Die Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in die Golfstaaten am vergangenen Wochenende und sein Handschlag mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman haben die Menschenrechtsphrasen der Bundesregierung ein für alle Mal als reines imperialistisches Propagandainstrument entlarvt.
Führende Regierungspolitiker und die Medien beschimpfen den russischen Präsidenten Wladimir Putin routinemäßig als „Mörder“ und werfen Russland „Völkermord“ in der Ukraine vor, um den Nato-Kriegskurs gegen Moskau zu rechtfertigen. Wenn diese Bezeichnungen aktuell auf Staaten und ihre politischen Führer zutreffen, dann sicherlich auf die Golfmonarchien.
Prinz Salman selbst war direkt in den bestialischen Mord am saudi-arabischen Journalisten und Regimegegner Jamal Khashoggi involviert. Am 2. Oktober 2018 war Khashoggi in das saudische Konsulat in Istanbul gelockt worden, um Dokumente für seine bevorstehende Hochzeit abzuholen. Er tauchte nie wieder auf.
Das Martyrium, das der Journalist vor seinem Tod erlitt, lässt sich nur erahnen. Wenige Tage nach Khashoggis verschwinden erklärte die türkische Regierung, sie verfüge über Ton- und Videoaufnahmen, die belegten, dass Khashoggi im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul ermordet wurde. Auf den Tonaufnahmen sei zu hören, wie Khashoggi „verhört, gefoltert und dann getötet“ wurde. Der Journalist sei bei lebendigem Leib „zerstückelt“ und die Leiche „dann in Säure aufgelöst worden“.
Den imperialistischen Mächten, deren Vertreter nach einer kurzen Phase der Distanz nun wieder reihenweise nach Riad pilgern, ist das schockierende Ereignis genauso bekannt, wie die Tatsache, dass die Mörder von Khashoggi aus Prinz Salmans direktem Umfeld stammten. Im Februar 2021 veröffentlichte die US-Regierung einen Bericht, in dem es heißt, dass der Kronprinz den Mord persönlich „gebilligt“ habe.
Der damalige außenpolitische Sprecher und heutige Co-Vorsitzende der Grünen, Omid Nouripour, hatte unmittelbar nach der Veröffentlichung des Berichts noch gefordert: „Dem Haus Saud muss Deutschland klarmachen, dass keine normalisierten Beziehungen mit ihm möglich sind, solange ein Mörder, der seine Kritiker zerstückeln lässt, Kronprinz des Landes ist“.
Nun ist all das vergessen. Scholz stellte vor Ort klar, dass die Beziehungen zu Saudi-Arabien für die herrschende Klasse nicht nur „normalisiert“, sondern absolut essentiell sind. „Wir haben langjährige wirtschaftliche und politische Beziehungen mit Saudi-Arabien“. Es sei „deshalb richtig und wichtig, dass wir hier und dann auch auf den anderen Stationen meiner Reise weiter über die Entwicklung der Region, über die Möglichkeiten ökonomischer Beziehungen, aber auch über die politischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, sprechen“.
Mit „politischen Herausforderungen“ meint Scholz vor allem die Verschärfung der Nato-Kriegsoffensive gegen Russland. Er „habe sehr klargemacht, dass es für uns wichtig ist, dass wir die Ukraine bei der Verteidigung der eigenen Integrität und Souveränität unterstützen, dass wir das auch fortsetzen werden und dass Russland seine Truppen zurückziehen muss“. Die Nato-Mächte – allen voran Washington und Berlin – haben Putins reaktionären Einmarsch in die Ukraine zunächst provoziert. Nun eskalieren sie den Krieg immer weiter – mit dem Ziel, Russland militärisch zu besiegen und das rohstoffreiche Land auszubeuten.
Bis es so weit ist, sieht sich die herrschende Klasse auf Grund der beendeten Energiebeziehungen zu Russland gezwungen, neue Rohstoffquellen zu sichern. Die Golfstaaten, die über enorme Öl- und Gasreserven verfügen, spielen in den Kalkulationen eine wichtige Rolle. „Es gibt hier sehr viele Investitionen zu tätigen“, erklärte Scholz. „Es geht auch darum, dass deutsche Unternehmen zum Beispiel bei der Weiterentwicklung der hiesigen Wirtschaft, der Nutzung von Öl- und Gasressourcen und den Entwicklungen im Hinblick auf Wasserstoff eine große Rolle spielen.“
Die Menschenrechtsverbrechen Saudi-Arabiens und der anderen Golfmonarchien dürfen diesen Plänen nicht im Weg stehen. Als Scholz auf einer Pressekonferenz in Dschidda gefragt wurde, ob er den „Kronprinzen auf seine Verantwortung für den Mord an Jamal Khashoggi angesprochen“ habe, antwortete er mit dem ihm eigenen Zynismus: „Wir haben alle Fragen besprochen, die sich um Fragen von Bürger- und Menschenrechten drehen. Das gehört sich so. Sie können davon ausgehen, dass nichts unbesprochen geblieben ist, was zu sagen ist.“
Hätte Scholz tatsächlich alle „Fragen von Bürger- und Menschenrechten“ besprochen, wäre er sicherlich noch nicht zurück in Berlin. Allein die Menschenrechtsverbrechen des saudischen Regimes sind so umfassend, dass man mehrere Tage bräuchte, um sie aufzulisten. Jedes Jahr gibt es eine Vielzahl von „Khashoggis“, die dem Terror des Regimes zum Opfer fallen. Am 12. März 2022 wurden an einem einzigen Tag 81 (!) Gefangene hingerichtet.
