Die soziale Schere klafft immer weiter auseinander. Seit Jahresbeginn steigen die Aktienkurse, während tausende Arbeitsplätze abgebaut werden und die Reallöhne sinken. Im öffentlichen Dienst wird das Personal doppelt und dreifach belastet, weil das Geld in die Aufrüstung fließt. Je mehr die Politik auf Kriegswirtschaft umschwenkt, desto stärker lastet der Druck auf der Arbeiterklasse.
Die Bereitschaft zum Widerstand wächst, wie die jüngsten Flughafenstreiks in Berlin und Düsseldorf zeigen. Immer häufiger kommt es zu Warnstreiks, Protestaktionen und auch zu unbefristeten Streiks.
Im schwäbischen Göppingen sind 230 Metallarbeiter schon die ganze Woche im Streik. Seit dem Sonntagabend, 22. Januar, bestreiken sie zwei Werke, die zur Kern-Liebers-Gruppe gehören, die Saxonia Umformtechnik und die Saxonia Textile Parts. In beiden Betrieben werden Metallteile hergestellt: in dem einen für die Automobilindustrie, in dem andern für Strickmaschinen und Textilbetriebe.
„Die Beteiligung am Arbeitskampf ist überwältigend“, schreibt die lokale Presse. Dem Streik hatten in einer Urabstimmung kurz zuvor 96 Prozent zugestimmt. Die Belegschaft fährt seit Jahren Überstunden, aber der Saxonia-Vorstand weigert sich, die Tariflöhne zu zahlen. Dieselbe Situation könnte sich auch bei anderen Betrieben der Kern-Liebers-Gruppe ergeben, wo die Betriebsleitungen ebenfalls über „Lieferkettenprobleme, den Ukrainekrieg und die Energiekrise“ klagen.
Das Topmanagement der deutschen Unternehmen warnt vor „dem Verlust deutscher Standortvorteile“, wie es in einem Schreiben der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) heißt. In einem Interview mit der Welt am Sonntag sagte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger, er rechne damit, dass die Zahl der Erwerbstätigen bis 2030 um fünf Millionen schrumpfen werde. Da der Staat dann weniger Steuer- und Beitragseinnahmen habe, müsse er „die Sozialsysteme anpassen“ (und zum Beispiel das Rentenalter hochsetzen). Dulger behauptete: „Wir werden den Wohlstand, an den wir uns in Deutschland gewöhnt haben, nicht halten können.“
Wenn er „wir“ sagt, spricht der Multimillionär und Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), nicht von sich und seinesgleichen, geschweige denn über höhere Steuersätze für Vorstände und Aktionäre von Konzernen wie Porsche, Daimler, Siemens und Rheinmetall. Für sie läuft es gerade richtig gut. Schon seit Jahresbeginn steigen die Aktienkurse an der Frankfurter Börse.
Der Deutsche Aktienindex DAX, der die Kurse der 40 stärksten deutschen Konzerne widergibt, hat allein in den ersten beiden Handelswochen fast neun Prozent zugelegt. Einer Analyse der Sparkassentochter Deka zufolge rechnen die DAX-Unternehmen im Frühjahr 2023 mit rekordverdächtigen Dividenden. Eine Gesamtsumme der Ausschüttungen von fast 55 Milliarden Euro wird erwartet. Mehr als ein Drittel davon entfällt auf die Autokonzerne Mercedes, Porsche, BMW, Audi und VW, die im letzten Jahr Rekordgewinne erzielt haben.
Von der Arbeiterklasse fordern dieselben Konzerne Zugeständnisse wegen der „schwierigen Lage“. Um dies durchzusetzen, verlassen sie sich auf die Zusammenarbeit mit den DGB-Gewerkschaften: IG Metall, Verdi und Co. haben sich schon in der Corona-Pandemie und davor als wichtige Pfeiler deutschen Unternehmensinteressen erwiesen.
