Die gesamte Führungsspitze der Europäischen Union reiste am Donnerstag nach Kiew, wo sie sich zwei Tage lang mit der ukrainischen Regierung traf. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die das Land bereits zum vierten Mal besuchte, wurde von Ratspräsident Charles Michel, dem Außenbeauftragten Josep Borrell sowie 15 Kommissaren begleitet, deren Funktion mit der eines Ministers vergleichbar ist.
Die Reise einer derart hochrangigen Delegation in ein Kriegsgebiet ist sehr ungewöhnlich und wirft ernsthafte Sicherheitsfragen auf. Dass sie dennoch stattfand, zeigt, mit welcher Entschlossenheit die EU die Fortsetzung des Kriegs in der Ukraine betreibt. Knapp ein Jahr nach Kriegsbeginn hat sie ihr gesamtes Prestige damit verbunden, Russland eine militärische Niederlage beizubringen, auch wenn dies das Leben von Hunderttausenden ukrainischen und russischen Soldaten kostet und in einen Atomkrieg zu münden droht.
Der Hauptzweck der Reise bestand darin, dem Selenskyj-Regime den Rücken zu stärken, das militärisch und innenpolitisch unter massivem Druck steht. „Wir sind zusammen hier, um zu zeigen, dass die EU so fest wie eh und je zur Ukraine steht“, schrieb von der Leyen auf Twitter.
Die Zahl der an der Front getöteten ukrainischen Soldaten beläuft sich mittlerweile je nach Quelle auf 100.000 bis 160.000 und wird angesichts der erwarteten russischen Offensive weiter ansteigen. Die Bereitschaft, in einem Krieg zu sterben, der vor allem den Interessen der Nato dient, sinkt offenbar. Das zeigt auch ein Gesetz, das Selenskyj gegen erheblichen öffentlichen Widerstand unterzeichnet hat. Es bestraft Desertion und Kritik an Vorgesetzten mit langen Freiheitsstrafen.
Der ungeklärte Tod von Innenminister Denys Monastyrskyj am 18. Januar und die Entlassung mehrerer hochrangiger Regierungsmitglieder wegen Korruption deuten darauf hin, dass innerhalb des Regimes heftige Machtkämpfe toben. Inzwischen haben die Behörden das Haus von Monastyrskyjs Vorgänger Arsen Awakow durchsucht. Ihm wird Korruption beim Kauf des als unsicher geltenden Hubschraubertyps vorgeworfen, mit dem Monastyrskyj abgestürzt ist.
Da die ukrainische Presse der strikten Zensur unterworfen ist und oppositionelle Medien und Parteien verboten sind, lässt sich Genaueres nicht feststellen.
Selenskyjs Regierung hängt seit langem am Tropf der EU. Allein in diesem Jahr sollen 18 Milliarden Euro Direkthilfen fließen, um die staatlichen Institutionen in Gang zu halten. Das entspricht etwa einem Zehntel des gesamten EU-Haushalts. Die militärische Unterstützung, die vorwiegend über die einzelnen Mitgliedsstaaten und die USA erfolgt, ist darin nicht eingerechnet.
Der Besuch der gesamten Kommission diente dazu, die Kampfmoral zu stärken. Während das Land in Trümmern und Armut versinkt, malten die versammelten Kommissare die Utopie einer blühenden Ukraine innerhalb der Europäischen Union an die Wand.
„Wir bereiten jetzt die Zukunft der Ukraine vor,“ verkündete Ursula von der Leyen. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal schwärmte, die Ukraine werde die Aufnahmebedingungen der EU „in zwei Jahren“ schaffen.
„Die Fachminister der ukrainischen Regierung hören von den Vorzügen einer guten makroökonomischen Planung, von den Chancen der Umstellung auf erneuerbare Energien, Schwerpunkt Wasserstoff,“ schilderte die Tagesschau das Treffen von Regierung und Kommission. Auch die Lieferung von 35 Millionen LED-Leuchten zur Erleichterung des Kriegsalltags sei versprochen worden.
„Wir bekräftigen, dass die Zukunft der Ukraine und ihrer Bürger in der Europäischen Union liegt“, heißt es in der gemeinsamen Erklärung des Gipfels. „Die EU wird der Ukraine beistehen, solange es notwendig ist.“
Alle Beteiligten wissen, dass dies Tagträume sind. Der Aufnahmeprozess in die EU, dem alle 27 Mitgliedstaaten zustimmen müssen, dauert Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Die Kandidaten müssen sich zu strikter Haushaltsdisziplin verpflichten und die Sozialausgaben entsprechend zusammenstreichen. Und selbst wenn sie die Aufnahme schaffen, bedeutet dies für die breite Masse der Bevölkerung keine Verbesserung. So verdienen die Arbeiter Rumäniens und Bulgariens auch nach 15 Jahren EU-Mitgliedschaft nur einen Bruchteil dessen, was ihre westeuropäischen Kollegen erhalten. Viele arbeiten unter sklavenähnlichen Bedingungen in europäischen Schlachthöfen, als Lastwagenfahrer und in ähnlichen Berufen.
