Gewalt gegen Flüchtlinge an EU-Außengrenzen nimmt drastisch zu

Die schweren Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen reißen nicht ab. Illegale Pushbacks, Freiheitsberaubung, Schläge, sexuelle Übergriffe gehören inzwischen zum Standardrepertoire, mit dem die Europäische Union Flüchtlinge abwehrt.

Am 3. Oktober dieses Jahres hätte der 19-jährige Abdullah El Rustum Mohammed diese verbrecherische Politik fast mit seinem Leben bezahlt. An diesem Tag versuchte der vor dem Bürgerkrieg in Syrien Geflohene von der Türkei aus in einer größeren Gruppe von Flüchtlingen die bulgarische Grenze zu überqueren, um in der EU Schutz zu suchen.

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Die Gruppe wird jedoch von der bulgarischen Polizei aufgegriffen und zurück zum Grenzzaun gebracht. Dort entsteht ein Tumult, einige Flüchtlinge fluchen auf die Polizisten, Steine fliegen. Dann taucht ein bulgarischer Militärtruck mit weiteren Grenzpolizisten auf, die zunächst Warnschüsse abgeben und dann gezielt auf die Flüchtlinge schießen. Abdullah wird in die Brust getroffen und bricht zusammen.

Die anderen Flüchtlinge leisten erste Hilfe und schaffen es, Abdullah in ein türkisches Krankenhaus zu bringen, wo er sofort operiert wird. Das abgefeuerte Projektil hat sein Herz nur um Haaresbreite verfehlt. „Wenn die Kugel die Vene zerstört hätte, würde ich jetzt nicht mehr leben. Es ist ein Wunder. Ich hätte nie gedacht, dass auf mich geschossen wird. In einem Land, das sich europäisch nennt“, erklärte Abdullah einige Wochen später gegenüber der ARD.

Ein Flüchtling hatte den Vorfall mit seinem Handy gefilmt. Das Video wird von der in den Niederlanden ansässigen Recherche-Plattform Lighthouse Reports forensisch analysiert und einem Audioexperten vorgelegt, der die Aussagen von Abdullah Al Rustam Mohammed bestätigt. Danach muss der Schuss aus der Richtung gekommen sein, in die die Kamera zeigte – von der bulgarischen Seite der Grenze.

Das bulgarische Innenministerium bestätigte zwar einen Vorfall an der Grenze, dementierte jedoch, dass Grenzpolizisten auf Flüchtlinge geschossen hätten. Innenminister Ivan Demerdshiew behauptete gegenüber Journalisten: „Es gibt keine Vorfälle von Gewalt gegen Flüchtlinge. Es gibt keine Beweise, dass ein bulgarischer Grenzpolizist ein Schuss abgegeben hätte, und es hat auch keine Handlungen gegeben, die Menschenrechte verletzen.“

Anfang November hatte Demerdshiew den Grenzpolizisten jedoch indirekt einen Schießbefehl gegen Flüchtlinge erteilt, nachdem ein bulgarischer Grenzpolizist von zwei mutmaßlichen Drogenschmugglern erschossen worden war. Auf die Frage von Journalisten, ob die Grenzpolizei es wagen würde, zu schießen, antwortete Demerdshiew dem Internetportal Euractiv zufolge: „Ich werde persönlich die Verantwortung übernehmen, und sie werden es wagen.“

Gegenüber der ARD bekräftigte er diese Haltung: „Migranten, die versuchen, illegal in unser Territorium einzudringen, werden immer aggressiver. In manchen Fällen benutzen sie Steine, Messer und andere Waffen. Ein bulgarischer Polizist kam ums Leben. Wer erwartet, dass unsere Polizei auf diese Handlungen nicht reagiert und das Leben und die Gesundheit der bulgarischen Grenzpolizisten nicht schützt, der irrt sich.“

Tatsächlich sind die bulgarischen Grenzpolizisten für ihre Brutalität gegen Flüchtlinge bekannt. Im Mai dieses Jahres dokumentierte die Hilfsorganisation Human Rights Watch die illegale Zurückweisung von Flüchtlingen durch Gewalt und den Einsatz von Polizeihunden an der bulgarisch-türkischen Grenze.

Das WDR-Fernsehmagazin Monitor zeigte vergangene Woche Aufnahmen von Verschlägen, in die Asylsuchende von der bulgarischen Grenzpolizei eingesperrt werden. Zusammen mit europäischen Medienpartnern und der Recherche-Plattform Lighthouse Reports gingen die Journalisten Zeugenaussagen nach und fanden eine vergitterte Baracke, in der Flüchtlinge eingesperrt waren. Hingeführt wurden sie von Schutzsuchenden aus Afghanistan und Syrien, die von ihren grauenhaften Erfahrungen mit den europäischen Grenzschutzbehörden berichteten.