Kurz nach Beginn des Ukrainekriegs schlossen sich die Gewerkschaften in der „Konzertierten Aktion“ mit Regierung und Unternehmern zusammen. Ihr Ziel besteht darin, die horrenden Kosten der militärischen Aufrüstung und die Folgen der Sanktionen gegen Russland auf die arbeitende Bevölkerung abzuwälzen und gleichzeitig den Widerstand dagegen aufzufangen. Seither wird „umstrukturiert“, was mit immer neuen Entlassungen und den größten Lohneinbußen seit den 1930er Jahren verbunden ist.
Vor wenigen Tagen haben die Ford-Werke Massenentlassungen in Köln-Merkenich und Aachen angekündigt. Bei Ford-Saarlouis ist die Schließung bis 2025 beschlossene Sache. Zuvor hatte sich der Ford-Betriebsrat insgeheim bereiterklärt, die Löhne in allen Werken um 18 Prozent zu senken. Andere Autowerke, wie Volvo in Gent (Belgien) und Stellantis im Werk Atessa (Italien), setzen diese Woche ihre Belegschaften mit Kurzarbeit weiter unter Druck.
Von der Transformation in der Autoindustrie sind besonders die Zulieferer betroffen. „Die Zulieferindustrie stirbt einen langsamen Tod“, schreibt der Spiegel über kleine und mittelständische Unternehmen. Die Autoren weisen auf die Lage vieler kleiner Gießereien und Stahlproduzenten hin, die von Koks, Kohle oder Gas abhängig sind. Die Energiekrise hat sie stark in Mittleidenschaft gezogen.
Ein Beispiel dafür ist die Eisengießerei Vulcast in der Eifel, die seit über 330 Jahren existiert. Sie hat trotz gut gefüllter Auftragsbücher Insolvenz angemeldet und im Januar 119 Mitarbeiter entlassen. Als Ursache werden die enorm gestiegenen Strom- und Rohstoffpreise angegeben.
Die größeren Autozulieferkonzerne – Conti, Hella, ZF, Bosch und Mahle – bauen seit Jahren in enger Zusammenarbeit mit der IG Metall Arbeitsplätze ab. Bei Bosch sind auch jetzt wieder Tausende Stellen in Gefahr. Mit der Begründung, die Produktion werde auf E-Mobilität umgestellt, hat Bosch einen weiteren drastischen Stellenabbau in Werken angekündigt, die Bauteile und Komponenten für Verbrennermotoren herstellen. Bei Mahle werden ganze Betriebe stillgelegt. Mahle in Gailsdorf (300 Beschäftigte) soll bis Ende 2023 schließen. Bereits Ende vergangenen Jahres wurde das Mahle-Filterwerk in Öhringen (170 Beschäftigte) stillgelegt.
Fast jeden Tag ist ein neuer Autozulieferbetrieb betroffen. Hier eine kurze Liste von Meldungen, die in den letzten Tagen eintrafen:
- Der Autozulieferer GKN Driveline schließt sein Werk in Zwickau mit bisher noch 800 Beschäftigten. Die Produktion von Gelenkwellen und anderen Teilen für VW, Audi, BMW und Mercedes wird nach Osteuropa verlagert.
- Der kanadisch-österreichische Autozulieferer Magna will insgesamt drei Werke schließen, davon zwei in Baden-Württemberg (Bopfingen mit 170 und Dürbheim/Tuttlingen mit 110 Beschäftigten). Ein drittes Magna-Werk im bayrischen Bad Windsheim soll ebenfalls geschlossen werden.
- In Radolfzell am Bodensee wird der Autoteilehersteller BCS mit über 600 Mitarbeitern bis Ende 2024 geschlossen.
- Ditter Plastic in Haslach im Schwarzwald (Baden-Württemberg) hat Insolvenz angemeldet. Der Betrieb für Präzisionsentwicklung von technischen Kunststoffteilen für die Autoindustrie hat noch 400 Beschäftigte.