Die EU hat kein Interesse an einer blühenden Ukraine. Ihr geht es auch nicht um Korruptionsbekämpfung und Demokratie. Sie will Zugang zu den billigen Arbeitskräften, den fruchtbaren Böden und den Rohstoffen des Landes, das neben Kohle und Gas auch über kritische Rohstoffe – Lithium, Kobalt, Titan, Beryllium und Seltene Erden – im geschätzten Wert von 6,7 Billionen Euro verfügt.
Vor allem dient ihr die Ukraine als Rammbock gegen Russland mit seinen gewaltigen Flächen und Rohstoffvorräten. Um Russland militärisch zu besiegen, aufzuspalten und mit Marionettenregierungen zu bestücken, lehnt die EU jede Verhandlungslösung ab, auch wenn die Ukraine dabei in ein Trümmerfeld verwandelt wird.
Das ist auch der Standpunkt Selenskyjs. „Jetzt ist offensichtlich, dass man den Traum von einem friedlichen Europa nur zusammen mit der Ukraine verwirklichen kann und nur, indem man Russland besiegt,“ sagte er während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit von der Leyen.
Während die EU das Selenskyj-Regime moralisch aufrüstet und mit Milliardensummen am Leben erhält, eskaliert die Nato, der die meisten EU-Mitglieder angehören, den Krieg, den sie faktisch längst selber führt, mit immer umfangreicheren Waffenlieferungen.
Seit Deutschland und die USA grünes Licht für die Lieferung modernster Kampfpanzer gegeben haben, häufen sich weitere Zusagen. Immer mehr Länder erklären sich bereit, Kampfpanzer abzugeben, so dass am Ende mehrere Hundert zusammenkommen dürften. Die deutsche Regierung hat am Freitag auch die Genehmigung für den Export von 29 älteren Modellen vom Typ Leopard I erteilt.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Gleichzeitig laufen die Vorbereitungen für die Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen, die tief auf russisches Gebiet vordringen und Atombomben tragen können. Während US-Präsident Joe Biden dies noch offiziell ablehnt, werden ukrainische Piloten bereits an der F-16 ausgebildet.
Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell geht davon aus, dass die F-16 demnächst geliefert wird. Die Lieferung von Panzern sei anfangs ebenfalls stark umstritten gewesen, sagte er vor dem Gipfel in Kiew. Schließlich habe man sich aber geeinigt, diese „rote Linie“ zu überschreiten. Warnungen vor Eskalationsrisiken habe es bislang bei allen Waffenlieferungen gegeben.
Borrell versprach in Kiew, die Zahl der ukrainischen Soldaten, die von der europäischen Ausbildungsmission (EUMAM) ausgebildet werden, von 15.000 auf 30.000 zu erhöhen. Die EU-Mission werde sich auch um die Ausbildung der Besatzungen der Leopard-2-Panzer kümmern, die Deutschland, Polen und andere Länder bereitstellen.
Kommissionspräsidentin von der Leyen, die früher deutsche Verteidigungsministerin war, versprach, die EU werde bis zum 24. Februar, dem Jahrestag der russischen Invasion, ein „zehntes Sanktionspaket“ gegen Russland fertigstellen. Die bislang verhängten Sanktionen hätten der russischen Wirtschaft bereits beträchtlichen Schaden zugefügt. Am Sonntag soll zudem ein Preisdeckel für russische Mineralölprodukte in Kraft treten.
Von der Leyen hatte vor drei Monaten auch angekündigt, sie wolle eingefrorene russische Vermögen beschlagnahmen und der Ukraine zur Verfügung stellen, was von mehreren EU-Vertretern unterstützt wird. Allein in der EU sind rund 300 Milliarden Euro Devisenreserven der russischen Zentralbank eingefroren worden.
Das Unternehmen stößt allerdings auf völkerrechtliche Schwierigkeiten. Wird das Prinzip der Staatenimmunität angetastet und der Eigentumsschutz infrage gestellt, so der Völkerrechtler Marc Bungenberg, könnten auch die USA wegen dem Irakkrieg belangt werden. „Dann könnten sich andere Länder ermuntert sehen, auf Vermögensbestände westlicher Unternehmen – und, soweit vorhanden, auch von Notenbanken – zuzugreifen.“
Das russische Regime von Wladmir Putin hat der Offensive der Nato und der EU nichts entgegenzusetzen, außer militärische Eskalation und großrussischen Chauvinismus. Die Vertreter der russischen Oligarchen, die das gesellschaftliche Eigentum der Sowjetunion plünderten, sind organisch unfähig, an die Kriegsopposition der internationalen Arbeiterklasse zu appellieren.
Aber das ist der einzige Weg, den Krieg und die Gefahr eines nuklearen Infernos zu stoppen. Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) und ihre Schwesterparteien in der Vierten Internationale bauen eine internationale Bewegung gegen Krieg auf, die sich auf die wachsende Opposition der Arbeiterklasse gegen Ausbeutung und Kapitalismus stützt und für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft kämpft.
Dieses Ziel steht im Mittelpunkt der Kundgebung gegen Krieg, die die SGP am Samstag, 4. Februar um 11 Uhr im Rahmen ihres Berliner Wahlkampfs auf dem Potsdamer Platz durchführt.