war weder auf dem Niveau von Lurchen noch war sie Teil eines amorphen Volkes, sie stand den Nazis vielmehr mit offener Feindschaft gegenüber.

Trotzki liefert in diesem Band, insbesondere im Text »Porträt des Nationalsozialismus«[12] eine herausragende Psychologie des Faschismus, die er in der sozialen Position des heruntergekommenen Kleinbürgertums verortet. Aber die Frage, weshalb die Arbeitermassen nicht in den Generalstreik gegen Hitler traten und sich dem Terror entgegenstellten, ist keine psychologische Frage. Sie lässt sich nur in Hinblick auf Programm und Perspektive ihrer Führung erklären. Diese Fragen diskutiert Trotzki in den vorliegenden Schriften in beispielloser Klarheit.

Die SPD, in der noch ein erheblicher Teil der Arbeiterklasse organisiert war, hatte ihre konterrevolutionäre Rolle schon mit ihrer Unterstützung für den Ersten Weltkrieg und der blutigen Niederschlagung der Revolution von 1918/1919 unter Beweis gestellt. Trotzki durchdringt die Physiognomie der sozialdemokratischen Bürokraten, ihren politischen Bankrott und ihr theoretisches Parasitentum in meisterhafter Trefflichkeit, der ein tiefes Verständnis der Epoche und der Rolle der Sozialdemokratie zugrunde liegt. »Bedeutet das Kranken des Kapitalismus Kranken der Sozialdemokratie, so kann der nahende Tod des Kapitalismus nichts anderes bedeuten als den baldigen Tod der Sozialdemokratie«, folgert er. »Die Partei, die sich auf die Arbeiter stützt, jedoch der Bourgeoisie dient, muss in der Periode höchster Zuspitzung des Klassenkampfs den Odem des Grabs verspüren.«[13]

Die tödliche Angst der SPD-Führung vor der Revolution trieb sie immer weiter zur Unterstützung selbst extrem rechter Kräfte. Sie unterstützte die sozialen Angriffe der Brüning-Regierung, machte Wahlkampf für Hitlers Steigbügelhalter Paul von Hindenburg und rief ihre Mitglieder selbst nach Hitlers Machtübernahme dazu auf, »auf dem Boden der Legalität« zu bleiben. Die sozialdemokratischen Bürokraten verteidigten den bürgerlichen Staat bis zur völligen Selbstaufgabe.

Doch sie konnten das nur tun, weil sich die stalinisierte Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) als völlig unfähig erwies, die Krise der Sozialdemokratie auszunutzen und die Arbeitermassen von ihr zu brechen. »Durch Hin- und Herwinden, Irrtümer, bürokratischen Ultimatismus konserviert das stalinsche Bürokratentum die Sozialdemokratie, indem es ihr jedes Mal von Neuem gestattet, wieder auf die Beine zu kommen«, stellt Trotzki fest.[14]

Die KPD war nach dem Verrat der SPD-Führung im Ersten Weltkrieg von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Franz Mehring gegründet worden, um die Arbeiterklasse von der Sozialdemokratie zu brechen und für die Revolution zu gewinnen. Doch durch die Ermordung Luxemburgs und Liebknechts ihrer wichtigsten Führer beraubt und unter dem Druck der erstarkenden stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion zeigte sie sich unfähig, diese Aufgabe zu erfüllen.

Aufgrund der Isolation und wirtschaftlichen Schwäche des ersten Arbeiterstaats gelang es der stalinistischen Bürokratie, die Macht an sich zu reißen. Sie ersetzte die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution, die die Oktoberrevolution unter Lenin und Trotzki angeleitet hatte, durch die reaktionäre Konzeption des »Sozialismus in einem Land«. Mit Terror und Korruption setzte sie diese Linie in der ganzen Kommunistischen Internationale durch und ordnete die Politik der Kommunistischen Parteien den außenpolitischen Bedürfnissen der Bürokratie unter. Trotzki und die Linke Opposition wurden ausgeschlossen und später größtenteils physisch liquidiert.

