Am Sonntag entließ der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Chef des ukrainischen Geheimdiensts SBU Iwan Bakanow und die Generalstaatsanwältin Irina Wenediktowa. Er beschuldigte beide, zugelassen zu haben, dass Beamte ihrer Behörden massenhaft an „Kollaboration“ mit Russland beteiligt waren. Selenskyj legte außerdem offen, dass derzeit 651 strafrechtliche Ermittlungen gegen Beamte beider Behörden wegen des Verdachts auf „Landesverrat“ laufen.
Geheimdienstchef Iwan Bakanow, der seit seiner Kindheit mit Selenskyj befreundet ist, war dessen Berater und Vorsitzender seiner Partei Diener des Volkes. Als Grund für die Entlassung wurde „Nichterfüllung dienstlicher Pflichten“ genannt, die „zum Verlust von Menschenleben und anderen schwerwiegenden Folgen geführt hat oder die Gefahr solcher Folgen heraufbeschworen hat“.
Seit Beginn des Kriegs herrschen scharfe Spannungen zwischen Selenskyj und Bakanow. Selenskyj hat Bakanow und den SBU für einige der größten Niederlagen der ukrainischen Armee auf dem Schlachtfeld verantwortlich gemacht, darunter den Verlust von Cherson. Es gab auch mehrere öffentlichkeitswirksame Fälle, bei denen SBU-Beamte zu Russland übergelaufen sind, sowie Verhaftungen und Anklagen wegen Hochverrats gegen führende SBU-Beamte.
Bakanows bisheriger Stellvertreter, Wasili Maljuk (39), der Karriere in der SBU gemacht hat, wird ihn als amtierenden SBU-Leiter ablösen. Maljuk war an der Verhaftung von Oleg Kulinitsch, dem Leiter der SBU-Abteilung für die Krim und Assistenten von Bakanow, am 16. Juli beteiligt, der jetzt wegen Hochverrats angeklagt ist. Berichten zufolge fand die Verhaftung ohne Bakanows Beteiligung statt und wurde vom Büro des Präsidenten veranlasst, das laut einem Bericht von Politico vom Juni bereits seit einiger Zeit die täglichen Aktivitäten des SBU leitet.
Sowohl Wenediktowa als auch Bakanow wurden letztes Jahr in den Pandora Papers erwähnt und sind, wie fast alle ukrainischen Regierungsvertreter, in zahllose Korruptionsskandale verwickelt.
Der Geheimdienst SBU und die Staatsanwaltschaft sind von entscheidender Bedeutung bei den Kriegsanstrengungen der Ukraine und ihrer Unterdrückungskampagne im Inland.
In einem Land, das vor Kriegsbeginn nur 40 Millionen Einwohner hatte, arbeiten 27.000 Mitarbeiter für den SBU – fast so viele wie für das FBI und mehr als für jeden anderen Geheimdienst Europas. Der SBU ist verantwortlich für eine brutale Unterdrückungskampagne im Inland, in deren Rahmen nicht nur die größte Oppositionspartei verboten wurde, sondern auch Massenverhaftungen von Oppositionspolitikern erfolgten, Mitglieder der offiziellen ukrainischen Verhandlungsdelegation ermordet und Kriegsgegner gewaltsam verfolgt wurden.
Laut russischen Medienberichten ist der SBU auch der Knotenpunkt für die Waffenlieferungen im Wert von Milliarden Dollar, die von den Nato-Mächten für den Krieg in die Ukraine gepumpt werden. Wie die Financial Times letzte Woche berichtete, sind sowohl die EU- als auch die US-Behörden zunehmend beunruhigt darüber, dass viele dieser Waffen „verschwinden“, sobald sie die Grenze zur Ukraine überquert haben, und teilweise in den Händen organisierter Verbrecherbanden landen.
Die Staatsanwaltschaft war maßgeblich an der Verfolgung mutmaßlicher „Kollaborateure“ mit Russland beteiligt. Vor dem Krieg hatte Wenediktowas Behörde ein Verfahren wegen Landesverrats gegen den ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko aufgenommen, der nach dem vom Westen unterstützten Putsch 2014 in Kiew an die Macht kam. Poroschenko, der enge Beziehungen zu Vertretern des Westens und der extremen Rechten unterhält, hatte Selenskyj immer wieder „Schwäche“ gegenüber Russland vorgeworfen. Berichten zufolge wollte er Selenskyj kurz vor Kriegsbeginn ablösen. Wenediktowas Nachfolger, Oleksi Symonenko, ist ein ausgebildeter SBU-Offizier.
