Am Dienstag fanden in Frankreich zum dritten Mal landesweite Streiks und Proteste gegen die von Präsident Emmanuel Macron geplanten Rentenkürzungen statt. Laut den Zahlen der Gewerkschaften demonstrierten in Paris mehr als 400.000 Menschen, landesweit insgesamt zwei Millionen, dazu kamen weitere Millionen, die streikten und zu Hause blieben. In vielen Städten meldeten die Gewerkschaften große Teilnehmerzahlen bei den Protesten, darunter 180.000 in Marseille, 80.000 in Toulouse, 70.000 in Lille und 50.000 in Bordeaux.
Auch Studenten und Schüler schlossen sich den Protesten an. Laut den Zahlen von Vertretern der Partei Unbeugsames Frankreich (La France insoumise, LFI) von Jean-Luc Mélenchon wurden 15 Fakultäten besetzt und 200 Gymnasien mobilisiert. Am Dienstagmorgen ging die Polizei gewaltsam mit Tränengas gegen Schüler des Lycée Racine in Paris vor.
Die Wut auf Macron ist enorm, weil er trotz des überwältigenden Widerstands der Bevölkerung die Kürzungen durchsetzen will. Er hofft, damit die riesige Summe von 413 Milliarden Euro für Militärausgaben und die Lieferung von Panzern an die Ukraine im Krieg gegen Russland freizumachen. Offensichtlich will er den Krieg und den Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiter eskalieren, mit völliger Verachtung für die Mehrheit der Bevölkerung, die sich ihm widersetzt. Er begegnet dem massiven Widerstand gegen imperialistischen Krieg und Austerität, indem er Horden von Bereitschaftspolizisten auf die Demonstranten loslässt.
In Nantes, Rennes und Paris kam es zu schweren Zusammenstößen, als die Polizei friedliche Demonstranten wiederholt attackierte und schlug. Einheiten der Bereitschaftspolizei griffen sogar das Sicherheitspersonal der Gewerkschaften an der Spitze der Demonstration in Paris an. Daraufhin legte sich die Bereitschaftspolizei mit den Demonstranten an, darunter auch Einheiten streikender Feuerwehrleute, die ihre Ausrüstung anzogen, um sich vor dem Tränengas zu schützen.
In Paris und Nizza sprachen Reporter der WSWS mit Demonstranten, darunter Simon, ein Anhänger der LFI, der in Paris selbstgemachte Flugblätter verteilte, auf denen er zum Aufbau von Streikfonds aufrief, um Arbeiter bei langen Streiks gegen Macron und den Staat zu unterstützen. Tatsächlich zahlen die französischen Gewerkschaftsbürokratien trotz ihrer milliardenschweren Jahresbudgets kein Streikgeld, sodass die Arbeiter nur kurze Zeit streiken können, bevor der wirtschaftliche Druck sie zur Rückkehr an die Arbeit zwingt. Auf diese Weise helfen die Gewerkschaftsbürokratien, mit der Komplizenschaft der LFI, dass Sozialkürzungen und Militärhaushalte durchgesetzt werden.
Simon kritisierte die Rolle der Gewerkschaften, die den Kampf gegen Macron schwächen: „Die Gewerkschaftsverbände rufen einmütig zum Streik auf, aber ich befürchte, dass sie schon jetzt ihre Aufgabe in dieser Hinsicht nicht erfüllen. Es sollte eine echte Spendenkampagne geben, die sich an die 72 Prozent der französischen Bevölkerung richtet, die die Reform ablehnen, um Streikgelder zu sammeln und die Lohnverluste der Arbeiter in strategisch wichtigen Bereichen auszugleichen, wenn sie streiken. Das wird sich auf die Wirtschaft auswirken.“
Er beschrieb die Politik des „Sozialdialogs“ zwischen den Gewerkschaftsbürokratien, Macron und den Arbeitgeberverbänden als „einvernehmliche Vermittlung, wie es seit Jahrzehnten der Fall ist... Ich habe das Gefühl, ich muss mich dazu äußern, damit wir aus dem ausgetretenen Pfad der Gewerkschaften rauskommen.“
Simon verurteilte auch Macrons massive Aufrüstungskampagne und die Waffenlieferungen an die ukrainischen Streitkräfte: „Es geht hier um 400 Milliarden, die ins Militär investiert werden, während wir zwei Jahre länger arbeiten sollen. Das sind politische Entscheidungen. Die Interessen Frankreichs, eines bestimmten Frankreichs, des französischen Imperialismus, haben Vorrang. Wir, die Bürger, haben dabei kein Mitspracherecht. Das ist inakzeptabel und untragbar.“
Simon erklärte seine Unterstützung für den Aufbau einer internationalen Bewegung der Arbeiterklasse gegen den Nato-Krieg gegen Russland in der Ukraine: „Wir sind solidarisch mit allen Arbeitern. Ich weiß, dass auch ein großer Teil der Arbeiter in Russland gegen Putins Politik rebelliert und gegen sie mobil macht. Wir müssen Solidarität zeigen.“
Als er vom Aufruf der Parti de l’égalité socialiste zum weltweiten Aufbau von Aktionskomitees erfuhr, antwortete Simon: „Das ist absolut notwendig, es gibt keine Aktionsform, die einer anderen überlegen ist. Mir scheint es vorrangig zu sein, eine internationale Bewegung aufzubauen.“
Simon erklärte, die Arbeiterklasse sollte „einen Wirtschaftskrieg erklären, wir Arbeiter gegen die Finanzaristokratie. Die Institutionen zu blockieren und das BIP zu verringern, das wäre meine Herangehensweise. Ich bin für jede Bewegung, die dem Volk die Macht gibt. Die Frage ist, wie weit das Volk bereit ist zu gehen.“
