Berichte über eine bevorstehende neue Offensive Russlands haben die Selenskyj-Regierung in große Unruhe versetzt. In Russland sind seit September 2022 Hunderttausende junger Soldaten eingezogen worden, die wohl bald gegen die Ukraine zum Einsatz kommen.
Am Sonntag trat Verteidigungsminister Oleksandr Resnikow zurück, wie Dawyd Arachamia, Chef der Parlamentsfraktion der Regierungspartei Diener des Volkes, bekanntgab. Sein Nachfolger soll Generalmajor Kyrylo Budanow werden, der derzeit den ukrainischen Militärgeheimdienst leitet. Arachamia schrieb auf Telegram: „Der Krieg diktiert Änderungen der Personalpolitik.“ Er kündigte an, Resnikow werde an die Spitze des Ministeriums für strategische Industrien versetzt und der bisherige Amtsinhaber Pawlo Riabikin entlassen.
Resnikow ist in einen schweren Korruptionsskandal verwickelt: Berichten zufolge hatten hochrangige Regierungsvertreter Urlaubsreisen unternommen, riesige Summen von Bestechungsgeldern angenommen oder Fahrzeuge benutzt, welche die Nato zur Evakuierung von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten zur Verfügung gestellt hatte. Vertreter des Verteidigungsministerium stehen im Verdacht, Nahrungsmittel für das Militär zu stark überteuerten Preisen beschafft zu haben. Resnikows Stellvertreter, Wjatscheslaw Schapowalow, wurde schon zuvor zum Rücktritt gezwungen.
Resnikow hat eine zentrale Rolle bei den Verhandlungen über Waffenlieferungen in Höhe von Dutzenden Milliarden Dollar gespielt, mit denen die Nato die Ukraine überschwemmt. Vor wenigen Wochen hatte er offen erklärt: „Die Ukraine ist de facto ein Nato-Mitglied.“
Bis Dienstagmorgen war Resnikow noch nicht offiziell abgesetzt, und laut einigen Medienberichten soll zunächst das ukrainische Parlament darüber abstimmen. Resnikow hat Arachamias Ankündigung, er werde ins Ministerium für strategische Industrien versetzt, öffentlich dementiert und erklärt, er würde diesen Posten nicht annehmen, selbst wenn er ihm angeboten würde. Laut ukrainischen Medien ist es Budanow als Offizier im Generalsrang gesetzlich nicht erlaubt, den Posten des Verteidigungsministers zu bekleiden, da dieser für zivile Führungskräfte vorbehalten ist.
Doch am Montag gehörte Budanow zu den Teilnehmern eines Treffens zwischen Selenskyj und der Militärführung, Resnikow jedoch nicht. An dem Treffen nahmen auch der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, Waleri Saluschni, der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrats, Alexei Danilow, und mehrere Militärkommandeure teil. Laut der ukrainischen Presse ging es dabei um die Vorbereitung auf eine möglicherweise in naher Zukunft drohende russische Offensive. Nach dem Treffen kündigte Selenskyj an, er werde eine Reihe von regionalenchefs durch Personen ersetzen, die einen militärischem Hintergrund aufweisen.
Im Rahmen des Korruptionsskandals fanden mehrere Razzien durch den Geheimdienst SBU statt, u.a. in den Häusern des Oligarchen Igor Kolomoiski und des ehemaligen Innenministers Arsen Awakow, der für seine Beziehungen zum faschistischen Asow-Bataillon berüchtigt ist.
Dass einige der bekanntesten Politiker und Oligarchen des Landes in den Korruptionsskandal verwickelt sind, verdeutlicht zweifellos die kaltschnäuzige Kriminalität der ukrainischen Oligarchie. Sie nutzt den Krieg schamlos für ihre Plünderungen aus, während die Bevölkerung unter außerordentlichen Entbehrungen leidet und im Krieg verheizt wird. Doch die Behauptung, die Umbesetzungen im ukrainischen Staat und in der herrschenden Klasse sei ein Kampf gegen „Korruption“, darf nicht für bare Münze genommen werden.
Innerhalb des ukrainischen Staatsapparats und der Oligarchie, die aus der Wiedereinführung des Kapitalismus durch die sowjetische Bürokratie hervorgegangen sind (selbst eine der größten organisierten Plünderungen in der Geschichte!) ist der angebliche Kampf gegen „Korruption“ seit langem die bevorzugte Methode, politische Rechnungen und Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse zu begleichen und die Einmischung der imperialistischen Mächte in diese Konflikte zu vertuschen.
Die aktuelle Säuberung des Staatsapparats ist die größte seit Kriegsbeginn und größer als diejenige im letzten Sommer, als der Leiter des ukrainischen Geheimdienstes und langjährige Verbündete Selenskyjs entlassen wurde. Damals wurden 651 Verfahren gegen Staatsbeamte wegen Landesverrat eröffnet. Wie die WSWS damals schrieb, gab es klare Hinweise auf eine direkte Einmischung Washingtons in diese Säuberungsaktion.