Die Entlassungen decken die schwere Krise der Selenskyj-Regierung und die heftigen Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse und des Staatsapparats auf. Der imperialistische Stellvertreterkrieg in der Ukraine dauert weniger als ein halbes Jahr, und die ukrainische Armee hat schwere Rückschläge und Verluste erlitten. In dieser Situation werden Vorwürfe des Hochverrats als Vorwand benutzt, um den Staatsapparat von Personen zu säubern, deren Unterstützung für den Krieg von der CIA angezweifelt wird. Zudem deutet die große Zahl von Staatsbeamten, gegen die jetzt ermittelt wird, darauf hin, wie groß der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen den von USA und Nato angezettelten Krieg ist, und dass sogar Sympathie für die Russen herrscht – was von den amerikanischen und europäischen Medien, die den Krieg unterstützen, völlig totgeschwiegen wird.
Die Washington Post wies im Juni darauf hin, dass sich „der Krieg in der Ukraine zu einem der blutigsten der modernen Geschichte entwickelt“, da er „viel mehr tote Soldaten pro Tag fordert als ein typischer Krieg“. Russland, das selbst Tausende von Soldaten verloren hat, behauptete im April, mehr als 23.000 ukrainische Soldaten getötet zu haben. Kiew leugnete diese Zahlen zwar, doch ukrainische Regierungsvertreter gaben im Juni zu, dass in der Ostukraine täglich bis zu 500 Mann im Kampf sterben und viele weitere verwundet werden.
Besonders Washington hat sich für Bakanows Entlassung stark gemacht und spielt eine wichtige Rolle bei der Umstrukturierung der beiden Behörden.
Die New York Times wies in ihrem Bericht über die Entlassungen darauf hin, dass „US-Regierungsvertreter erklärt haben, die Entscheidungen seien Ausdruck von Selenskyjs Bestrebungen, erfahrenere Führungskräfte in wichtige Positionen im Sicherheitsapparat einzusetzen. Die US-Geheimdienste haben den ukrainischen Partnern riesige Mengen an Informationen zur Verfügung gestellt.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Der Spiegel begrüßte Bakanows Entlassung offen als eine längst überfällige Entscheidung.
Die Nato-Mächte fordern schon lange umfassende Reformen des SBU, um das Land in die Nato einzugliedern. Bakanows Ernennung durch Selenskyj im Jahr 2019 hat sowohl bei der Nato als auch bei Selenskyjs innenpolitischen Gegnern viel Kritik hervorgerufen.
Die westlichen Medien und Denkfabriken weisen regelmäßig darauf hin, dass viele SBU-Mitarbeiter vom sowjetischen KGB ausgebildet wurden, und stellen einen Zusammenhang zwischen diesem Hintergrund und den vielen Überläufen auf die russische Seite seit Beginn des Kriegs her. Was die bürgerliche Presse jedoch höflich verschweigt, ist die Tatsache, dass der SBU von rechtsextremen Elementen und Bewunderern des Nazi-Kollaborateurs und ukrainischen Faschistenführers Stepan Bandera durchsetzt ist.
Mehr als wohl irgendeine andere Regierungsbehörde hat der SBU eine zentrale Rolle dabei gespielt, die Faschisten der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu rehabilitieren und zu propagieren. Diese Kampagne wurde von den imperialistischen Mächten unterstützt und wird zunehmend auf den Seiten der führenden bürgerlichen Medien im Westen verbreitet.
Als Nachfolger des ukrainischen KGB aus Sowjetzeiten kontrolliert der SBU wichtige historische Archive und beeinflusst die Geschichtsschreibung an Schulen und Universitäten. Wiktor Juschtschenko, der in Folge der von den USA unterstützten „Orangenen Revolution“ 2004–2005 an die Macht kam, ernannte Wolodymyr Wiatrowitsch zum Direktor des SBU-Archivs. Gleichzeitig war er jedoch auch Leiter einer Tarnorganisation der OUN-B, des Zentrums für das Studium der Befreiungsbewegung, und verherrlichte öffentlich die Nazi-Kollaborateure der OUN-B als Märtyrer und Helden.
Der ehemalige SBU-Chef Walentyn Nalywaitschenko, der auch eine wichtige Rolle bei dem vom Westen unterstützten Putsch von 2014 spielte, hat die Rolle der OUN bei Massakern an Juden und ihren Antisemitismus offen geleugnet und im Jahr 2015 erklärt, der SBU würde „auf den Traditionen der Organisation Ukrainischer Nationalisten und der UPA in den 1930er bis 1950er Jahren aufbauen“.
Als Selenskyj nach seinem Wahlsieg im Jahr 2019 seinen langjährigen Verbündeten Bakanow ernannte, war das vermutlich teilweise ein weitgehend erfolgloser Versuch, die rechtsextremen Elemente in Schach zu halten, da sich Selenskyj mit immensem Druck und Massenprotesten der ukrainischen extremen Rechten konfrontiert sah. Die vom Westen unterstützte Säuberung des SBU wird diese neofaschistischen Kräfte, die derzeit als die wichtigsten Stoßtruppen des Imperialismus im Krieg gegen Russland agieren, zweifellos weiter ermutigen.