- Der Mechatronik-Hersteller Marquardt baut in Baden-Württemberg 87 Stellen ab. Auch hier wird ein Teil der Produktion in Osteuropa weitergeführt.
Auch andere Branchen sind von Massenentlassungen betroffen. Dazu zählt beispielsweise Galeria Karstadt Kaufhof, das dem Multimillionär und Spekulanten René Benko gehört. Von den 131 noch bestehenden Filialen werden zwei Drittel geschlossen oder massiv verkleinert. Mehrere tausend Arbeitsplätze sind akut bedroht. In der Schweiz hat am 3. Januar die Reformhauskette Müller alle 37 Filialen in 17 Städten geschlossen. Fast 300 Verkäuferinnen haben ihren Arbeitsplatz verloren.
Fast endlos ist die Liste der Massenentlassungen und Schließungen. So soll auch die Großdruckerei Prinovis in Ahrensburg (Schleswig-Holstein), die zu Bertelsmann (ursprünglich zum Springer-Verlag) gehört, ihren Betrieb Ende Januar einstellen. 545 Beschäftigte sind betroffen. In der Technologiebranche folgt auf Google mit 12.000 Entlassungen jetzt auch SAP mit 3000 Stellenstreichungen, davon 200 in Deutschland.
Schon zum Ende letzten Jahres ist die Zahl der Firmenpleiten angestiegen, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Die Insolvenzen stiegen im November um 1,2 Prozent und im Dezember um 3,1 Prozent im Vergleich zum jeweiligen Vormonat. Im Jahresvergleich wurden 2022 fast 18 Prozent mehr Insolvenzen gemeldet als im Vorjahr. Siemens-Aufsichtsratschef Joe Kaeser kommentierte dies mit der Warnung: „Wenn die breite industrielle Basis bröckelt, gefährdet das den Wohlstand und den sozialen Frieden in Deutschland.“
Die Topmanager fürchten, dass sich in den Betrieben Widerstand regt. Es brodelt seit langem, denn auch die Löhne bleiben weit hinter der Teuerung zurück. Laut Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung sind die Tariflöhne im Schnitt zuletzt zwar um 2,7 Prozent gestiegen, aber angesichts der anhaltenden Inflation habe dies zu einem durchschnittlichen Reallohnverlust von 4,7 Prozent geführt.
Immer mehr Arbeiter sind nicht mehr bereit, dies hinzunehmen. Kommt es zu Urabstimmungen, stimmen überwältigende Mehrheiten für Streik, wie das eingangs erwähnte Beispiel Saxonia zeigt. Nur mit Mühe gelingt es den DGB-Gewerkschaften, die Kämpfe voneinander zu isolieren und unter Kontrolle zu halten.
Im Luftverkehr folgte auf den ganztägigen Streik vom Mittwoch am Berliner Flughafen BER am gestrigen Freitag ein weiterer Streik von 700 Gepäckabfertigern am Flughafen Düsseldorf. Sie wehren sich gegen Massenentlassungen, die mit der Übernahme durch neue Dienstleister, darunter die berüchtigte WISAG Aviation, einhergehen. Gleichzeitig streiken Fluglotsen auf Fuerteventura, Piloten in Portugal und Flugbegleiter von Ryanair im belgischen Charleroi.
Bei dem Windanlagenbauer Vestas sind bundesweit die Techniker im Arbeitskampf. Sie kämpfen schon seit November mit immer neuen Aktionen für eine bessere Lohnregelung, die auch regelmäßige Tarifsteigerungen, Sonderzahlungen und Altersteilzeit umfassen soll.
Im Energiesektor setzten diese Woche auch die französischen Raffineriearbeiter ihre Streiks gegen die Renten-„Reform“ der Macron-Regierung fort. Am Donnerstag haben sich französische Hafenarbeiter dem Streik angeschlossen. Seit einer Woche streiken bereits die Hafenarbeiter von Mulhouse im Elsass, einem wichtigen Knotenpunkt im Dreiländereck Frankreich–Deutschland–Schweiz.