Die meisten von ihnen hatten dabei nichts anderes getan, als gegen die ultra-reaktionäre Diktatur auf die Straße zu gehen. Laut der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, nahmen 41 der Opfer an den Massenprotesten gegen die saudische Monarchie in den Jahren 2011/12 teil. Teil der Massenexekution waren auch sieben jemenitische Staatsbürger. Ihnen wurde vorgeworfen die Houthi-Rebellen im Jemen zu unterstützen, die Saudi-Arabien brutal bekämpft.
Wenn aktuell ein Konflikt einen genozidalen Charakter hat, ist es das saudische Vorgehen im Jemen. Die genaue Zahl der Menschen, die durch die systematische Bombardierung und das Aushungern des verarmten Landes zu Tode kamen, ist nicht bekannt, aber es handelt sich um Hunderttausende. Vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) wurde bereits im November 2021 ein Bericht veröffentlicht, der die Zahl der Todesopfer auf 377.000 schätzte.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Das UNDP geht davon aus, dass unter den Opfern mehr als 260.000 Kinder unter fünf Jahren sind. Sie starben größtenteils durch Hunger und Krankheiten infolge der von den USA und den Vereinigten Arabischen Emiraten – die Scholz ebenfalls mit einem Besuch beehrte – unterstützten saudischen Blockade. Der Bericht geht zudem davon aus, dass sich die Zahl der Todesopfer bis 2030 auf 1,3 Millionen erhöhen wird. Gleichzeitig wird die Zahl der Jemenitinnen und Jemeniten, die in extremer Armut leben, bis 2030 voraussichtlich auf 22 Millionen ansteigen.
Die Bundesregierung hat ein genaues Bild der Menschenrechtslage in Saudi-Arabien. Das Land gehöre „zu den Ländern, die weltweit die meisten Todesurteile vollstrecken“, heißt es in einer Erklärung des Menschenrechtsausschusses „zur Lage der Menschenrechte in Saudi-Arabien“ vom November 2020. Seit 2014 habe die Zahl der Getöteten „signifikant zugenommen“. Und weiter:
Im Jahr 2019 wurden mindestens 186 Menschen hingerichtet. Unter den geltenden und strikt angewandten Konversionsgesetzen können der Wechsel des Glaubens und der sog. Abfall vom Glauben „Apostasie“ mit dem Tode bestraft werden. Auch Kinder fallen unter diese Gesetzgebung. Trotz der Ankündigung von Reformen u.a. zur Abschaffung der Todesstrafe für zur Tatzeit Minderjährige werden Hinrichtungen hier weiterhin durchgeführt. Vermeintliche Geständnisse für nicht begangene Straftaten werden noch immer regelmäßig unter Folter erzwungen. Die Haftbedingungen in saudischen Gefängnissen verstoßen gegen menschenrechtliche Standards.
Der Bericht zeichnet das Bild von einer mittelalterlichen Despotie. Gegen „Menschen- und Bürgerrechtler“ werde „mit brutaler Härte vorgegangen“ und das „Menschenrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit... so stark eingeschränkt, dass es faktisch nicht existent ist“. Auch „weitere Minderheitenrechte“ seien „massiv eingeschränkt bis nicht existent, wozu u.a. auch Rechte sexueller Minderheiten (LGBTI-Personen) zählen“. Insbesondere auch „die Rechte von Frauen“ würden „massiv unterdrückt“ und Aktivistinnen „wegen ihres Einsatzes für die Rechte von Frauen inhaftiert, misshandelt und gefoltert.“
In Katar, wo Scholz seine Reise begann und wo von November bis Dezember die nächste Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet, ist die Situation nicht besser. In den zehn Jahren seit der Vergabe der WM an das Emirat sind dort laut Amnesty International 15.000 Bauarbeiter beim Bau der Stadien und Spielstätten ums Leben gekommen. Obwohl die zwei Millionen Arbeitsmigranten aus Indien, Bangladesch und anderen zentralasiatischen Ländern zu Hungerlöhnen ausgebeutet werden, behauptete Scholz in Doha, die „rechtliche Lage der Gastarbeiter“ habe sich „verbessert“.
Arbeiter und Jugendliche müssen Scholz’ Reise vor allem auch als Warnung verstehen. Die herrschende Klasse wird hier zu ähnlich mörderischen Methoden greifen, um die wachsende Opposition gegen Aufrüstung, Sozialangriffe und die Durchseuchung in der Pandemie zu unterdrücken. Gleichzeitig wird sie das nicht davon abhalten, verlogene Menschenrechtsphrasen im Mund zu führen, um nach ihren fürchterlichen Verbrechen in zwei Weltkriegen, die Rückkehr des deutschen Militarismus auf die Weltbühne durchzusetzen.