Die Erdbebenkatastrophe, die am 6. Februar die Türkei und Syrien erschütterte, ist eine verheerende Anklage gegen den Weltkapitalismus. Sie enthüllt vor aller Augen die furchtbare Verschwendung der gesellschaftlichen Ressourcen, die durch menschliche Arbeit geschaffen werden.
Das Beben und seine Nachbeben haben ein Gebiet verwüstet, in dem 25 Millionen Menschen leben. Die offizielle Zahl der Todesopfer nähert sich 50.000, wobei mindestens 42.000 Tote in der Türkei und 7.000 in Syrien bestätigt wurden. Unzählige Tausende liegen noch unter den Trümmern begraben.
Ein Gouverneur im Erdbebengebiet in der Türkei hat zugegeben, dass die tatsächliche Opferzahl allein in der Türkei 150.000 übersteigen könnte. Damit wäre es eines der tödlichsten Erdbeben der modernen Geschichte.
Dieses Massensterben wäre vermeidbar gewesen. Dank moderner Wissenschaft und Technik ist es heute möglich, Häuser zu bauen, die selbst starke Erdbeben überstehen, so dass die Opferzahlen gering bleiben. Beim Fukushima-Erdbeben 2022 in Japan, das eine ähnliche Stärke hatte wie das jüngste türkisch-syrische Beben, starben nur vier Menschen.
Doch bei dem jüngsten Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet sind mehr Todesopfer zu beklagen als bei den großen Erdbeben in der Region in den Jahren 847 und 1759 . Damals kamen jeweils schätzungsweise 20.000 Menschen ums Leben. Das letzte Erdbeben, bei dem wahrscheinlich mehr Menschen in dieser Region gestorben sind, fand im Jahr 526 statt, als etwa eine Viertelmillion ihr Leben verlor.
Warum fordern Erdbeben trotz der immensen Fortschritte in Technik und Industrie seit der Zeit des Römischen Reiches immer noch Zehn- oder Hunderttausende von Menschenleben und lassen Millionen obdachlos in der eisigen Kälte zurück?
Die Antwort ist, dass kapitalistische Regierungen riesige Ressourcen für Krieg und Tod verschwenden und dabei die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung vernachlässigen. Erdbebensichere Häuser zu bauen und damit Leben zu retten rentiert sich aus Sicht der Regierungen und Unternehmen nicht und wird daher ignoriert. Das zeigt sich deutlich an der geringen Erdbebenhilfe der Nato-Mächte, die im selben Atemzug Milliardensummen in den Krieg gegen Russland pumpen, der die Welt an den Rand eines atomaren Konflikts gebracht hat.
Die Biden-Regierung wird voraussichtlich im März den größten Militärhaushalt in der Geschichte der USA mit rund 900 Milliarden Dollar anfordern. Unter ihrer Führung haben die Nato-Mächte, einschließlich der Türkei, ihren Stellvertretern in der Ukraine militärische Ausrüstung und finanzielle Hilfe im Wert von mindestens 100 Milliarden Dollar für den Krieg gegen Russland zur Verfügung gestellt. Wenn man den Schätzungen von US-Quellen folgt, hat Russland bislang 100.000 Opfer zu beklagen. Das bedeutet, dass für jeden russischen Soldaten, der im Krieg getötet oder verwundet wurde, eine Million Dollar ausgegeben wurde.
US-Außenminister Antony Blinken, der am Sonntag die Türkei besuchte und mit einem Hubschrauber über das Erdbebengebiet flog, gab bekannt, dass Washington die Erdbebenhilfe für die Türkei und Syrien von 85 auf 185 Millionen US- Dollar aufgestockt hat. Das sind gerade einmal 7,40 US-Dollar für jeden der 25 Millionen Betroffenen.
Der deutsche Imperialismus hat im vergangenen Jahr seine Militärausgaben um 100 Milliarden Euro erhöht und damit die größte Aufrüstungsoffensive seit dem Ende des NS-Regimes eingeleitet. Letzte Woche gab die Bundesregierung bekannt, dass der „Gesamtwert des deutschen Hilfsmaterials“ 6,9 Millionen Euro für die Erdbebengebiete in der Türkei und 1,5 Millionen Euro für die in Syrien umfasse. Das ist weniger als die Ausgaben für einen einzigen der Leopard-2-Kampfpanzer, die Berlin jetzt in die Ukraine schickt.
In der Türkei fließt der größte Teil des Haushalts in den Militär- und Sicherheitsapparat. Von den rund 4,5 Billionen Türkischen Lira (TL) des diesjährigen Staatshaushalts sind 390 Milliarden TL (19,5 Milliarden Euro) fürs Militär vorgesehen. Die türkische Bourgeoisie rühmt sich, die elftstärkste Militärmacht der Welt und die stärkste im Nahen Osten und Nordafrika zu sein. Dennoch ist sie nicht in der Lage, Millionen ihrer Bürger mit angemessenen Wohnungen zu versorgen und ihr Leben zu schützen.