Nachdem Ernst Thälmann 1925 den Vorsitz übernommen hatte, folgte auch die KPD sämtlichen opportunistischen Manövern der Stalin-Clique und vollzog 1928 schließlich die Wende zur ultralinken Linie der »Dritten Periode«. Sie bezeichnete die Sozialdemokratie als »sozialfaschistisch« und lehnte jede Einheitsfront mit ihr ab. Zugleich wurde die Gefahr durch die Nazis systematisch heruntergespielt, was Thälmann in der Parole »Nach Hitler kommen wir« in tragischer Einfältigkeit auf den Begriff brachte.

Trotzki arbeitete immer wieder den defätistischen Kern dieses pseudoradikalen Geschwätzes heraus und erklärte die Bedeutung der Einheitsfront. Er verstand, dass der Faschismus eine Frage von Leben und Tod für die Arbeiterklasse war und nur durch die massenhafte Mobilisierung derselben gestoppt werden konnte. Die gemeinsame Aktivierung der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiter in der Verteidigung ihrer Versammlungen, Büros und Betriebsräte hätte das Kräfteverhältnis zugunsten der KPD verschoben und den Arbeitern den Unwillen der SPD-Führung offenbart, einen ernsthaften Kampf gegen die Faschisten zu führen.

Diese Einheitsfront hatte nichts mit der Verteidigung der Weimarer Republik zu tun, die Trotzki angesichts der extrem zugespitzten Klassenspannungen zu Recht als todgeweiht betrachtete. Der Aufstieg des Faschismus war gerade ein Ausdruck davon, dass die Kapitalisten ihre Herrschaft mit dem parlamentarischen System nicht mehr aufrechterhalten konnten. Um aber die Arbeiter zu befähigen, dem kapitalistischen Faschismus die sozialistische Revolution entgegenzusetzen und unabhängig ins Geschehen einzugreifen, war die Einheitsfront eine politische Notwendigkeit. Sie diente gerade dazu, die Arbeiter vom lähmenden Einfluss der SPD-Führung zu brechen und für die Revolution zu gewinnen.

Wir haben in diesen Band den Text »Gegen den Nationalkommunismus!« neu aufgenommen, in dem Trotzki die verheerende Unterstützung des Volksentscheids der Nazis gegen die sozialdemokratische Regierung in Preußen im August 1931 durch die KPD seziert. Während die Stalinisten eine Einheitsfront mit der SPD gegen die Faschisten ablehnten, schlossen sie nun eine Einheitsfront mit den Faschisten gegen eine sozialdemokratische Regierung.

Das Problem sei, schreibt Trotzki, dass die KPD-Führung den Faschismus zunehmend mit dessen Waffen bekämpfe: »Sie entlehnt die Farben seiner politischen Palette und will ihn auf der Auktion des Patriotismus überschreien. Das sind nicht Methoden prinzipieller Klassenpolitik, sondern Kniffe kleinbürgerlicher Konkurrenz.«[15] Die Folgen waren verheerend. Auch wenn heutige pseudolinke Querfront-Strategen nicht mit der Arbeiterpartei KPD vergleichbar sind, bleiben die Fragen von brennender Aktualität.

Trotzki zog aus dem Umstand, dass trotz der deutschen Katastrophe innerhalb der Komintern keine kritische Diskussion der Stalin-Linie erfolgte, weitgehende Schlussfolgerungen. »Eine Organisation, die der Donner des Faschismus nicht geweckt hat und die demütig derartige Entgleisungen vonseiten der Bürokratie unterstützt, zeigt dadurch, dass sie tot ist und nichts sie wieder beleben wird«, schreibt er.[16] Deshalb riefen Trotzki und die Linke Opposition zur Gründung der Vierten Internationale auf, die sich auf die Prinzipien des revolutionären Internationalismus stützt und Stalinismus und Sozialdemokratie gleichermaßen bekämpft.