Auch diesmal begrüßte die westliche Presse Selenskyjs Vorgehen gegen hochrangige Regierungsvertreter und stellte es als Versuch dar, der Nato zu beweisen, dass die Ukraine keine missbräuchliche Verwendung der Militärhilfe in Höhe von Dutzenden Milliarden Dollar duldet, mit der das Land überschwemmt wird.
Es gibt auch Berichte über beträchtliche Spannungen innerhalb der Selenskyj-Regierung und der Regierungspartei Diener des Volkes sowie zwischen Selenskyj und dem Generalstabschef der Armee, Waleri Saluschni.
Saluschni, der als potenzieller Rivale Selenskyjs in den Präsidentschaftswahlen 2024 gehandelt wird, ist als offener Bewunderer des ukrainischen Nazi-Kollaborateurs und faschistischen Massenmörders Stepan Bandera bekannt. Immer wieder wurde er mit rechtsextremen Devotionalien fotografiert. Kurz nachdem er am 2. Januar Banderas 104. Geburtstag gefeiert hatte, traf er sich zum ersten Mal persönlich mit US-Generalstabschef Mark Milley.
Jetzt ist Saluschni an einem öffentlichen Konflikt mit Selenskyj beteiligt. Er hat sich erbost gegen eine deutliche Gehaltskürzung für Beschäftigte des Militärs und des Innenministeriums gewandt, die mit den neuen Gehaltsvorschriften am 1. Februar in Kraft getreten ist.
Im Vorfeld der aktuellen Säuberung des ukrainischen Staatsapparats war Mitte Januar Oleksi Arestowitsch zurückgetreten, ein Top-Berater Selenskyjs. Er war vom Militär und der extremen Rechten attackiert worden, weil er öffentlich behauptet hatte, die ukrainische Luftabwehr sei für den Einschlag einer Rakete in ein Wohngebäude verantwortlich, bei dem Dutzende Menschen getötet wurden. Seit seinem Rücktritt hat Arestowitsch mehrfach öffentlich gewarnt, die Ukraine könnte den Krieg verlieren und danach aufhören, als Staat zu existieren.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Wenige Tage nach Arestowitschs Rücktritt stürzte ein Hubschrauber ab, in dem sich die gesamte Führung des ukrainischen Innenministeriums befand. Fünf Passagiere kamen ums Leben, darunter Innenminister Denys Monastyrski, ein enger Verbündeter Selenskyjs und im Krieg zentrale Führungsfigur. In den zwei Wochen seither wurden keine Nachfolger für die Posten dieser Personen benannt.
Die Krise der Selenskyj-Regierung kommt zu einem Zeitpunkt, an dem die Nato den Krieg gegen Russland drastisch eskaliert. Die USA und Deutschland haben Kiew die Lieferung Hunderter Leopard 2- und Abrams-Kampfpanzer zugesagt, und mehrere Nato-Mitglieder diskutieren jetzt offen über die Lieferung von F16-Kampfflugzeugen.
Mit dieser Eskalation gingen seit Mitte Januar zahlreiche Besuche hochrangiger Vertreter der Biden-Regierung und des Pentagons in Kiew einher. Wie außerdem berichtet wurde, hat sich auch CIA-Direktor William Burns mit Selenskyj in Kiew getroffen. US-Generalstabschef Milley war ebenfalls im Januar durch Europa gereist, um die Streitkräfte „auf eine Offensive zur Befreiung der von Russland besetzten Ukraine“ vorzubereiten, wie er selbst formulierte.
Angesichts dieser Eskalation der Nato und der Berichte über eine geplante russische Offensive gibt die Selenskyj-Regierung inzwischen öffentlich zu, dass sie sich in einer militärisch hochgradig prekären Lage befindet. Russische Truppen rücken auf Bachmut vor, das in den letzten Monaten im Zentrum der Kämpfe in der Ostukraine stand.
Am Wochenende beklagte sich Selenskyj öffentlich, der „Kampfgeist“ der Bevölkerung habe deutlich nachgelassen. Später gab er zu, dass die Kämpfe bei Bachmut „härter werden“. Seine Regierung geht verstärkt gegen „Deserteure“ vor, und der WSWS liegen Berichte vor, laut denen im ganzen Land Männer von der Straße weg zwangsweise zum Militär eingezogen werden.
Vor drei Monaten, im letzten November, erklärte US-Generalstabschef Milley, die Ukraine und Russland hätten bisher jeweils 100.000 Tote zu verzeichnen. Zweifellos hat sich diese Zahl seither dramatisch erhöht. Zwar sind sie für beide Seiten katastrophal, für die Ukraine mit einer Vorkriegsbevölkerung von 40 Millionen jedoch im Verhältnis viel höher als für Russland mit 140 Millionen Einwohnern.
Seit Beginn des Kriegs sind mehr als acht Millionen Menschen aus dem Land geflohen, weitere Millionen leben in Gebieten, die von Russland kontrolliert werden. Die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung, die bereits vor dem Krieg die ärmste in Europa war, ist jetzt völlig verarmt. Laut den jüngsten Zahlen des Welternährungsprogramms leidet fast ein Viertel aller Kinder (22,4 Prozent) an chronischer Unterernährung, und 12,8 Millionen Ukrainer können sich nur unzureichend ernähren.