Überall – an den Flughäfen, beim Pflegepersonal, bei der Bahn, bei der Post, bei der Berliner Stadtreinigung und nun auch im gesamten öffentlichen Dienst – stehen Arbeitskämpfe an. Dabei geht es nicht nur um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, sondern auch um die immer bedrohlichere Kriegsgefahr.
„Wir kämpfen nicht nur gegen den Krieg, sondern auch dagegen, dass die Arbeiter die Zeche dafür bezahlen müssen“, erklärte Endrik Bastian, Krankenpfleger und Kandidat der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) zur Berliner Abgeordnetenhauswahl, in einem Video. Zur Katastrophe im Gesundheitswesen sagte Bastian: „Allein in Deutschland fehlen 200.000 Pflegekräfte – 200.000! Und von denen, die da sind, fehlen weitere zehn Prozent wegen Krankheit und Überlastung … Um den Krieg und die Aufrüstung zu finanzieren, wird massenhaft gestrichen – im Gesundheitswesen, und auch im Bildungswesen.“
Auch in der Pflege nehmen die Arbeitskämpfe wieder zu. An der Uniklinik Göttingen sind am Mittwoch rund 200 Reinigungskräfte für drei Tage in den Streik getreten, weil das Service- und Reinigungspersonal der UMG (Unimedizin Göttingen) deutlich schlechter behandelt und bezahlt wird als im Tarifvertrag der Länder (TV-L) vorgesehen. In den österreichischen Privatkliniken droht ein Lohnstreik für rund 10.000 Beschäftigte.
Alle diese Kämpfe benötigen eine Perspektive! Sie dürfen nicht länger der Kontrolle der Gewerkschaften überlassen werden, die sich der „Sozialpartnerschaft“ – sprich: den Wirtschafts- und Kriegsinteressen – unterordnen. Die DGB-Gewerkschaften arbeiten eng mit der Ampel-Koalition und dem Topmanagement der DAX-Konzerne zusammen.
Davon leben sie sehr gut, wie das Beispiel der VW-Betriebsratsfürsten zeigt. Ein Strafprozess in Braunschweig brachte die üppigen Gehälter und Boni ans Licht, die Ex-Betriebsratschef Bernd Osterloh kassierte, der in manchen Jahren auf mehr als 700.000 Euro kam. Die jetzige Konzernbetriebsratschefin Daniela Cavallo kassiert nach eigenen Angaben rund 100.000 Euro jährlich als Fixgehalt, zu dem noch Boni in fünfstelliger Höhe hinzukommen.
Kein Wunder, dass die hochrangigen Gewerkschaftsfunktionäre und Betriebsräte auch die Boni- und Dividendenzahlungen an Manager und Aktionäre verteidigen. Wie die DGB-Chefin Yasmin Fahimi Ende Dezember sagte: „Das sind die normalen Mechanismen der Marktwirtschaft. Es mag ja sein, dass die einem nicht gefallen. Aber jetzt ist nicht die Zeit für kapitalismuskritische Grundsatzdebatten.“
Die DGB-Gewerkschaften tun alles, um eine effektive breite Streikbewegung zu verhindern. Ihre Warnstreiks dienen vor allem dazu, wie in einem Ventilsystem Druck abzubauen und die Wut unter Kontrolle zu halten – um am Ende, wie schon so oft, die Beschäftigten mit einem Almosen abzuspeisen.
Die Verteidigung von Löhnen, Arbeitsplätzen und –Bedingungen ist eine Klassenfrage. Die Beschäftigten der Industrie, der Logistik, von Bahn und Post und im öffentlichen Dienst müssen sich bundesweit und international zusammenschließen. Sie müssen sich von den Gewerkschaften emanzipieren und unabhängige Aktionskomitees in allen Betrieben aufbauen. Notwendig ist ein sozialistisches Programm, das die Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung über die Profitinteressen stellt und die Aufrüstung und Kriegspolitik beendet.