Siemens Energy baut 400 weitere Arbeitsplätze in Berlin ab

In der vergangenen Woche kündigte der Vorstand von Siemens Energy den Abbau von hunderten Arbeitsplätzen im Bereich Freiluftschaltanlagen an. Allein im Berliner Schaltwerk sollen bis September 2024 400 Stellen gestrichen werden. Begründet wird das Programm mit der geringen Profitmarge aufgrund gestiegener Produktionskosten. Die Herstellung von SF6-Freiluftschaltern soll von Berlin nach China und Mexiko verlagert werden.

Freiluftschalter werden in der Energieversorgung eingesetzt, um Starkstromtrassen zu sichern. Die bisherige Technik der SF6-Schalter verwendet das giftige Gas Schwefelhexafluorid (SF6). Nach Angabe des Umweltbundesamtes ist SF6 23.500-mal schädlicher als Kohlendioxid und hat in der ⁠Atmosphäre⁠ eine Lebensdauer von 3200 Jahren. Daher arbeitet die EU-Kommission an einem Gesetz, das den Einsatz dieses und ähnlicher gefährlicher Gase spätestens ab dem Jahr 2030 verbietet.

Schon vor sieben Jahren begannen Ingenieure und Techniker des Berliner Schaltwerks an einer Lösung zu arbeiten, die inzwischen an erste Kunden in Australien und Skandinavien verkauft wurde. Zwar sichern diese neuen, gasfreien „Blue Air-Schaltanlagen“ bisher nur 420.000 Volt. Die SF6-Schaltanlagen haben eine Höchstleistung von 1,1 Millionen Volt. Aber eine Weiterentwicklung ist in den kommenden Jahren zu erwarten.

Betriebsrat und IG Metall führen die neue Technologie als Grund an, die Produktion in Berlin fortzusetzen, doch für die Konzernspitze hat die kurzfristige Umsatz- und Gewinnsicherung Vorrang.

Siemens verzeichnete im letzten Geschäftsquartal erstmals seit fast zwölf Jahren einen Verlust. Nach Steuern wies der Konzern einen Fehlbetrag von rund 1,5 Milliarden Euro aus. Im selben Zeitraum des Vorjahres hatte er noch knapp 1,5 Milliarden Gewinn gemacht. Als Folge erwartet das Unternehmen jetzt nur noch ein Ergebnis von etwa 5,50 Euro je Aktie, zuvor war es von knapp 9 Euro ausgegangen.

Grund für die hohen Verluste sind zum einen der sanktionsbedingte Rückzug aus Russland, der mit Belastungen von 600 Millionen Euro zu Buche schlägt, und zum anderen Abschreibungen von 2,7 Milliarden Euro auf Siemens Energy. Siemens hält noch rund 35 Prozent an dem Unternehmen, das es 2020 ausgegliedert und an die Börse gebracht hatte. Aufgrund des Preiskampfs im Windkraftsektor und entsprechenden Problemen der spanischen Tochter Gamesa sank der Aktienkurs von Siemens Energy seit Januar um 40 Prozent.

Nun soll die Gewinnmarge auf Kosten der Arbeiter wieder gesteigert werden. In der vergangenen Woche informierte der Vorstand der Siemens Energy AG den Betriebsrat des Berliner Schaltwerks über den geplanten Stellenabbau. Dieser rief darauf keine Betriebsversammlung ein, um die Belegschaft zu alarmieren, stattdessen organisierte die IG Metall eine Pressekonferenz.

Der Erste Bevollmächtigte der IG Metall Berlin, Jan Otto, sowie seine Stellvertreterin Regina Katerndahl und der Berliner Betriebsratsvorsitzende Rüdiger Groß heuchelten dort Überraschung über den angekündigten Stellenabbau. Die Produktionsverlagerung sei nicht verständlich, da der Verkauf der SF6-Schaltanlagen gut laufe und das Berliner Werk auch bereits ein neues, umweltfreundlicheres Produkt als Weltneuheit entwickelt habe.

So überraschend kann die Ankündigung allerdings nicht gewesen sein, denn in der gleichen Woche nahm Siemens Energy-Vorstandsmitglied Tim Holt an der Eröffnung einer neuen Produktionsstätte in Querétaro/Mexiko teil, die den nord- und südamerikanischen Markt, einschließlich Kanada, sowie Großbritannien in Zukunft mit SF6-Schaltanlagen beliefern soll. Rüdiger Groß ist Mitglied des Aufsichtsrats von Siemens Energy und wird über den Aufbau der neuen Produktionsstätte in Mexiko bestens informiert gewesen sein.

