Am Dienstag nahmen rund 4000 Lehrerinnen und Lehrer, sowie Sozialpädagogen und Schulpsychologen an einem Warnstreik der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) teil. Die Demonstration führte vom Bahnhof Friedrichstraße bis auf den Alexanderplatz vor das Rote Rathaus. Dort appellierten Sprecher der GEW an Finanzsenator Daniel Wesener (Grüne), Verhandlungen aufzunehmen und „die Klassengröße an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen verbindlich zu regeln“.
Aufgrund der weitverbreiteten Entrüstung, die unter Lehrkräften über die unhaltbaren Zustände an den Schulen und die viel zu großen Klassen herrscht, hatte sich die GEW in den letzten Monaten bereits acht Mal zu solchen und ähnlichen Protestaktionen gezwungen gesehen. Für den heutigen Mittwoch kündigte die Gewerkschaft weitere „dezentrale Aktionen“ an, darunter Podiumsdiskussionen mit den bildungspolitischen Sprechern der Parteien des Abgeordnetenhauses. Die GEW fordert bessere Arbeitsbedingungen, eine geringere Arbeitsbelastung und einen „Tarifvertrag Gesundheitsschutz“, um „Schritt für Schritt die Weichen für kleinere Klassen zu stellen“.
Die ungebremste Ausbreitung des Coronavirus, die allein in Deutschland nach wie vor jeden Tag über 100 Tote fordert, wird von der GEW jedoch mit keinem Wort erwähnt – obwohl die ungeschützte Zusammenführung von Kindern aus hunderten Haushalten in ungelüfteten Schulgebäuden nachweislich ein treibender Faktor der Pandemie ist.
Mitglieder der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) nahmen am Streikmarsch teil und warben unter Lehrerinnen und Lehrern dafür, unabhängige Aktionskomitees zu gründen, die der GEW das Verhandlungsmandat entziehen und sich mit streikenden Lehrkräften in anderen Ländern verbinden. Die SGP tritt mit einem sozialistischen Programm zu den Abgeordnetenhauswahlen an und ist die einzige Partei, die sich dem Kriegstreiben in der Ukraine entgegenstellt. Sie fordert unter anderem, das Bundeswehr-Sondervermögen von 100 Milliarden Euro in Bildung und Gesundheit zu investieren und kämpft dafür, die in diesen Tagen in Berlin stattfindenden Streiks von Lehrern, Post-Angestellten, Pflegekräften und Müllwerkern zusammenzuführen und international auszuweiten.
Im Gespräch mit der SGP äußerten Streikende weitergehende Forderungen, kritisierten die spaltende Rolle der GEW und verurteilten die Sparpolitik der rot-grün-roten Senatsparteien, mit denen die GEW eng verbunden ist.
„Das Studium bereitet Lehrer in keiner Weise auf den Berufsalltag vor“, sagt Peter, der seit 2014 als angestellter Lehrer an einem Berliner Gymnasium arbeitet und dort Latein und Englisch unterrichtet: „Mit dem Praxissemester ist das etwas besser geworden, aber man müsste von Anfang an viel aktiver in diesen Beruf hineingebracht werden, damit angehende Lehrer merken, ob sie überhaupt die Kraft dafür haben. Wenn mehr Leute in den Beruf hineinschnuppern würden, wäre die Quote insgesamt höher, selbst wenn viele abbrechen. Aber das lange unbezahlte Vollzeitstudium schreckt viele ab. Wer keine reichen Eltern hat, hat schlechte Karten das Studium zu schaffen, weil es unmöglich ist, währenddessen noch zu arbeiten.“
Auf den provokanten Vorstoß der Kultusministerkonferenz (KMK), den Lehrkräftemangel durch eine noch größere Arbeitsbelastung der Lehrer zu „beheben“, entgegnet Peter: „Viele Lehrer sind in Teilzeit, weil es nicht anders geht. Sie können es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, in ‚Vollzeit‘ zu arbeiten, weil man dann den Schülern gar nicht mehr gerecht werden kann. Es würde dazu führen, dass der Unterricht noch schlechter wird. Wir wollen, dass die Klassen kleiner sind und wir uns mehr um die einzelnen Schüler kümmern können. Wenn man die Stundenpläne reduzieren würde, könnten wir auch in ‚Vollzeit‘ arbeiten. Aber es kann nicht normal sein, dass jeder zweite sagt: Ich schaffe den Beruf nicht, wenn ich meine Stunden nicht reduziere.“
„Ich habe in der Pandemie die Erfahrung gemacht, dass die meisten Schüler eine wirklich dichte Betreuung brauchen“, fährt Peter fort. „Aufgaben hochzuladen und abzufordern, genügt nicht und stellt selbst die sehr guten Schüler vor Probleme.“ Über die deutschen Panzerlieferungen an das ukrainische Militär und die Aufrüstung der Bundeswehr sagt Peter: „Was soll daran positiv sein? Niemand will Krieg. Ich bin überzeugt davon, dass die Waffenlieferungen den Krieg weiter eskalieren.“
Marianna (59) arbeitet an einer Europa-Schule und fordert einen Nachteilsausgleich für alle Lehrer, die aufgrund ihres Alters nicht verbeamtet werden. „Obwohl ich noch bis 2030 arbeiten muss, werde ich als über-50-Jährige nicht verbeamtet. Einen Nachteilsausgleich von 300 Euro erhält man nur, wenn man in Vollzeit arbeitet, was aber fast niemand schafft. An unserer Europa-Schule sind die Unterrichtseinheiten auf 40 min herabgesetzt – dafür umfasst eine Vollzeitstelle aber 32 Unterrichtseinheiten pro Woche. Das macht niemand.“ Sollte sich an der Situation nichts ändern, werde sie anstelle von einer 70-prozentigen Pension für Beamten lediglich Rente in Höhe von 40 Prozent ihres letzten Nettogehalts erhalten, berichtet Marianna. „Viele meiner Kollegen kommen nicht aus Europa, sondern aus Südamerika – Chile, Paraguay, Uruguay und Argentinien – sie können nicht verbeamtet werden, egal wie alt sie sind.“
Eine Lehrerin, die anonym bleiben möchte, berichtet von ihrem Versuch, verbeamtete und angestellte Lehrer miteinander „zu vernetzen“, um die Ungleichbehandlung und die „Zweiklassengesellschaft im Lehrerzimmer“ zu beenden. Als sie in dieser Absicht gemeinsam mit anderen Kolleginnen an ihren zuständigen GEW-Vertreter herangetreten sei, habe dieser abweisend reagiert und „mit Ausflüchten versucht, uns hinzuhalten“, erzählt sie.
