Unternehmen nutzen Wirtschaftskrise für Massenentlassungen

Mit der Explosion der Energie- und Rohstoffpreise entwickelt sich in Deutschland eine seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beispiellose Wirtschaftskrise. Sie ist der Preis, den die Arbeiterklasse für den Wirtschaftskrieg gegen Russland zahlen soll. Sie wurde von der herrschenden Klasse Deutschlands und der EU systematisch provoziert. Während die deutschen Banken von einer staatlichen Kreditschwemme profitieren, die großen Energie- und Autokonzerne Rekordgewinne melden, werden kleine und mittlere Unternehmen massenhaft in die Insolvenz getrieben und zehntausende Arbeiter entlassen.

Ein ausführlicher Bericht des Spiegel spricht von einem „systemischen Kollaps“ und zitiert Wissenschaftler des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), die ihre Wachstumsprognosen für das kommende Jahr zuletzt um vier Prozentpunkte nach unten korrigieren mussten. Die IfW-Forscher warnen vor einer „wuchtigen Rezession“ und beziffern die nationalen Mehrkosten für Energieimporte in diesem Jahr auf 123 und im nächsten Jahr auf 136 Milliarden Euro. Das BIP werde demnach um bis zu 1,4 Prozent schrumpfen.

Gegenüber dem Spiegel rechnet das Ifo-Institut in München für die ersten Monate 2023 mit Inflationsraten von bis zu elf Prozent. Die Forscher stellen fest, dass Lohnerhöhungen und das jüngst beschlossene dritte Entlastungspaket der Bundesregierung dies „überhaupt nicht kompensieren“ werden: „Die Bürger verlieren so viel Kaufkraft wie noch nie, seit 1970 die modernen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen begannen“, so der Spiegel. „Der Energiekosten-Schock fällt heftiger aus als in den beiden Ölkrisen. Erdgas kostet im Großhandel in Europa zurzeit fünfmal so viel wie vor einem Jahr.“

Um die Profiteinkünfte ihrer Besitzer zu schützen, versuchen die Unternehmen, die Preissteigerungen an die Verbraucher weiterzureichen, womit Arbeiter doppelt zur Kasse gebeten werden – obwohl sie bereits höhere Strom- und Gasrechnungen begleichen müssen. Viele Firmen nutzen die hohen Energiepreise ungeniert als Vorwand, um staatliche Gelder einzustreichen und sich durch Massenentlassungen und Insolvenzgeld auf Kosten der Arbeiter zu sanieren.

Laut einer Umfrage des Industriearbeitgeberverbands BDI sieht mehr als jedes dritte mittelständische Unternehmen seine Existenz gefährdet – ein Anstieg um 50 Prozent im Vergleich zum Februar. Allein im August wuchs die Zahl der Insolvenzen bei den Kapital- und Personengesellschaften, also den meist mittelgroßen Firmen, um ein Viertel gegenüber dem Vorjahr. Für kommenden Oktober sagen Wissenschaftler des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung einen Anstieg um ein Drittel gegenüber 2021 voraus. Die gestiegenen Energiekosten und die Inflation sind in dieser Prognose dabei noch gar nicht abgebildet.

Unter den kleinen und mittleren Unternehmen gaben 90 Prozent an, vor einer „starken“ (58 Prozent) oder „existentiellen“ (34 Prozent) Herausforderung zu stehen. 71 Prozent aller befragten Betriebe nannten Lieferschwierigkeiten und -verzögerungen, und fast jedes zehnte Unternehmen in Deutschland hat die Produktion derzeit gedrosselt oder unterbrochen. Bei 40 Prozent der von Insolvenzen betroffenen Jobs handelt es sich um Industriearbeitsplätze.

Vor allem energieintensive Unternehmen wie Papierhersteller, Düngemittelfabrikanten und Stahlproduzenten versuchen, die hohen Strom- und Gaspreise „nach unten“ abzuwälzen und staatliche Gelder einzustreichen. So kündigte der Hygienepapierhersteller Hakle – der Insolvenz in Eigenverwaltung beantragt hat – ein „hartes Sanierungsprogramm“ an, das die „dringend benötigte Anpassung des Geschäftsmodells möglich machen“ solle.

Für das fast hundert Jahre alte Unternehmen, das allein im Düsseldorfer Werk jährlich 60.000 Megawattstunden Erdgas und 40.000 Megawattstunden Strom verbraucht, arbeiten 225 Mitarbeiter, deren Lage spätestens ab Dezember ungewiss ist. Hakle-Konkurrent Fripa, der mehrere hundert Gigawattstunden im Jahr verbraucht, beschäftigt 450 Arbeiter und sprach gegenüber dem Bayrischen Rundfunk gleichfalls von einer „sehr bedrohlichen“ Situation.