„Die bulgarische Polizei hetzt Hunde auf uns, die uns beißen. Und sie schlagen uns, sie sind sehr brutal. Sie schlagen uns mit Holzstöcken, bevor sie uns dann in die Türkei zurückschicken.“ Außerdem seien sie gefangengehalten worden. „Wir wurde in einem furchtbaren vergitterten Verschlag festgehalten. Es stinkt dort wie auf einer dreckigen Toilette. Es ist wie ein Käfig, alles dort ist schmutzig.“

Dieser Käfig befindet sich etwas abseits auf einer Station der bulgarischen Grenzpolizei. Die Flüchtlinge werden hier teilweise tagelang eingesperrt, ohne Toilette, ohne Essen und mit nur wenig Wasser zum Trinken. Dann werden sie zurück in die Türkei geschleppt, ohne Chance einen Antrag auf Asyl zu stellen.

Der Rechtswissenschaftler Constantin Hruschka vom Max-Planck-Institut in München stellt dazu gegenüber Monitor fest: „Das eine ist die unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Und das zweite ist die rechtswidrige Freiheitsentziehung. Denn ich darf die Personen ohne Verfahren nicht einfach festhalten und ihnen die Freiheit entziehen. Insbesondere dann, wenn ich die Freiheitsentziehung dazu nutze, sie rechtswidrig über die Grenze zurückzubringen.“

Gängige Praxis auf der Balkanroute

Die Einrichtung von rechtsfreien Räumen, um Flüchtlinge illegal einzusperren, sie zu erniedrigen und zu misshandeln, ist keine Spezialität der bulgarischen Grenzpolizei, sondern eine breit angelegte Praxis auf der gesamten Balkanroute, die von der Europäischen Union gedeckt und gefördert wird. Die bulgarische Grenzpolizei wird massiv von der europäischen Grenzschutzagentur Frontex unterstützt, deren Beamte auch auf der Polizeistation ihren Dienst verrichten, in der Monitor den Käfig mit Flüchtlingen entdeckte.

In Ungarn unterhält die Grenzpolizei Container, in die sie Flüchtlinge einpfercht und mit Pfefferspray besprüht, bevor sie sie in illegalen Pushback-Aktionen zurück über die Grenze nach Serbien treibt.

In Kroatien dienen vergitterte Kleinbusse ohne Fenster als Zellen für Flüchtlinge. Eine geflüchtete Frau berichtete Monitor, wie sie stundenlang bei großer Hitze in einem solchen Kleinbus festgehalten wurde: „Der Bus hat Platz für acht Personen, aber sie setzen 20, mit Kindern 25 Personen rein. Sie haben uns vier Stunden lang darin einfach nur festgehalten. Uns ging es immer schlechter. Dann fängt man an, sich im Bus zu übergeben. Und dann fahren sie los, sehr schnell. Wenn sie bremsen, fällt man übereinander, man erbricht sich aufeinander.“

Ein solches Vorgehen ist reine Folter und ein eklatanter Bruch der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Die kroatische Grenzpolizei wurde in den Jahren 2016 bis 2021 von Frontex unterstützt und von deutschen Beamten ausgerüstet und ausgebildet. Das Border Violence Monitoring Network, ein Zusammenschluss von Flüchtlingshilfsorganisationen, hat zusammen mit ProAsyl recherchiert, dass in fünf Jahren 129 deutsche Bundespolizisten mit Frontexmandat und 24 deutsche Verbindungsbeamte in Kroatien stationiert waren. Die deutschen Polizisten bildeten die kroatische Grenzpolizei in 87 Seminaren aus, zusätzlich lieferte Deutschland Fahrzeuge, Wärmebildkameras und Überwachungstechnologie im Wert von knapp 3 Millionen Euro an die kroatischen Grenzschützer.

Unterstützt wurde dabei insbesondere die kroatische Interventionspolizei, die beauftragt ist, hinter der Grenze Flüchtlinge aufzugreifen und illegal wieder über die Grenze zu treiben. Diese Einheiten sind auf Videoaufnahmen zu sehen, wie sie Flüchtlinge mit einem speziellen Multifunktionschlagstock, dem Tonfa, systematisch prügeln.

Die massive Ausweitung der Gewalt gegen Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen zeigt auch das Schwarzbuch der „Pushbacks“, das vom Border Violence Monitoring Network herausgegeben wird. Ein Update enthält 733 neue Interviews mit Flüchtlingen, die auf Pushback-Operationen verweisen, durch die in diesem und im vergangenen Jahr mehr als 16.000 Flüchtlinge ihres Rechts beraubt wurden, in Europa Schutz zu suchen.

