Am gestrigen Freitag fanden im öffentlichen Dienst erneut Warnstreiks statt. In sieben Bundesländern – Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Sachsen – wurden die Verkehrsbetriebe in den Städten bestreikt, die sie bisher noch nicht privatisiert haben. In Bayern kam es schon am Donnerstag zu Streiks bei der Müllabfuhr, den Werkstoffhöfen und den Verkehrsbetrieben.
In den Verhandlungen hatten Bund und Kommunen ein provokatives Angebot vorgelegt, um den Beschäftigten im öffentlichen Dienst Reallohnsenkungen aufzuzwingen. Seit Olaf Scholz‘ „Zeitenwende“ zu Beginn des Ukrainekriegs sind Politik und Wirtschaft entschlossen, die Kosten von Krieg und Militarismus auf die Arbeiterklasse abzuwälzen und gleichzeitig den anhaltenden Börsenboom weiter anzuheizen. Die DGB-Gewerkschaften spielen dabei eine wichtige Rolle: Hinter dem Rücken der Arbeiter bereitet sich Verdi darauf vor, mit einem Deal, der nur knapp über dem Angebot liegt, den Streikenden in den Rücken zu fallen.
Verdi organisiert gemeinsam mit dem Deutschen Beamtenbund (dbb) die Warnstreiks in einer Art und Weise, die die wachsende Militanz unter Kontrolle halten soll. Um einen Flächenbrand zu verhindern, werden die Arbeitskämpfe auf kleine Gruppen beschränkt und säuberlich nach Regionen und Sektoren voneinander getrennt.
Für diesen Freitag hatte Verdi beschlossen, die Streiks mit den Protesten der Fridays-for-Future-Bewegung zusammenzulegen. In rund 30 Städten wurden gemeinsame Kundgebungen mit der Klimabewegung organisiert. Gleichzeitig blieben die politischen Fragen außen vor, die mit Klimakrise, Sozialabbau und der Eskalation des Krieges zusammenhängen.
Anstatt dass die jungen Arbeiter, Schüler und Studierenden, die gegen die Zerstörung des Planeten kämpfen wollen, für eine Bewegung der Arbeiterklasse gewonnen werden, die über alle Grenzen hinweg gegen Kapitalismus, soziale Ungleichheit und Krieg kämpft – arbeiten FFF-Führung und Gewerkschaftsbürokratie zusammen, um eine unabhängige Bewegung zu verhindern und Arbeiter mit reaktionären Konzepten zu füttern.
Was die Führung von Verdi und Fridays for Future zusammenbringt, ist nicht die Sorge um Löhne und Umwelt, sondern ihre Unterstützung für die Kriegspolitik der Nato in der Ukraine. So sprach Luisa Neubauer von FFF vor einer Woche gemeinsam mit dem Grünen Ralf Fücks und anderen Kriegstreibern auf einer Kundgebung für Waffenlieferungen an die Ukraine am Brandenburger Tor. Deshalb sind sich Verdi und FFF auch einig, die Lasten des Kriegs auf die Bevölkerung abzuwälzen.
So dienten die gemeinsamen Kundgebungen hauptsächlich dazu, die Streikbewegung zu demobilisieren. Auffällig war eine große Diskrepanz: Wo immer WSWS-Reporter mit Streikenden sprachen, zeigten sie eine hohe Kampfbereitschaft. Die Streiks wurden praktisch flächendeckend befolgt. Gleichzeitig blieben die zentralen Kundgebungen von Verdi und FFF klein und wurden von Streikenden nur spärlich besucht. Die Verdi-Sprecher beschränkten sich auf zahnlose Kritik an der Regierung. So prangerte Verdi-Vizechefin Christine Behle in Leipzig die klimaschädliche Förderung von Autobahnen durch Verkehrsminister Claus Wissing (FDP) an.
In Essen versammelten sich am Freitagmittag Beschäftigte aus den Ruhrgebietsstädten Oberhausen, Mülheim und Essen. Die Busfahrer der STOAG (Stadtwerke Oberhausen GmbH) stellten eine der größeren Delegationen der überschaubaren Zahl der von Verdi mobilisierten Teilnehmenden. Der Großteil des Demonstrationszuges bestand aus Anhängern der FFF-Bewegung.