Die IG Metall und ihr Betriebsrat machen sich offenbar Sorgen, dass die Stimmung in der Belegschaft kippt und sich gegen sie wendet. „Die Mitarbeiter werden unmutig. Nachdem Siemens Energy gegründet wurde, kam eine Rasierklinge nach der anderen. Und wenn man sich bei der Entwicklung von neuen Produkten engagiert, dann wird das verwendet für Mitarbeiterabbau“, klagte Rüdiger Groß.

Bereits im Februar 2021 hatte Siemens Energy entschieden, weltweit 7800 von 90.000 Arbeitsplätzen abzubauen. Betroffen waren unter anderem 700 Arbeitsplätze in Mülheim-Ruhr und 750 im Gasturbinenwerk Berlin-Moabit, dem mit damals noch 3500 Beschäftigten größten Industriebetrieb Berlins.

Die IG Metall, die im Aufsichtsrat von Siemens und Siemens Energy sitzt, hatte alle Maßnahmen mitgetragen, die zum Arbeitsplatzabbau führten, einschließlich der Ausgliederung des Energiebereichs. Dabei wusste sie genau, dass die Abtrennung von Siemens Energy der Auftakt zu einem radikalen Konzernumbau auf Kosten der Belegschaft ist.

Nach der Ankündigung der Entlassungen im vergangenen Jahr sah sich die IG Metall schließlich gezwungen, in Mülheim und Berlin einige Protestdemonstrationen zu organisieren. Sie dienten dazu, Dampf abzulassen und den Schein zu wahren, am Arbeitsplatzabbau änderte das nichts. Wenn nun weitere 400 Arbeitsplätze in Berlin vernichtet werden, untergräbt dies das Ansehen von IG Metall und Betriebsrat weiter.

15 Jahre radikale Umstrukturierung

Siemens durchlief in den vergangenen 15 Jahren eine radikale Umstrukturierung, die ohne die tatkräftige Unterstützung der IG Metall nicht möglich gewesen wäre. Im Verlauf von sogenannten Spar- und Effizienzprogrammen – wie „Siemens 2014“, Strategie „Siemens 2020“, „Transformationsprogramm PG2020“ und im vergangenen Jahr der zwischen Konzern und IG Metall ausgehandelten „Zukunftsvereinbarung 2030“ – schrumpfte die Gesamtzahl der Konzernbeschäftigten von 475.000 auf 303.000 (Stand September 2021).

Die gesamte Strategie des Konzerns zielte darauf ab, durch den Umbau Teile mit niedrigen Profitmargen abzustoßen und den Konzern zur Holding mit drei unabhängigen Gesellschaften umzugestalten: Siemens Healthineers AG (2018), Siemens Energy AG (2020) und Siemens Mobility GmbH. Diese Umwandlung sollte verhindern, dass Gewinne in einem Segment für den Ausgleich von Verlusten in anderen verwendet werden.

Das steigerte zum einen den Aktienkurs der profitablen Bereiche, zum anderen erhöhte es den Druck auf die Belegschaften und erleichterte den Abbau von Arbeitsplätzen in weniger profitablen Teilen. Zudem verschaffte es dem Konzern die nötigen Mittel, um sich am Vernichtungskampf auf dem Weltmarkt zu beteiligen.

In einem Gastbeitrag für den Harvard Business Manager im September 2019 hatte der damalige Siemenschef Joe Kaeser (und heutige Aufsichtsratschef von Siemens Energy) erklärt, welche Strategie er mit der Dreiteilung des Unternehmens verfolgt: „Ab einem bestimmten Zeitpunkt sollte jedes dieser Unternehmen in der Lage sein, aktiv am ‚Merger Endgame‘ in seiner Industrie teilzunehmen, also branchenprägende Zusammenschlüsse zu gestalten.“

Das Handelsblatt verstand damals genau, worum es ging. Es gehe ums „Endspiel für die globale Marktführerschaft“, schrieb die Wirtschaftszeitung. Das bedeute, dass man „im größeren Stil zukaufen und fusionieren“ müsse.