Letzte Woche brüstete sich die türkische Regierung damit, 115 Milliarden TL (5,8 Milliarden Euro) an Hilfsgeldern gesammelt zu haben; tatsächlich kommen davon aber 85 Milliarden von staatlichen Banken. Gleichzeitig haben immer noch Tausende Menschen in dem betroffenen Gebiet weder ein Zelt noch einen Container oder eine andere Unterkunft. Das Elend zwang viele Menschen, in ihre zerstörten Häuser zurückzukehren, wo sie am 20. Februar von einem erneuten Erdbeben der Stärke 6,4 überrascht wurden. Mindestens sechs Menschen starben, etwa 300 wurden verletzt. Unterdessen stehen in der ganzen Türkei zahlreiche Hotels und Wohnungen leer.
In Syrien tragen Washington und die anderen imperialistischen Mächte die Hauptverantwortung für die Erdbebenkatastrophe, die fast 10 Millionen Menschen trifft und 5,4 Millionen obdachlos gemacht hat. 2011 hatte die Nato einen Krieg gegen Syrien begonnen, um das Regime von Präsident Bashar al-Assad zu stürzen und einen Regimewechsel zu erzwingen. Noch vor dem Erdbeben legten die Imperialisten eines der fortschrittlichsten Länder der arabischen Welt in Schutt und Asche.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Für diesen Krieg, der mehr als 500.000 Menschen das Leben gekostet und mehr als 10 Millionen in die Flucht getrieben hat, gaben Washington und seine Nato-Verbündeten, darunter die Türkei, Hunderte von Milliarden Dollar aus.
Vier Tage nach dem Erdbeben hob Washington unter dem Druck der internationalen Empörung seine Sanktionen gegen Syrien teilweise auf, aber nur für sechs Monate. Dieser symbolische Schritt kam für die Tausenden unter den Trümmern verschütteten Menschen zu spät, und es folgten auch keine umfassenden Such- und Rettungsaktionen oder andere Hilfsmaßnahmen. Stattdessen wurden die syrischen Erdbebenopfer weitgehend ihrem Schicksal überlassen.
Seit der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie im Jahr 1991 haben die USA Billionen von Dollar für imperialistische Kriege und Regimewechsel im Nahen Osten ausgegeben. Bagdad, Kabul, Falludscha, Mosul und Aleppo wurden zerbombt, lange bevor das Erdbeben die Region verwüstete. Der imperialistische Raubzug in Zentralasien und im Nahen Osten, wo die Großmächte um Weltherrschaft buhlen, hat bereits Millionen Menschen das Leben gekostet.
Diese endlosen Kriege, die die Nato-Regierungen gegen den breiten Widerstand in der eigenen Bevölkerung geführt haben, bereiteten der heutigen Kriegskatastrophe den Boden. Der Stellvertreterkrieg zwischen der Nato und Russland in Syrien, bei dem die Nato das von Russland unterstützte Assad-Regime stürzen wollte, breitete sich 2014 auf die Ukraine aus, als die Nato in Kiew einen Putsch gegen die pro-russische Regierung unterstützte. Und jetzt, nachdem sie den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu der reaktionären Invasion in der Ukraine angestachelt hat, fordert die Nato eine Umstellung auf Kriegswirtschaft, in der die Industrie immer stärker auf Rüstungsproduktion ausgerichtet ist.
In einer global integrierten Welt sind Katastrophen wie Erdbeben, der Klimawandel oder die Corona-Pandemie miteinander verbundene und internationale Probleme, die eine koordinierte globale Antwort erfordern. Aber innerhalb des bankrotten kapitalistischen Nationalstaatensystems ist das ein unmögliches Unterfangen. Die Gesellschaft wird von einer Finanzoligarchie beherrscht, die der arbeitenden Bevölkerung keine Rechenschaft abgibt und verlangt, dass alle verfügbaren Ressourcen für Kriege eingesetzt werden.
Diese Oligarchen sind unfähig zu regieren – das hat ihre Politik in der türkisch-syrischen Erdbebenkatastrophe genauso bewiesen wie ihr Versagen in der Pandemie. 20 Millionen Menschen sind bereits gestorben, weil die Herrschenden nicht in der Lage sind, eine weltweit koordinierte Strategie gegen Covid-19 umzusetzen. Neue Katastrophen und eine gefährliche Eskalation des Kriegs können nur verhindert werden, wenn die internationale Arbeiterklasse den Oligarchen die Macht entreißt und eine sozialistische Gesellschaft aufbaut, die sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung und nicht dem privaten Profit orientiert.