Am 10. September hatte die griechische Küstenwache in internationalen Gewässern der Ägäis Warnschüsse auf das Handelsschiff Anatolien abgegeben, das unter der Flagge der Komoren unterwegs war. Seitdem spitzen sich die Spannungen zwischen Athen und Ankara weiter zu.
Die griechische Staatspräsidentin Katerina Sakellaropoulou besuchte vergangene Woche die ägäischen Inseln Kastellorizo, Rhodos und Karpathos, die nur zwei Kilometer von der Türkei entfernt liegen. „Griechenland strebt konstruktive Beziehungen zu seinen Nachbarn im Einklang mit dem Völkerrecht an“, sagte sie auf einer Veranstaltung zum 79. Jahrestag der Befreiung von Kastellorizo im Zweiten Weltkrieg. „Wenn nötig, wird es jedoch seine Integrität und seine souveränen Rechte wirksam verteidigen“, fügte sie hinzu.
Auf einem Symposium auf Rhodos verurteilte Sakellaropoulou die Ansprüche Ankaras mit den Worten: „Da die türkischen Provokationen auf Rhodos und den Dodekanes-Inseln zunehmen, indem sie falsche und unbelegte Behauptungen aufstellen und die souveränen Rechte unseres Landes in Frage stellen, wird die wissenschaftliche Debatte am 40. Jahrestag der Unterzeichnung des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen noch wichtiger.“
Die Inseln Rhodos, Karpathos und Kastellorizo sollten gemäß dem Pariser Friedensvertrag von 1947 entmilitarisiert werden. Dennoch gibt es auf diesen Inseln Panzer- und Infanterieeinheiten, Land- und Luftwaffenstützpunkte, zusätzlich zu den im Vertrag vorgesehenen Ordnungskräften.
„Die Rhetorik und die provokativen Aktionen Griechenlands, die die Spannungen im Inselmeer und im östlichen Mittelmeer verschärft haben, sind zu einer Sicherheitsbedrohung für unser Land geworden“, sagte der türkische Parlamentspräsident Mustafa Şentop.
Im Juni drohte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu mit einer Invasion der Inseln und erklärte, dass „die Souveränität dieser Inseln diskutiert werden muss“, wenn Griechenland die Militarisierung der Inseln nicht einstelle. Auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärte kürzlich: „Ihre Besetzung der Inseln bindet uns nicht. Wir werden tun, was notwendig ist, wenn die Zeit gekommen ist. Wie wir sagen, könnten wir eines Nachts ganz plötzlich kommen.“
Die historischen Konflikte zwischen der türkischen und der griechischen Bourgeoisie, die im 20. Jahrhundert wurzeln, haben sich in den letzten Monaten im Zuge des Nato-Kriegs gegen Russland in der Ukraine verschärft.
Die Türkei beteiligt sich nicht an den Sanktionen gegen Russland, weil sie befürchtet, dass die Nato-Ziele im Ukrainekrieg – Regimewechsel in Moskau, Zerstückelung Russlands und seine Unterordnung unter die imperialistischen Mächte – Folgen für ihre Bourgeoisie haben könnten. Ankara hat daher versucht, als Friedensvermittler aufzutreten. Gleichzeitig sieht sich die Türkei durch die Rolle Griechenlands als wichtiger Militärstützpunkt der Nato gegen Russland bedroht. Athen hat strategische militärische Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und Frankreich aufgebaut.
Aus Sicht der Nato sind die engeren Handels-, Energie- und Militärbeziehungen der Türkei mit Russland inakzeptabel. Ankaras Kauf des russischen Luftabwehrsystems S-400 veranlasste Washington zu Sanktionen gegen die Türkei. Als Reaktion auf eine mögliche Weigerung der USA, der Türkei F-16-Kampfflugzeuge zu verkaufen, sagte Präsident Erdoğan kürzlich: „Nicht nur Amerika verkauft Kampfjets in der Welt – auch England, Frankreich und Russland. Es ist also möglich, sie von überall her zu bekommen.“
Die USA und Europa sind beunruhigt darüber, dass Russland die Türkei nutzen könnte, um westliche Sanktionen zu umgehen. „Die USA und die EU erhöhen den Druck auf die Türkei, gegen die Umgehung russischer Sanktionen vorzugehen, da sie befürchten, dass der Bankensektor des Landes eine potenzielle Hintertür für illegale Finanzgeschäfte darstellt“, schrieb die Financial Times am Donnerstag.