In Paris sprach die WSWS auch mit Jordan Robichon, einem Delegierten der Energiesparte der stalinistischen Gewerkschaft CGT. Er erklärte: „Die rote Linie wurde bereits vor einiger Zeit überschritten: Inflation, Wohnungsnot. Die französische Bevölkerung leidet darunter seit langem. Die Rentenreform ist der letzte Strohhalm. ... Wir sind nicht mit dem Kurs der Regierung einverstanden, uns zwei Jahre länger arbeiten zu lassen. Das Leben ist unbezahlbar. Wir werden bis zum Ende kämpfen. In der Elektro- und Gasindustrie sind wir mobilisiert, um unsere Renten gegen diese ungerechte und ungerechtfertigte Reform zu verteidigen.“
Auf die Frage nach dem Nato-Krieg gegen Russland in der Ukraine erklärte Jordan: „Ich würde unserem Präsidenten sagen, er solle lieber aufpassen, was in seinem eigenen Land passiert und was die Sorgen der Bevölkerung sind, statt sich in die Angelegenheiten anderer Völker einzumischen. Die Franzosen stehen nicht unbedingt hinter seiner Haltung. Ich kritisiere die ukrainische oder die russische Regierung nicht, aber ich denke an die ganzen Toten, die nichts getan haben. Das passiert heute ständig, die Starken entscheiden und die Schwachen leiden.“
Mit Blick auf die zunehmend wütende Stimmung in der Arbeiterklasse erklärte Jordan gegenüber der WSWS: „Heute demonstrieren wir friedlich, aber wenn die Regierung nicht auf die Mobilisierung der französischen Bevölkerung achtet, werden wir sehen, wohin uns das führt. Wenn man auf eine Wand stößt, muss man manchmal wissen, wie man sie zerstört.“
In Nizza sprach die WSWS mit Marie, die beim Kinderschutzbund arbeitet. Sie erklärte: „Wir haben eine Regierung, die ein Gesetz nach dem anderen erlässt und alle sozialen Schutzsysteme zerstört, für die frühere Generationen gekämpft haben und die den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft ermöglicht haben. Diese Gesellschaft wird immer ungleicher. ... Das Problem ist global... Der Kapitalismus wird bis ins Extreme gesteigert, was weltweit das Leben der Menschen zerstört. Das Problem ist die Verteilung des Reichtums in den einzelnen Ländern und natürlich auf dem ganzen Planeten.“
Josette, eine Rentnerin, erklärte gegenüber der WSWS: „Ich bin 77 Jahre alt und demonstriere für meine Kinder und Enkelkinder, damit ihre Renten nicht so aussehen, wie die derzeitige Regierung es beschlossen hat.“
Auf die Frage nach ihrer Meinung zu Frankreichs Teilnahme am Nato-Krieg gegen Russland antwortete Josette: „Das nationale Bildungssystem, der öffentliche Dienst, die Krankenhäuser und die öffentlichen Einrichtungen sind ausgehöhlt. Es wird in diesem Land zu einem internen Krieg gegen Macron kommen.“
Die Gewerkschaftsbürokratie und ihre politischen Unterstützer wie Mélenchon erklären in den Medien lautstark, sie würden Macron davon überzeugen, von seinen Kürzungen abzurücken, wenn die Arbeiter sie unterstützen. CGT-Boss Philippe Martinez erklärte am Dienstagmorgen auf RTL, Macrons „übergroßes Ego“ sei für den Kampf verantwortlich. Am Abend erklärte er auf BFM-TV, Macron mache die Kürzungen zu einer „persönlichen Angelegenheit“.
Mélenchon äußerte sich am Dienstagnachmittag ähnlich und appellierte an Macron, „vernünftig“ zu sein und die Rücknahme der Reform vorzubereiten.
Das sind alles nur Lügen, die die Arbeiter ruhigstellen sollen. In Wirklichkeit befinden sich Frankreich und ganz Europa in einem eskalierenden Nato-Krieg gegen Russland und einer tiefen Wirtschaftskrise mit einem enormen Anstieg der Inflation, die zu einem rapiden Anwachsen des Klassenkampfs führt. Unter diesen Bedingungen ist es sinnlos, an Macron zu appellieren, seine Meinung zu ändern. Seine Angriffe auf die Arbeiterklasse werden von der tödlichen Krise des Weltkapitalismus und der vereinten Entschlossenheit aller großen Nato-Mächte angetrieben, imperialistischen Krieg im Ausland und Klassenkrieg im Inneren zu führen.
In den letzten Wochen hat die europäische Arbeiterklasse ihre politische Offensive verstärkt. In Belgien und Spanien gab es Massenstreiks im Gesundheitswesen, in der finnischen Technologiebranche Streiks für höhere Löhne, Antikriegsproteste in Dänemark und riesige Streiks von einer halben Million Arbeiter in Großbritannien.
Um erfolgreich Widerstand gegen Macrons Rentenkürzungen zu leisten, muss der Gewerkschaftsbürokratie und ihren pseudolinken Unterstützern die Kontrolle über den Kampf entrissen werden. Diese Bürokratien spalten die Arbeiterklasse nach nationalen Grenzen, handeln Kürzungen und Löhne unterhalb der Inflation aus und blocken den Widerstand gegen den Ukraine-Krieg ab. Der Weg vorwärts führt über den Aufbau unabhängiger Aktionskomitees der Arbeiterklasse, um die internationalen Kämpfe der Arbeiter gegen Austerität und Krieg zu vereinen und sie mit einer trotzkistischen Perspektive des Kampfs für die Arbeitermacht und den Aufbau des Sozialismus zu verbinden.
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