Die Richtigkeit dieser Entscheidung und der Einschätzung des Stalinismus bestätigte sich, als die Bürokratie den nächsten Schwenk vollzog und ab 1936 zur Bildung einer Volksfront im Kampf gegen den Faschismus aufrief. Anders als die Einheitsfront diente diese nicht der Stärkung der Position der Arbeiter, sondern ihrer Unterordnung unter bürgerliche Kräfte. Revolutionäre Forderungen wurden zugunsten der Zusammenarbeit mit Teilen der Bourgeoisie aufgegeben, die ihrerseits bereits mit einem Bein im Lager des Faschismus stand. Begleitet wurde diese Linie von einem politischen Völkermord an Kommunisten in der Sowjetunion und auf der ganzen Welt, der seinen Höhepunkt in der Ermordung Leo Trotzkis durch einen stalinistischen Agenten im August 1940 fand.

Die Gründung der Vierte Internationale richtete sich nicht nur gegen die stalinistische Bürokratie, sondern auch gegen andere zentristische Kräfte, die unter Bedingungen des völligen Bankrotts des Reformismus in weiten Teilen dessen Platz eingenommen hatten. Zentristen nehmen eine Mittelposition zwischen dem reformistischen und dem revolutionären Lager ein. Während sie wortradikal auftreten können, ordnen sie die Arbeiterklasse in der Praxis jedoch dem einen oder anderen Lager der jeweiligen nationalen Bourgeoisie unter.

Neben Trotzkis brillanter Charakterisierung in »Der Zentrismus und die Vierte Internationale« fügen wir dieser erweiterten Auflage auch die ausführliche Auseinandersetzung mit der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) in »Zentristische Alchimie oder Marxismus« hinzu. Darin zeigt Trotzki mit der gebotenen Schärfe, wie die SAP sämtliche revolutionären Prinzipien über Bord wirft, sich in plumpem bürgerlichen Pazifismus übt und ihre politische Linie zu verwässern sucht, um Anschluss an die stalinistische Bürokratie und Teile der herrschenden Klasse zu finden. Es ist bezeichnend, dass Willy Brandt, der später als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler die Berufsverbote für Sozialisten durchsetzte, durch die Schule der SAP gegangen war und sich dort vehement gegen den Einfluss der Trotzkisten eingesetzt und die Volksfrontpolitik der Stalinisten verteidigt hatte.

Trotzki stellt diesem Zentrismus die revolutionären Prinzipien der trotzkistischen Bewegung entgegen: auf der Grundlage eines historischen Verständnisses der Situation offen auszusprechen, was ist, und die Massen voranzutreiben, um sie zur Revolution zu befähigen. Die Geschichte hat bewiesen, dass es sich dabei nicht um Spitzfindigkeiten, sondern um vitale Grundfragen für die Arbeiterklasse handelt. Trotzkis Schriften belegen, dass Krieg und Faschismus nur durch den revolutionären Kampf der Arbeiterklasse verhindert werden können und deshalb der Kampf für deren politische Unabhängigkeit von den Apparaten und bürgerlichen Lagern die zentrale Aufgabe ist.

Diese Perspektive wurde nach Trotzkis Tod von der Vierten Internationale fortgeführt und weiterentwickelt. 1953 verteidigte das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) die marxistischen Prinzipien gegen den Versuch von Michel Pablo und Ernest Mandel, die trotzkistische Bewegung zu zerstören und in ein beratendes Anhängsel der stalinistischen Bürokratie zu verwandeln. Als Mandel 1969 die erste Ausgabe von Trotzkis Schriften über Deutschland einleitete, versuchte er, sie in einen rein akademischen Beitrag zur Faschismustheorie zu verwandeln. Das gipfelte in der Behauptung, dass in Deutschland und Europa nicht erneut mit Faschismus zu rechnen sei. »Das europäische Großbürgertum hat sich schon einmal tüchtig die Finger an einem faschistischen Experiment verbrannt«,[17] stellte er fest und aktualisierte damit die defätistische Haltung der Stalinisten gegenüber Hitler.