Anne unterrichtet mehrere Willkommensklassen mit Kindern unterschiedlichster Herkunft. „Man muss Kindern den nötigen Raum geben, damit sie sich selbst erfahren können. Dazu müssen die Stundenkontingente und die Klassengrößen reduziert werden. In vielen Klassen wären eigentlich zwei Lehrer nötig. Es gibt auch zu wenige Praxisräume an den Schulen, um das Gelernte anzuwenden. Die Lehrpläne werden zudem seit Jahrzehnten nicht verändert.“ Anne hat zuvor für mehrere Jahre in der Erwachsenenbildung gearbeitet und erzählt, dass die Familien vieler Kinder vor Krieg und Armut geflohen sind – „aus der Ukraine, aus Syrien, aus Ghana…“.
Auf ihren „Free Assange“-Anstecker angesprochen, kritisiert Anne die Kriegspolitik der Nato-Länder und sagt: „Ich bin für die Freilassung von Julian Assange. Er wird gefangen gehalten, weil er Geheimdokumente über Korruption und Kriegsverbrechen veröffentlicht hat. Politiker sollten am Wohl Aller interessiert sein, aber stattdessen verfolgen sie die Machtinteressen von wenigen. Das muss sich ändern. In der Ukraine und überall auf der Welt müssen Verhandlungen das erste Mittel der Wahl sein. Von dem Geld für die Aufrüstung der Bundeswehr könnte man so viele andere Dinge finanzieren. Wer Waffen produziert, der benutzt sie auch irgendwann. Und dann gibt es noch mehr Tote und noch mehr Elend.“
Auf die Politik des Berliner Senats reagieren mehrere Lehrer wütend. „Diese falsche Politik geht schon seit etlichen Jahren“, sagt eine Lehrerin. „Deshalb haben wir diese großen Probleme im Bildungsbereich.“ Eine andere fügt hinzu, sie sei von den Senatsparteien „total enttäuscht“ und fühle sich „wirklich verarscht“. Martina B., die seit 11 Jahren im Staatsdienst ist und an einer Neuköllner Grundschule arbeitet, sagt: „Ich fühle mich wie im falschen Film! Ich hätte nie gedacht, dass wir heute wieder über Panzerlieferungen diskutieren.“
Michaela ist Quereinsteigerin aus einem Theater und arbeitet neben ihrem Lehramtsstudium bereits an einer Grundschule im JüL-Bereich (Jahrgangübergreifendes Lernen). „Es geht vorgeblich darum, dass sich Kinder verschiedenen Alters gegenseitig helfen“, erklärt sie. „Das funktioniert aber nur, wenn man kleinere Klassen hat, in denen man auf alle Kinder eingehen kann. Für die Lehrkräfte stellt es eine wahnsinnige Herausforderung dar – eine schöne Idee, die aber in ihrer jetzigen Form viele Kinder auf der Strecke lässt.“
„Anstelle von 28 Kindern sollten es höchstens 22 sein. Je weniger desto besser, jeder einzelne Platz wäre toll. Am besten war es mit geteilten Klassen während der Corona-Zeit. Lehrer arbeiten oft bis in den Abend hinein, aber das ist vielen nicht bewusst. Es ist realitätsfremd und ein immenser Aufwand, als Quereinsteigerin die Ausbildung nachzuholen. Schon in meinem Studium, das ich nebenbei machen muss, sind Leute dabei, die Burnout-Symptome zeigen. Wer selbst noch Kinder hat und das Studium nachholen muss, schafft diese Belastung einfach nicht.“
„Es ist die ganzen letzten Jahrzehnte schon so viel Geld in die Rüstung geflossen, ich frage mich, was damit finanziert wurde. Ich glaube, die Bildung braucht viel mehr Unterstützung und viel mehr Gelder. Es müssen Räume geschaffen werden, mehr Kräfte eingestellt werden – darunter auch pädagogische Assistenzen, Nachmittagsbeschulung und so weiter. Von den 100 Milliarden Euro könnte man auch Wohnraum schaffen und Flächen für Jugendliche.“
„Ich bin ehrlich gesagt keine Freundin der GEW. Ich war dort nur wenige Monate und bin wieder ausgestiegen: Genau aus dem Grund, dass sie nicht konsequent sind und es doch darum gehen müsste, zusammen mit anderen zu kämpfen und gemeinsam Dinge auf die Beine zu stellen. Es kann nicht jede Berufsgruppe für sich allein vor sich hin strampeln. Ein GEW-Redner hat kürzlich gesagt: ‚Wir wollen größere Brötchen backen.‘ Aber mir persönlich geht es überhaupt nicht um mehr Geld, sondern auf verschiedenen Gebieten gesellschaftlich etwas zu verändern. Dass die jetzigen Streiks so dezentralisiert sind, finde ich deshalb mehr als merkwürdig.“