Beispielhaft ist die Erfahrung eines 36-jährigen Syrers, der zusammen mit seinem achtjährigen Sohn in einer kleinen Flüchtlingsgruppe nahe des Grenzflusses Evros von der griechischen Grenzpolizei aufgegriffen wurde.

Alle mussten ihre Mobiltelefone abgeben und wurden gezwungen, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen. Wer sich weigerte, wurde geschlagen. Zusammen mit Flüchtlingen aus Marokko, Afghanistan und Somalia wurden sie stundenlang in einen dunklen Raum mit einer verdreckten Toilette festgehalten.

Anschließend wurden die Flüchtlinge zusammengeschlagen, in einen Minibus verfrachtet und im Dunklen über den Evros zurück in die Türkei gebracht. Während der ganzen Zeit erhielten sie weder Essen noch Wasser, es gab keine medizinische Versorgung oder Dolmetscher. Und zu keiner Zeit hatten die Flüchtlinge die Chance, ihr Recht auf ein Asylverfahren vorzubringen.

Hope Barker, Mitherausgeber des Schwarzbuchs, sagt über die massive Ausweitung von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen: „Am Anfang waren es nur einzelne, sporadische Ereignisse, aber mittlerweile handelt es sich um ein weitverbreitetes, systematisches Vorgehen gegen Flüchtlinge.“

EU setzt Pushbacks fort

Trotz der Fülle von Beweisen für die abscheulichen Verbrechen an den EU-Außengrenzen leugnen die EU-Kommission und die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten die Menschenrechtsverletzungen beharrlich. So erklärte der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis im Juli dieses Jahres, es sei „das Recht eines jeden EU-Mitgliedsstaates, seine Grenzen unter Achtung grundlegender Rechte zu schützen“.

Selbst als OLAF, die Antikorruptionsbehörde der EU, in einem Bericht nachwies, dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex systematisch illegale Pushback-Operationen in der griechischen Ägäis und im zentralen Mittelmeer unterstützt und vertuscht hatte, behauptete Frontex-Interimsdirektorin Aija Kalnaja, ihre Behörde habe sich an alle geltenden Regeln gehalten habe: „Wir möchten noch einmal betonen, dass die Maßnahmen von Frontex in der Ägäis im Einklang mit dem geltenden Rechtsrahmen durchgeführt wurden.“

Als die brutalen Pushback-Operationen der kroatischen Polizei 2021 nicht mehr zu leugnen waren, erklärte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, „Gewalt an unseren Grenzen“ sei „inakzeptabel, vor allem, wenn sie strukturell und organisiert ist“. Tatsächlich werden die illegalen Praktiken an den EU-Außengrenzen aber weiter geduldet und gefördert.

Die bulgarische Menschenrechtsorganisation Bulgarian Helsinki Committee zählte im Jahr 2021 mindestens 2513 Pushback-Operationen an der Grenze zur Türkei. Die griechische Menschenrechtsorganisation Aegean Boat Report hat seit März 2020 insgesamt 1860 Pushbacks von Flüchtlingsbooten alleine in der Ägäis registriert. 49.237 Männern, Frauen und Kindern wurde dadurch das Recht verweigert, in Europa Schutz zu suchen.

Mehr als 2100 Flüchtlinge verloren an den Grenzen der Europäischen Union in diesem Jahr bereits ihr Leben. Mindestens 1982 Menschen sind im Mittelmeer ertrunken, 367 davon im östlichen Mittelmeer zwischen der Türkei und Griechenland. 136 Flüchtlinge starben an den europäischen Landgrenzen, der größte Teil von ihnen an der türkisch-griechischen und türkisch-bulgarischen Landgrenze sowie im Westbalkan.

Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser forderte die EU-Kommission im Oktober dieses Jahres dennoch dazu auf, die „steigende illegale Migration über die Balkanroute einzudämmen“.

Faeser versucht dabei, Flüchtlinge aus der Ukraine gegen andere Flüchtlinge auszuspielen, die sie als „illegale Migranten“ diffamiert, obwohl sie vor Kriegen flohen, die in Afghanistan, Syrien, Irak und anderen Ländern von den imperialistischen Mächten angezettelt wurden. Faeser erklärte: „Wir sind gemeinsam in der Verantwortung, illegale Einreisen zu stoppen, damit wir weiter den Menschen helfen können, die dringend unsere Unterstützung brauchen.“

Die Konferenz der EU und der Westbalkanstaaten, die am 6. Dezember in Albanien tagte, beschloss, den Grenzschutz mit massiver Unterstützung von Frontex zu verschärfen. Für die Flüchtlinge kann dies nur noch mehr Gewalt, Internierungen, Erniedrigungen und illegale Zurückweisungen zur Folge haben.

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