Grausam und verfassungswidrig: Oberstes US-Gericht hält an Abschieberegelung fest

Am 27. Dezember hat der Oberste Gerichtshof der USA beschlossen, eine umstrittene Abschieberegelung weiterhin aufrecht zu erhalten. Die als Titel 42 bekannte Bundesregelung aus der Trump-Ära schließt die meisten Migranten von dem Recht aus, an der Grenze zu Mexiko einen Asylantrag zu stellen.

Die Anordnung verbindet Grausamkeit gegenüber Hunderttausenden, die an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten Zuflucht suchen, mit der Entscheidung, faschistoiden Gouverneuren von republikanisch regierten Bundesstaaten grünes Licht zu erteilen, wenn sie die Bundeshoheit über die Einwanderungspolitik an sich reißen.

Dies ist nicht nur ein offener Akt der Barbarei – auf der Grundlage von Titel 42 wurden seit 2020 mehr als 2 Millionen Migranten abgeschoben – sondern auch ein weiterer Ausdruck der politischen Krise in den Vereinigten Staaten. Immer wieder brechen die Konflikte innerhalb der herrschenden Elite offen aus, sei es auf der Straße, wie am 6. Januar 2021, oder in der Entscheidung von Regierungen der Bundesstaaten, sich über die US-Verfassung hinwegzusetzen und in eigenem Machtbestreben die Arbeitsmigranten zu unterdrücken und zu verfolgen.

Im März 2020 aktivierte der damalige Präsident Donald Trump die als „Titel 42“ bekannte Bestimmung aus dem 80 Jahre alten Public Health Act. Dies geschah auf Drängen seines faschistischen Beraters Stephen Miller, der im Weißen Haus für die Einwanderungspolitik zuständig war. Miller ergriff die Gelegenheit der Corona-Pandemie, nicht etwa um das amerikanische Volk vor einem tödlichen Virus zu schützen, sondern um sie als Vorwand für ein weiteres hartes Vorgehen gegen Einwanderer an der Südgrenze zu nutzen.

Gemäß Titel 42 können Gesundheitsbeamte der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) Migranten an der Einreise in die Vereinigten Staaten hindern, wenn der Verdacht besteht, dass sie an einer ansteckenden Krankheit leiden. Diese Bestimmung wurde zuvor niemals auf alle Einwanderer, unabhängig vom Herkunftsland, pauschal angewandt. Und vor der Trump-Regierung war sie noch nie als Waffe genutzt worden, um eine restriktive Einwanderungspolitik weiter zu verschärfen.

Wie in anderen wichtigen Politikbereichen setzte die Biden-Administration auch im Krieg gegen Immigranten die von Trump begonnene Politik zunächst fort. Sie missbrauchte Titel 42, um Migranten, die einen Asylantrag stellen wollten, an der Grenze abzuweisen. So geht der US-Grenzschutz auch unter den angeblich sozialer eingestellten Demokraten seit zwei Jahren mit gleicher Brutalität wie Trump gegen Einwanderer vor. Und Grenzschutz und Einwanderungs- und Zollbehörde (ICE) setzen die gleichen Waffen wie bisher ein.

Einwanderer werden in einem amerikanischen Abschiebelager in einem Käfig festgehalten [Photo: Department of Homeland Security]

An der südlichen Grenze haben die US-Behörden in den letzten zwei Jahren mehr als 2,4 Millionen Einwanderer aufgegriffen und festgesetzt. Der massive Ansturm ist auf die verschärfte Krise des Weltkapitalismus zurückzuführen und nicht etwa darauf, dass die Menschen unter der US-Regierung Biden besser als unter Trump aufgenommen würden.

Die wichtigsten Triebkräfte sind die Verschärfung von Armut und Unterdrückung in Mittelamerika und Haiti, die seit über hundert Jahren vom US-Imperialismus unterdrückt und ausgebeutet werden. Ein zusätzlicher Faktor war im gerade vergangenen Jahr der enorme Zustrom von Flüchtlingen aus Venezuela und zuletzt auch aus Nicaragua. Beide Länder leiden unter den Auswirkungen von US-Wirtschaftssanktionen. Beide haben im Übrigen keine Rückführungsabkommen mit Washington abgeschlossen, was eine rechtliche Voraussetzung für die Anwendung von Titel 42 gegen Asylbewerber wäre.