In Wirklichkeit sind Trotzkis Schriften über Deutschland trotz ihrer wissenschaftlichen Tiefe und literarischen Brillanz keine akademischen Texte, sondern eine glühende Kampfschrift, die nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat.

Denn die gleichen Widersprüche, die schon zu zwei Weltkriegen und zum Faschismus geführt haben, spitzen sich erneut in aller Schärfe zu. Nach 30 Jahren Krieg um die Welthegemonie im Nahen Osten, Zentralasien und Afrika verschärfen die USA jetzt ihren Kriegskurs gegen die Atommächte Russland und China. Auch der deutsche Militarismus ist zurück und will sich erneut die ukrainischen und russischen Bodenschätze einverleiben. Er organisiert die umfassendste Aufrüstung seit Hitler und sendet deutsche Panzer wieder in den Krieg gegen Russland. Immer neue Milliardengeschenke an die Superreichen und eine horrende Inflation haben die größte soziale Ungleichheit der Weltgeschichte hervorgebracht.

Wie in den 1930er Jahren reagiert die herrschende Klasse in jedem Land der Welt auf den wachsenden Widerstand gegen diesen Wahnsinn mit einer Hinwendung zu autoritären Herrschaftsformen. Bei Trumps faschistischem Putschversuch vom 6. Januar 2021 und den beschwichtigenden Reaktionen der Demokratischen Partei zeigte sich einmal mehr, dass es innerhalb der Bourgeoisie keine Grundlage zur Verteidigung demokratischer Rechte gibt. Auch in Deutschland unterstützen sämtliche Bundestagsparteien die rechte Politik des Militarismus und der Staatsaufrüstung.

Wie stark die herrschende Klasse wieder an ihre braunen Wurzeln anknüpft, geht auch aus den systematischen Versuchen hervor, die Geschichte zu fälschen und die Nazis zu rehabilitieren. Als Professor Jörg Baberowski von der Berliner Humboldt-Universität im Februar 2014 erklärte, dass Hitler nicht grausam und der Holocaust nichts anderes als Erschießungen im russischen Bürgerkrieg gewesen sei, war es nur die trotzkistische Jugendorganisation IYSSE, die dieser bodenlosen Geschichtsklitterung entgegentrat. Universitätsleitung, Professoren und Medien verteidigten den rechtsradikalen Professor.[18]

Mittlerweile ist dessen Relativierung der Nazi-Verbrechen zur Staatsräson geworden. Es vergeht kaum ein Tag, an dem kein Regierungsvertreter die Begriffe »Zivilisationsbruch« und »Vernichtungskrieg«, die bisher zur Beschreibung der einmaligen Dimensionen der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg und des Holocausts dienten, zur Charakterisierung des russischen Überfalls auf die Ukraine nutzt. Dabei geht es nicht nur um Kriegspropaganda gegen Russland, sondern um die Relativierung der Verbrechen des deutschen Imperialismus. Es werden sämtliche Tabus gebrochen, um Deutschland wieder zu militarisieren.

In der Ukraine knüpft die herrschende Klasse direkt an die Kriegsziele im Ersten und Zweiten Weltkrieg an und arbeitet dazu erneut mit ukrainischen Nationalisten und Neonazis zusammen. Auch in Deutschland selbst wird die faschistische AfD von sämtlichen Parteien in die parlamentarische Arbeit integriert. Rechtsextreme Terrornetzwerke im Staatsapparat werden von den höchsten Stellen gedeckt und aufgebaut, um jede Opposition gegen die Kriegspolitik und die damit verbundene soziale Verwüstung einzuschüchtern und zu unterdrücken. »Zu hohe Spannung des internationalen Klassenkampfes führt zum Kurzschluss der Diktatur, die Sicherungen der Demokratie schlagen eine nach der anderen durch«, schrieb Trotzki im Jahr 1929 und trifft damit auch die heutige Situation auf den Punkt.[19]