Andererseits erhielt Griechenland letzte Woche seine ersten beiden F-16-Militärjets aus den Vereinigten Staaten im Rahmen eines 1,5 Milliarden Dollar teuren Programms zur Modernisierung seiner Kampfflotte. AP schrieb: „Die beiden F-16, die auf dem Luftwaffenstützpunkt Tanagra nordwestlich von Athen vorgestellt wurden, sind die ersten von 83 Flugzeugen, die bis Ende 2027 mit fortschrittlicher Elektronik, Radar und Waffensystemen nachgerüstet werden.“
Der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis, der Anfang letzter Woche mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Paris zusammentraf, erklärte: „Wir reagieren auf Herausforderungen mit Bereitschaft. Und denen, die uns bedrohen und die sagen, dass sie eines Nachts plötzlich über unsere Inseln herfallen werden, sagen wir, dass wir am helllichten Tage auf sie warten, wenn alle sehen können, wer das Völkerrecht auf seiner Seite hat.“
Macron betonte die volle Unterstützung Frankreichs für Griechenland: „Ich möchte das trotz der wiederholten Provokationen und der Infragestellung der Souveränität Griechenlands bekräftigen: Sie haben unsere volle Unterstützung und Entschlossenheit.“
Die Spannungen haben sich seit der Rede von Mitsotakis im US-Kongress im vergangenen Mai weiter zugespitzt. Dort sagte der Premierminister: „Griechenland reicht seinen Nachbarn die Hand der Freundschaft. Aber wir werden die Verletzung unserer Souveränität, die Verletzung unserer Hoheitsrechte und die Überflüge über griechische Inseln, die sofort eingestellt werden müssen, nicht dulden. Ich bitte Sie, liebe Kongressabgeordnete, die Gefahr einer neuen Instabilität an der Südostflanke der Nato zu berücksichtigen, wenn Sie Entscheidungen über Waffenverkäufe in der Region treffen.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Er fügte hinzu: „Ich bitte Sie, liebe Mitglieder des Kongresses, eine Wunde nicht zu vergessen, unter der der Hellenismus seit 48 Jahren leidet und die noch immer nicht verheilt ist. Ich beziehe mich auf die Aggression in Zypern und die gewaltsame Teilung der Insel. Niemand wird jemals zwei getrennte Staaten auf Zypern akzeptieren.“ Mitsotakis erhielt stehenden Applaus der US-Abgeordneten.
In Reaktion auf Mitsotakis’ Rede in Washington erklärte Erdoğan: „Für mich gibt es die Person Mitsotakis nicht mehr. Wir gehen mit Politikern mit Persönlichkeit und Ehre. Mitsotakis sollte von jetzt an mal nachdenken. Die USA werden wahrscheinlich keine Entscheidung treffen, die seinen Worten folgt.“
Das US-Außenministerium kündigte jedoch am vergangenen Freitag die Aufhebung des Waffenembargos gegen Zypern für das Haushaltsjahr 2023 an. Die US-Militärbasen in Griechenland wurden im Zuge der Nato-Offensive gegen Russland erweitert, während die Türkei wegen ihrer militärischen Beziehungen zu Moskau mit US-Sanktionen konfrontiert war.
Das türkische Außenministerium kritisierte die Entscheidung der USA: „Wir verurteilen aufs Schärfste, dass die USA ihre Entscheidung vom September 2020 ausweiten und das Waffenembargo gegen die griechisch-zypriotische Regierung aufheben. Wir unterstützen voll und ganz die Reaktion der Behörden der Türkischen Republik Nordzypern (TRNC) auf diese Entscheidung.“
Weiter heißt es: „Diese Entscheidung, die dem Grundsatz der Gleichberechtigung der beiden Seiten auf der Insel widerspricht und die Unnachgiebigkeit der griechisch-zypriotischen Seite weiter stärkt, wird sich negativ auf die Bemühungen um eine Lösung der Zypernfrage auswirken. Sie wird auch zu einem Wettrüsten auf der Insel führen, was dem Frieden und der Stabilität im östlichen Mittelmeerraum schadet. Wir fordern die USA auf, diese Entscheidung zu überdenken und eine ausgewogene Politik gegenüber den beiden Seiten auf der Insel zu verfolgen.“
Die bürgerliche Presse sowohl in Griechenland als auch in der Türkei bedient sich nationalistischer Rhetorik, um die reaktionären geopolitischen Interessen ihrer eigenen Regierungen zu fördern und die Arbeiterklasse zu spalten. Es droht die reale Gefahr, dass diese chauvinistische Demagogie zu einer militärischen Konfrontation zwischen den beiden Nato-Mitgliedstaaten eskaliert. Der Ukrainekrieg und die wachsenden militärischen Spannungen auf dem Balkan und in Zentralasien gießen zusätzlich Öl ins Feuer.
Der einzige Weg, einen verheerenden Krieg zu verhindern, ist die revolutionäre Mobilisierung der internationalen Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms, das die arbeitende Bevölkerung über alle Grenzen hinweg vereint. Das erfordert den Aufbau von Sozialistischen Gleichheitsparteien in Griechenland, der Türkei und der gesamten Region.
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