Der größte mitteleuropäische Düngemittelproduzent SKW Piesteritz hatte die Produktion über mehr als drei Wochen vollständig eingestellt, allen 860 Mitarbeitern mit Kurzarbeit gedroht und „massive Unterstützung“ durch die Politik verlangt. Der von SKW hergestellte Diesel-Reiniger AdBlue ist ein Harnstoffprodukt, das für moderne Dieselmotoren unentbehrlich ist und in Deutschland täglich in rund 800.000 Lkw verbraucht wird.

Nach dieser Machtdemonstration erklärte ein SKW-Sprecher am Dienstag, man werde eine der beiden Anlagen zwar wieder hochfahren, jedoch erst wieder produzieren, wenn die Politik „ein verlässliches Zeichen setze“ und den Konzern von der Gasumlage befreie. SKW produziert Harnstoff und Ammoniak und konkurriert teilweise mit Branchenriese BASF, der die Ammoniakproduktion aufgrund hoher Gaspreise bereits letztes Jahr reduziert hatte.

Die Georgsmarienhütte Unternehmensgruppe (GMH), die 21 Standorte mit eigenen Gießereien und Schmieden unterhält und 6000 Mitarbeiter beschäftigt, drohte gegenüber dem Spiegel damit, die Stahlpreise um 50 Prozent anzuheben – andernfalls werde „die energieintensive Industrie in Deutschland nicht überleben“.

Rivale ArcelorMittal hatte zuletzt angekündigt, zwei Produktionsanlagen in Hamburg und Bremen bis auf Weiteres stillzulegen. Zu den „exorbitant gestiegenen Energiepreisen“ käme eine „schwache Marktnachfrage“, so der Konzern. Bereits in der vergangenen Woche hatte der weltweit zweitgrößte Stahlhersteller alle 500 Arbeiter des Werks im Hamburger Hafen zunächst in Kurzarbeit geschickt. Damals hatte der Konzern versichert, wesentliche Prozesse fortsetzen zu wollen. Nun wird es auch an den Produktionsstandorten in Duisburg und Eisenhüttenstadt Kurzarbeit geben.

Insgesamt prognostiziert der Branchenverband des Maschinen- und Anlagenbaus VDMA für 2023 einen Produktionsrückgang von 2 Prozent, nachdem die Auftragseingänge im Juli um 14 Prozent zurückgingen.

Auch die Lebensmittelproduktion ist von den explodierenden Energiepreisen stark betroffen. Der fränkische Bäckereibetrieb Goldjunge mit 26 Filialen und 300 Mitarbeitern musste bereits Ende August Insolvenz beantragen. Auch die Kölner Bäckerei Schlechtrimen mit 40 langjährigen Mitarbeitern verkündete zuletzt Betriebsaufgabe, nachdem sich die Mehl- und Margarinepreise verdoppelt hatten und die monatlichen Energiekosten um 100.000 Euro gestiegen waren.

Verheerend ist die Lage auch bei den Zulieferern der Autoindustrie. So teilte der Automobilzulieferer BIA am Donnerstag mit, das Werk am Standort Forst zu schließen, so dass bis Jahresende 150 Arbeiter ihre Anstellung verlieren werden. Die Insolvenz des Automobilzulieferers Dr. Schneider betrifft sämtliche 2000 Mitarbeiter, die nun im Rahmen eines laufenden Sanierungsplans Insolvenzgeld beziehen müssen. Der Autozulieferer Vitesco wird am Standort Nürnberg in den nächsten Jahren 810 Stellen streichen.

Der Zulieferbetrieb Carl Leipold, der pro Jahr rund eine Milliarde Präzisionsdrehteile produziert, meldete Anfang des Monats Insolvenz an. Grund seien laut Management „explodierende Energiekosten sowie die Preissteigerungen bei den Betriebs- und Hilfsstoffen, die nur teilweise und zeitversetzt an die Kunden weitergegeben werden konnten“. Betroffen sind 300 Mitarbeiter in Deutschland.

Der Verband der Automobilindustrie (VDA) korrigierte seine Marktprognose für Deutschland in der vergangenen Woche nach unten, von bisher drei Prozent Wachstum auf minus sechs Prozent. VDA-Präsidentin Hildegard Müller klagte, dass „unser Wirtschaftsmodell infrage“ stehe und lediglich drei von fünf Autoherstellern in Deutschland in der Lage seien, die Energiekosten „an ihre Kundinnen und Kunden weiterzugeben“.

Die Preiserhöhungen der Automobilindustrie sind in Wirklichkeit Bestandteil einer expliziten „Luxusstrategie“, die der Branche astronomische Profite und „EBIT-Margen von 35 Prozent pro Jahr“ bescheren soll. Unter dem Motto „Luxus statt Masse, Reibach mit Maybach“ berichten Finanzportale, dass Hersteller wie Mercedes-Benz und ihre Tochterunternehmen längst von höheren Preisen profitieren.