Es gibt aber auch erhebliche Unterschiede zu den 1930er Jahren. Die herrschende Klasse verfügt heute nicht über eine faschistische Massenbewegung, die sich aus heruntergekommenen Kleinbürgern und Weltkriegsveteranen rekrutiert. Die SPD führt keine Arbeitermassen mehr, sondern ist eine verhasste bürgerliche Partei, die an der Spitze der Kriegs- und Kürzungspolitik steht. Das Gleiche gilt für die Reste der stalinistischen Bürokratie, die sich in der Linkspartei gesammelt haben. Auch die Gewerkschaften sind keine Arbeiterorganisationen mehr, sondern Polizeikräfte zur Verhinderung von Streiks, die eher mit der Deutschen Arbeitsfront von Robert Ley vergleichbar sind.

Die Arbeiterklasse ist nicht durch eine Reihe von Niederlagen gegangen, sondern hat gerade erst begonnen zu kämpfen. Der Klassenkampf hat sich mit der Pandemie, dem Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland und der massiven Preissteigerungen auf der ganzen Welt verschärft. Er nimmt immer deutlicher internationale Formen an und richtet sich ganz objektiv gegen die Kriegspolitik und ihre Wurzel, den Kapitalismus. Wie Trotzki in diesem Band darlegt, ist die internationale Arbeiterklasse auch heute die einzige soziale Kraft, die eine Katastrophe verhindern kann.

Doch damit sie das tun kann, ist ein politischer Kampf für eine unabhängige Linie und eine revolutionäre Führung notwendig, der sich auf eben die Lehren stützen muss, die in diesem Band so messerscharf dargelegt sind. Dieses Buch hat schon Generationen junger Menschen vom Trotzkismus überzeugt, es wird in den kommenden Kämpfen erneut eine wichtige Rolle spielen.

Christoph Vandreier

Berlin, 21. Juni 2023


[1]

Kurt Tucholsky, »Brief an Walter Hasenclever«, 25. Juli 1933, in: Gesamtausgabe. Texte und Briefe, Bd. 20, Briefe 1933–1934, Reinbek 1996, S. 66.

[2]

Walter Benjamin, »Autobiographische Schriften«, 3. Juni 1931, in: Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt 1991, S. 432.

[3]

E. H. Carr, Twilight of the Comintern: 1930–1935, New York 1982, S. 433, aus dem Englischen.

[5]

Leo Trotzki, »Was nun?«, in: Porträt des Nationalsozialismus, Essen 2023, S. 117.

[6]

Ebd., S. 103.

[7]

Leo Trotzki, »Nation und Weltwirtschaft«, in: Porträt des Nationalsozialismus, S. 376.

[8]

Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.

[9]

Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt 2005.

[10]

Wilhelm Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln 1972, S. 15.

[11]

Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 2004, S. 3, 43.

[12]

Leo Trotzki, »Porträt des Nationalsozialismus«, in: Porträt des Nationalsozialismus, S. 343–352.

[13]

Leo Trotzki, »Was nun?«, in: Porträt des Nationalsozialismus, S. 115.

[14]

Ebd.

[15]

Leo Trotzki, »Gegen den Nationalkommunismus!«, in: Porträt des Nationalsozialismus, S. 53.

[16]

Leo Trotzki, »Man muss von Neuem kommunistische Parteien und eine Internationale aufbauen«, in: Porträt des Nationalsozialismus, S. 355.

[17]

Ernest Mandel, »Trotzkis Faschismustheorie«, in: Leo Trotzki, Schriften über Deutschland, Frankfurt 1971, S. 49.

[18]

Vgl. Christoph Vandreier, Warum sind sie wieder da?, Essen 2018.

[19]

Leo Trotzki, »Die österreichische Krise, die Sozialdemokratie und der Kommunismus«, in: Leo Trotzki, Schriften über Deutschland, S. 53.

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