Wir sprachen mit Ahmed, der seit etwa zehn Jahren als Busfahrer für die STOAG in Oberhausen fährt. Er beschrieb die schlechte finanzielle Situation: „Die meisten von uns haben Familie, alles ist teurer geworden, besonders die Energiekosten und die Lebensmittel … So geht es nicht weiter“, betonte Ahmed. „Denen machen die Preissteigerungen wenig aus, aber für uns ist es extrem.“ Zehn Prozent mehr Gehalt würden helfen. „Das wäre zwar nicht sehr gut, denn eigentlich bräuchten wir wegen der hohen Preise mehr. Aber es wäre besser als gar nichts.“
Ahmed fährt im Monat mindestens zwei Extraschichten, damit er überhaupt über die Runden kommt. „Das ist dann übers Jahr verteilt eine ganze Menge. Das sind Tage, an denen du die Familie nicht siehst, und danach ist man häufig auch kaputt“, berichtete er. „Das geht dann an die Substanz.“
Am Schluss blieben „2100 bis 2200 Euro netto übrig, weil ich im Spätdienstplan bin. Ich habe daher eigentlich gar nichts vom Leben, auch zuhause nicht“, beklagte er. Gemessen an der geleisteten Arbeit sei es definitiv zu wenig Geld. „Wir transportieren Menschen, wir müssen immer da sein, fit sein.“ Ohne Extraschichten und Spätdienst käme er auf 1900 bis 2000 Euro. Das sei für eine Familie viel zu wenig. „Die Frau muss mitarbeiten, sonst geht es gar nicht. Mit meinem Lohn allein könnte ich unsere Kosten nicht abdecken.“
Der Busfahrer wies auch auf die Kosten des Kriegs hin. „Als der Krieg begann, stiegen sofort die Energiepreise ins Unermessliche.“ Zu dem Sonderfonds von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr fragte Ahmed: „Von welchen Steuergeldern werden die denn bezahlt?“ und antwortete selbst: „Von unseren! Uns hat man nicht gefragt, ob wir bereit sind, mit unserem Geld den Krieg zu finanzieren. Keiner fragt uns.“
In Verdi habe er wenig Vertrauen, so der Fahrer, der vermutet, dass einiges „hinter den Kulissen“ läuft. „Die müssten endlich mal das tun, was wir wollen, und nicht immer klein beigeben. Das ist schon lange nicht mehr der Fall. In den letzten zehn Jahren hat sich da nicht viel getan.“ Ahmed schloss: „Eigentlich sind wir doch das Rad, das alles dreht, wir: die Arbeiter und Steuerzahler.“ Er sei für einen langen, richtigen Streik, an dem alles stillsteht, um wirklich etwas zu erreichen.
In Frankfurt sprachen Reporter der WSWS mit streikenden Fahrern und Technikern am Straßenbahndepot hinter dem Hauptbahnhof. Horst, Esul und John, drei Kollegen aus der Technik, äußerten sich zu dem bisherigen Angebot von Bund und Kommunen, das gerade mal eine Lohn-„Erhöhung“ von insgesamt 5 Prozent bei 27 Monaten Laufzeit vorsieht, wovon die ersten 3 Prozent erst im Oktober kommen sollen.
„Wir können uns doch nicht mit 3 Prozent abspeisen lassen“, sagte Horst. „Wir haben letztes Jahr 10 Prozent Inflation erlebt, und die Lebensmittel- und Benzinpreise sind noch deutlich mehr gestiegen. Die Laufzeit darf nicht länger als zwölf Monate sein, denn wir wissen ja nicht, was noch alles kommt und wie die Lage in einem Jahr ist. 27 Monate Laufzeit – das geht gar nicht.“
John berichtete: „Wir haben bei der VGF [Verkehrsgesellschaft Frankfurt] schon viel mit der Privatisierung erlebt. Beispielsweise wurden die Busbetriebe privatisiert, und damit hat man vieles von dem, was sicher schien, abgeschafft. In den privaten Busbetrieben sind neue Leute zu viel schlechteren Konditionen und weniger Geld eingestellt worden.“
Erst vor kurzem hatten die Kollegen erfahren, dass bei der Post gegen den Willen von Verdi eine Lohnforderung von 15 Prozent erhoben worden war. „Das hätten wir auch tun sollen!“, rief John aus. „Zehn Prozent als Forderung ist definitiv zu wenig“, denn am Schluss komme doch ein deutlich schlechteres Ergebnis raus. Das sei schon daran zu erkennen, dass man gewagt habe, einen Vorschlag zu machen, bei dem die Krankenschwestern überhaupt nichts kriegen sollten. „Das ist wirklich eine Frechheit“, so John.
Und Horst sagte: „Das sind gerade die, die in der Corona-Zeit am meisten geleistet haben, und man hat ihnen applaudiert. Jetzt könnten wir den Spieß ja mal umdrehen: Statt dass die Chefs Tantiemen kriegen, werden wir für sie auch einfach mal klatschen. Wie wäre das?“
Den internationalen Ansatz, der in der WSWS-Erklärung zum Tarifkampf zum Ausdruck kam, fanden die Techniker gut. „Die internationale Zusammenarbeit ist auf jeden Fall wichtig“, sagte John. „Die führenden Bosse sind ja auch international vernetzt.“
In München wurde an zwei Tagen gestreikt, und am Donnerstag legten zusammen mit den U-Bahn- und Trambahnfahrern auch die Beschäftigten der Müllabfuhr und der Werkstoffhöfe die Arbeit nieder. Am Freitag wurden in Bayern dann auch die Verkehrsbetriebe in Nürnberg, Augsburg, Regensburg, Ingolstadt, Bamberg und Bayreuth ganztägig bestreikt.