So gab Daimler Truck inmitten wachsender Quartalsgewinne kürzlich bekannt, 1000 Arbeitsplätze in Mannheim nach Tschechien zu verlagern und in Brasilien 3600 Arbeiter zu entlassen. Im Werk von São Bernardo werde das Unternehmen die Zeitverträge von 1400 Arbeitern ab Dezember nicht mehr verlängern und 2200 weiteren Arbeitern kündigen. In Deutschland sollen auch am Evobus-Standort Neu-Ulm derzeit 600 Arbeitsplätze gestrichen werden. Das bereinigte Betriebsergebnis von Daimler Trucks wuchs im letzten Quartal um 15 Prozent auf 1,01 Milliarden Euro.

Der Autobauer Opel, der zum Stellantis-Konzern gehört, will in Deutschland bis zu 1000 weitere Stellen streichen. Arbeitsdirektor Ralph Wangemann kündigte am Donnerstag in Rüsselsheim an, die bestehenden Programme über Altersteilzeit, Vorruhestand oder Abfindungen fortsetzen zu wollen, womit bis Jahresende 1000 Arbeitsplätze gestrichen sein könnten. Stellantis hat im ersten Halbjahr 2022 Rekordprofite von 8 Milliarden Euro eingestrichen und plant, der profitabelste Autokonzern Europas zu werden.

Stellantis-Konkurrent Volkswagen gab am Freitag bekannt, ein Vertriebszentrum bei Kassel bis Ende 2024 zu schließen, wovon 300 Mitarbeiter betroffen sind. Krisenstäbe des VW-Konzerns, berichtet der Spiegel, „diskutieren mit dem Betriebsrat auch darüber, wie tief sie die Raumtemperatur in den Fabrikhallen senken dürfen, um Gas zu sparen“. Volkswagen meldete im zweiten Quartal einen operativen Gewinn von 4,7 Milliarden Euro.

Insgesamt stieg der operative Gewinn der 16 größten internationalen Autokonzerne 2021 im Vergleich zum Vorjahr trotz Halbleiterkrise um 168 Prozent auf insgesamt rund 134 Milliarden Euro.

Was den Einzelhandel betrifft, so meldete der Schuhhändler Ludwig Görtz GmbH am 6. September 2022 Insolvenz an. Das Unternehmen beantragte ein Schutzschirmverfahren für die Muttergesellschaft, sowie Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung für die Filial- und die Logistik-Töchter. Von der Insolvenz sind 160 Filialen und 1800 Mitarbeiter betroffen, die ihr Gehalt bis Dezember von der Bundesagentur für Arbeit beziehen sollen. An die Gläubiger gerichtet, erklärte Görtz-CEO Frank Revermann, man könne „nach der Sanierung eine erfolgreiche Zukunft erwarten“.

Der Einzelhandelskonzern Galeria Karstadt Kaufhof (GKK), der sich im Besitz des österreichischen Immobilien-Multimilliardärs René Benko befindet, ist bereits durch eine Insolvenz gegangen und wird seitdem mit 700 Millionen Euro vom Bund gestützt. Doch wie der Spiegel berichtet, „schmelzen die Reserven“, da die Kunden kaum noch Geld zur Verfügung haben und sich die Energiekosten der Filialen in den vergangenen Monaten zum Teil verzehnfacht hätten.

„Die Konsumstimmung ist so schlecht wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik“, stellt das Nachrichtenmagazin fest. Millionen Menschen müssten Anschaffungen zurückstellen und den Konsum massiv einschränken. Das Ifo-Institut warnt, dass „der private Konsum wohl im weiteren Verlauf des Jahres als Konjunkturmotor in Deutschland ausfallen“ werde. In der konjunkturtreibenden Bauindustrie, so die Süddeutsche Zeitung, kühle das Geschäftsklima indessen „so stark ab wie zuletzt in der Finanzkrise 2008“.

Ausgelöst durch die wachsende Zurückhaltung von Risikokapitalgebern finden inzwischen selbst in der bislang boomenden Startup- und Plattformbranche beispiellose Massenentlassungen statt. In einem Bericht von Business Insider werden geplante und bevorstehende Entlassungen von teilweise mehr als 20 Prozent aller Angestellten genannt – u.a. bei den Lebensmittel-Lieferservices Gorillas (300), Getir (4480) und Zapp (200 bis 300), bei den Payment-Services Klarna (700), Sumup (100) und Nuri (45), sowie 180 bei Tier Mobility.

Auf der weltgrößten Branchenmesse Gastech herrschte in diesem Jahr einem Bericht des Spiegel zufolge jedoch „Goldgräberstimmung“ unter den versammelten Managern. Der europäische Gaskonzern Uniper – der von der Bundesregierung Staatshilfen im Wert von 15 Milliarden Euro erhielt und vier weitere Milliarden beantragt hat – sponserte die Messe mit 175.000 Euro und finanzierte in einer Mailänder Nobelvilla für weitere 175.000 Euro ein „prestigeträchtiges Dinner“. Das Magazin Business Insider zitiert Uniper-Geschäftsführer Klaus-Dieter Maubach aus einem mittlerweile gelöschten Tweet: „Wir haben definitiv eine gute Krise, also lasst sie uns nicht verpassen!“

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