Die gleichen Faktoren wirken sich auch in Europa aus. Hier suchen Geflüchtete aus Afrika und dem Nahen Osten Zuflucht vor imperialistischen Kriegen und dem daraus resultierenden Zusammenbruch ganzer Gesellschaften. Millionen von Menschen aus Afghanistan, dem Irak, Syrien, Libyen und anderen Ländern sind auf der Flucht, weil sie Opfer amerikanischer Bomben und Raketen, US-Soldaten oder deren Stellvertreter wurden, oder sie fliehen vor den Auswirkungen des britischen und französischen Imperialismus.

In den Vereinigten Staaten nutzen republikanische Gouverneure die Grenzkrise aus und schüren Angst und Hass gegen Einwanderer, um die Republikanische Partei weiter in Richtung Faschismus zu drängen. Sie beuten die Krise aus, um die Regierung Biden weiter zu untergraben und die Autorität ihrer Bundesstaaten auf eine Weise zu behaupten, die in eklatantem Widerspruch zur US-Verfassung steht. Laut der Verfassung sind die Grenzpolitik und ihre Durchsetzung der Bundesregierung vorbehalten.

Titel 42 stellt die Regierung Biden vor ein rechtliches Problem. Die Maßnahme, die als Waffe gegen die Einwanderer dient und die Abschiebungen mit der öffentlichen Gesundheit rechtfertigt, durchkreuzt die umfassenden Bemühungen, sämtliche Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 einzustellen. Schließlich hat die Regierung, um die Profite der Konzerne ungeachtet der Folgen für die arbeitende Bevölkerung ungehindert sprudeln zu lassen, die Pandemie gerade für beendet erklärt.

Schon im letzten Frühjahr hat das CDC erklärt, dass Covid-19 keine so große Gefahr mehr darstelle, dass Maßnahmen nach Titel 42 gerechtfertigt wären. Die Regierung Biden bereitete den Übergang zu anderen Methoden der Einwanderungsbeschränkung vor. Aber die Generalstaatsanwälte der Republikaner haben Klage gegen das Ministerium für Heimatschutz eingereicht, welches die Einwanderungspolitik kontrolliert, und eine einstweilige gerichtliche Verfügung erwirkt, um die Aufhebung von Titel 42 zu verhindern.

Eine separate Klage von Migrantenfamilien, die unter den Repressionen nach Titel 42 leiden, hat dazu geführt, dass ein anderes Gericht eine einstweilige Verfügung und den Termin für die Aufhebung von Titel 42 auf den 21. Dezember 2022 festlegte. Dagegen haben mehrere Regierungen von republikanischen Bundesstaaten interveniert.

Die Anwälte der Migranten haben auf die zynische Heuchelei der republikanisch regierten Staaten hingewiesen: Zwölf der 19 Staaten, die behaupten, die Pandemie erfordere weiterhin die Abschiebung von Migranten, haben gegen die Bundesregierung Klage erhoben, um alle Beschränkungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit aufzuheben. Dort lautete ihre Begründung, die Pandemie sei vorbei.

Die widersprüchlichen Gerichtsurteile haben dem Obersten Gericht nun die Gelegenheit verschafft, mit einer offenkundig parteiischen und verfassungsfeindlichen Maßnahme einzugreifen, und es hat sich auf die Seite der republikanischen Gouverneure gegen die Biden-Regierung geschlagen. Das Gericht hat für Ende Februar oder Anfang März eine Anhörung anberaumt, um die Frage zu klären, ob die Staaten das Recht haben, die Bundesregierung in dieser Angelegenheit zu verklagen. Damit verzögert sich die Aufhebung von Titel 42 bis zu einer weiteren Entscheidung des Obersten Gerichts, die erst Ende Juni ergehen könnte.

In der Zwischenzeit hat der texanische Gouverneur Greg Abbott die Zuständigkeit für die Einwanderungspolitik an sich gerissen. Er hat die texanische Nationalgarde eingesetzt, um entlang der mexikanischen Grenze in der Gegend von El Paso, dem aktuellen Einreiseschwerpunkt der Migranten, einen Stacheldrahtzaun zu errichten. Die Soldaten nehmen Einwanderer fest, die versuchen, die Grenze zu überqueren, trennen Männer von Frauen und Kindern und schicken die Männer quer durch den Staat, um sie vor Gericht zu stellen. Sie werden der unerlaubten Übertretung einer Grenze angeklagt, verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Sobald sie ihre Strafe verbüßt haben, werden sie dem ICE zur Abschiebung überstellt. All dies erfolgt illegal, in eklatantem Widerspruch zur Verfassung, auf grausame und herzlose Weise.