In Bezug auf Siemens Energy wusste die Zeitung genau, wohin der Hase läuft: „Wenn im nächsten Jahr [2020] die neue Struktur mit der Abspaltung des Energiekonzerns steht, beginnt das Endgame erst so richtig.“ Der ausgegliederte Energiekonzern bleibe weiterhin ein „Restrukturierungsfall“ und ein „schwierig zu führendes Konglomerat“. Ein noch größerer Zusammenschluss sei in Zukunft die beste Lösung.

Die IG Metall steht uneingeschränkt hinter diesem Programm. Die gut verdienenden Bürokraten in den Gewerkschaftshäusern und Betriebsratsbüros vertreten nicht die Klasseninteressen der Arbeiter, die überall auf der Welt mit denselben Konzernen und Finanzinteressen konfrontiert sind. Sie stehen im „Endspiel für die globale Marktführerschaft“ auf der Seite der Konzerne und organisieren die nötigen Entlassungen, Zugeständnisse und Lohnsenkungen, damit „ihr“ Konzern als Sieger daraus hervorgeht.

Sie sorgen dafür, dass sich kein Widerstand entwickelt. In der Gewerkschaftssprache nennt sich das „sozialverträglich“. „Wir reden jetzt hier über einen geplanten Personalabbau, der dann – das ist immer die Formulierung – sozialverträglich vonstattengehen soll,“ sagte Regina Katerndahl, die Zweite IGM-Bevollmächtigte in Berlin, auf der Pressekonferenz. „D.h. es geht im Grunde um Regelungen zur ATZ (Altersteilzeit), Abfindungsprogramm und ein sog. Freiwilligenprogramm, was im Moment angeboten wird.“

Das ist zwar weder „sozial“ noch „verträglich“, da die Arbeitsplätze hinterher weg sind und die Betroffenen oft enorme Zugeständnisse machen müssen, bevor sie auf der Straße stehen oder eine magere Frührente beziehen. Aber es erfüllt den Zweck, den „sozialen Frieden“ zu wahren, d.h. jeden ernsthaften Kampf zur Verteidigung der Arbeitsplätze zu sabotieren.

Die IG Metall spielt die Arbeiter einzelner Standorte und Länder gezielt gegeneinander aus, wie sie dies bei Ford getan hat, wo sie den Bieter-Wettbewerb zwischen den Werken im deutschen Saarlouis und dem spanischen Valencia mitmachte. Der Berliner IGM-Chef Otto wetterte auf der Pressekonferenz: „Uns sind die Arbeiter in den anderen Ländern nicht egal, aber wir haben das Mandat erst mal hier vor Ort von den Kolleginnen und Kollegen.“

Welches Mandat, fragt man sich. Wo haben die Belegschaften für Stellenabbau gestimmt? In Wahrheit verfolgt die IG Metall mit ihrer Strategie des „erst mal hier vor Ort“ die Spaltung und Schwächung der internationalen Konzernbelegschaft und verfolgt einen reaktionären, politischen Nationalismus.

Der Berliner IGM-Chef setzte sich auf der Pressekonferenz sogar für Handelskrieg – und in letzter Konsequenz Krieg – gegen China ein. Es sei wichtig, die „Lieferketten zu verkürzen und die Wertschöpfungsketten in Deutschland zu erweitern“, sagte er – sprich, die Produktion aus dem Ausland wieder nach Deutschland zurückzuholen. „Gerade mit Blick auf China und andere ist es nicht sinnvoll, darauf zu hoffen, dass man sich in eine gegenseitige Abhängigkeit begibt und dann wird alles gut. Wir sollten sehen, dass wir diese Dinge hier vor Ort produzieren.“

Die Arbeiterinnen und Arbeiter von Siemens können – wie alle Arbeiter auf der Welt – ihre Rechte, sozialen Errungenschaften und Arbeitsplätze nur verteidigen, wenn sie mit den pro- kapitalistischen, nationalistischen Gewerkschaften brechen und sich in unabhängigen Aktionskomitees organisieren, die von vertrauenswürdigen Kollegen geleitet werden. Die Aktionskomitees müssen Kontakt zu anderen Betrieben aufnehmen, sich international vernetzen und zum Ausgangspunkt einer Offensive gegen das bankrotte kapitalistische System werden.

Die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre internationalen Schwesterorganisationen haben die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees ins Leben gerufen, um diesen Kampf zu ermöglichen und voranzubringen.

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