Auch in München nahmen nur etwa 100 Streikende an der Verdi-Streikversammlung teil, die an einem abgelegenen und schwer erreichbaren Ort stattfand. Hierhin hatten die Verdi-Funktionäre mehrere Münchner Stadträte der SPD und der Linkspartei als Sprecher eingeladen. Allerdings stießen diese auf Skepsis und Ablehnung. Als Stefan Jagel, Verdi-Gewerkschaftssekretär und Stadtrat für Die Linke in München, sagte, er müsse die Arbeiter mobilisieren, damit sie „stark bleiben und für bessere Arbeitsbedingungen weiter kämpfen“, erntete er als Reaktion nur ein spöttisches und offenes Lachen.
In München sprachen wir mit Thomas, der bei der Abfallwirtschaft München (AWM) arbeitet, Er sagte sofort, dass er mit der Forderung nach 10,5 Prozent nicht einverstanden sei. „Das deckt nicht einmal die Inflation ab“, sagte Thomas. „Und am Ende kommt sowieso weniger raus. Denn in der dritten Verhandlungsrunde schließen sie einen faulen Kompromiss. Es ist eine Frechheit, und noch mehr Kollegen werden austreten.“
Der etwa Vierzigjährige, der schon viele Jahre Berufserfahrung hat, kritisierte auch, dass Verdi „immer bloß einzelne Betriebe und Branchen, niemals alle zusammen“ zum Streik aufrufe. „Damit kann man von vorneherein nicht gewinnen.“ Er erwähnte die Streiks in Frankreich, die sehr groß seien, und begrüßte die Initiative der World Socialist Web Site, die Kämpfe international zusammenzuschließen und von Verdi unabhängige Aktionskomitees aufzubauen.
In Dresden wurde am Freitag die Dresdener Verkehrsbetriebe (DVB) bestreikt. Am Morgen fand eine Kundgebung auf dem Betriebshof Gorbitz statt, ehe es in die Stadt, zum gemeinsamen Protest mit der Fridays-for-Future-Bewegung ging. Vor dem Betriebshof Gorbitz nahm auch der Verdi-Chef Frank Werneke als „Arbeiter“ teil. Derselbe Werneke, jahrzehntelanges SPD-Mitglied, sitzt seit über 20 Jahren im Verdi-Bundesvorstand und bekleidet einen hochdotierten Aufsichtsratsposten bei der Deutschen Bank.
Mehrere streikende Kollegen äußerten sich auf die Frage, was sie von der Tarifrunde erwarteten, wenig optimistisch. Sie hatten offensichtlich kein Vertrauen, dass die dritte Verhandlungsrunde noch ein deutlich besseres Ergebnis bringen wird. Einer sagte, er hoffe wenigstens auf eine Erhöhung des Festbetrags. Eine streikende Straßenbahnfahrerin, seit über 30 Jahren im Unternehmen, sagte ganz nüchtern: „Das Ergebnis steht doch von vorneherein fest. Du glaubst doch nicht, dass hier ernsthaft was verhandelt wird.“
Ein Straßenbahnfahrer schilderte der WSWS den Ablauf der Aktion:
„Bei uns in Dresden gab es eine hohe Kampfbereitschaft, und am Freitag kam der gesamte Betrieb des öffentlichen Nahverkehrs zum Erliegen. Viele Arbeiter haben jedoch keinerlei Interesse an dem orchestrierten Trillerpfeifen-Spektakel von Verdi. So fuhr nur ein winziger Bruchteil von meinem Betriebshof mit zur ersten Kundgebung am Betriebshof Gorbitz, wo Verdi-Chef Frank Werneke sprach. Dort erhielt nicht nur Werneke, sondern auch Lars Seiffert vom DVB-Vorstand, Gelegenheit, einige warme Worte für das – wie beide sagten – ‚berechtigte Anliegen der Streikenden‘ zu heucheln, und man lobte den fairen Umgang miteinander.
Von insgesamt 400 Streikenden DVB-Arbeitern waren nur etwa 100 gekommen. Anschließend ging es mit sechs fast leeren Reisebussen, die Verdi dafür bestellt hatte, weiter in die Innenstadt. Dort nahmen schließlich kaum 50 Leute an der Kundgebung teil, die Verdi vor dem Verkehrsmuseum abhielt. Man muss dazu wissen, dass dieser Platz recht abgelegen vom Dresdner Alltagsgeschehen liegt, so dass die Kundgebung an diesem Vormittag höchstens einigen Touristen auffallen konnte. Der Verdacht drängte sich auf, dass sich Verdi eher verstecken wollte, anstatt in Sichtweite der zentralen Verkehrsknotenpunkte der Stadt mit einer Kundgebung aufzufallen.
Kurz bevor ich ging, durfte dann auch noch ein SPD-Mitglied seine ‚Solidarität‘ bekunden. Das war ja wohl der krönende Witz zum Abschluss. Die SPD sitzt in Sachsen seit rund zehn Jahren in der Regierung, und in der Bundesregierung hat SPD-Kanzler Olaf Scholz die ‚Konzertierte Aktion‘ ins Leben gerufen, um gegen ‚übertriebene‘ Lohnforderungen vorzugehen. Und jeder Arbeiter weiß seit Jahrzehnten, dass er auf die ‚Solidarität‘ der SPD, wie auch jeder anderen Bundestagspartei, pfeifen kann.“