Präsident Biden könnte diese Gesetzlosigkeit an der Grenze im Handumdrehen beenden. Er könnte die texanische Nationalgarde einfach der Bundesregierung unterstellen – ein Verfahren, das während der Kriege in Afghanistan und im Irak regelmäßig angewandt wurde und das mehrere Regierungen, Republikaner wie Demokraten, in den 1950er und 1960er Jahren einsetzten, um gegen den Widerstand rassistischer Südstaaten-Gouverneure die Rassenintegration durchzusetzen. Biden tut dies nicht, zum einen, weil er und Abbott in der grundsätzlichen Politik, die Grenze zwischen den USA und Mexiko dicht zu machen, und der Blockade von Einwanderern übereinstimmen, und zum anderen, weil es zweifelhaft ist, ob die texanische Nationalgarde einen solchen Befehl überhaupt befolgen würde.

Auf das jüngste Urteil des Obersten Gerichts hat das Weiße Haus mit einer kurzen und kleinlauten Erklärung reagiert. Darin heißt es, die Regierung werde sich daran halten, bereite sich jedoch gleichzeitig darauf vor, „die Grenze auf sichere, geordnete und humane Weise zu verwalten, wenn Titel 42 schließlich aufgehoben wird ...“

Der Präsident, der sich auf den Jungferninseln im Urlaub befindet, sagte zu den Reportern: „Das Gericht wird anscheinend nicht vor Juni entscheiden, und in der Zwischenzeit müssen wir das durchsetzen.“

Die reaktionären Richter am Obersten Gerichtshof, die ihre Entscheidung mit einer 5:4-Mehrheit getroffen hatten, gaben ihr Urteil kommentarlos bekannt. Jedoch verfasste der rechte Richter Neil Gorsuch eine abweichende Minderheitsmeinung, der die liberale Richterin Ketanji Brown Jackson beipflichtete. Darin wird darauf hingewiesen, dass die Mehrheit nicht auf eine echte Notlage der öffentlichen Gesundheit reagiert habe.

„Die aktuelle Grenzkrise ist keine Corona-Krise“, schrieb Gorsuch. „Und Gerichte sollten sich nicht damit befassen, Verwaltungserlasse aufrechtzuerhalten, die nur für einen Notfall gedacht sind, weil gewählte Beamte es versäumt haben, einen anderen Notfall anzugehen. Wir sind ein Gericht des Rechtes, nicht die letzte Instanz der Entscheidungsträger.“

Dies ist natürlich nicht wahr. Der Oberste Gerichtshof ist, wie alle politischen Institutionen der amerikanischen Regierung, ein Instrument der amerikanischen Finanzoligarchie, um ihre Interessen durchzusetzen. Er fungiert als letzte Verteidigungslinie für die amerikanischen Konzerne, wenn das Volk irgendwelche Forderungen nach Reformen erhebt oder den Reichtum umverteilen möchte. Seit einigen Jahrzehnten spielt das Oberste Gericht eine besonders schändliche Rolle als Speerspitze eines systematischen Angriffs auf die demokratischen Rechte. Das gipfelte im letzten Juni in der Dobbs-Entscheidung, welche das Urteil Roe v. Wade aufhob und den Bundesstaaten erlaubte, Abtreibung zu kriminalisieren.

Die Rechte von Einwanderern können – wie alle demokratischen Rechte – nicht verteidigt werden, indem man an die politischen Institutionen der Kapitalistenklasse, an die Demokraten und die Biden-Regierung appelliert. Dazu ist es notwendig, die Arbeiterklasse als unabhängige politische Kraft zu mobilisieren, die durch ihre eigene revolutionäre Partei organisiert und geführt wird. Dazu ist der Kampf für ein sozialistisches Programm notwendig.

Ein solches Programm beinhaltet die Verteidigung des Rechts aller arbeitenden Menschen, in dem Land ihrer Wahl zu leben und zu arbeiten und sich frei zu bewegen, ohne Rücksicht auf solche historischen Anachronismen wie Grenzen und Nationalstaaten. Das Programm für die Kämpfe der Arbeiterklasse muss auf Internationalismus beruhen, auf der Einheit der Arbeiter aller Länder im gemeinsamen Kampf gegen das globale kapitalistische System.

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