Österreichs größter Energiekonzern Wien Energie (WE) ist durch hochriskante Spekulationsgeschäfte in massive Zahlungsschwierigkeiten geraten. Um den Zusammenbruch zu verhindern, wurden dem Unternehmen innerhalb von 72 Stunden 2 Milliarden Euro vom Bund zur Verfügung gestellt. Zuvor hatte der Eigentümer, die Stadt Wien, bereits 1,4 Milliarden Euro in die WE gepumpt. Insgesamt könnte der gesamte Bedarf an Hilfsgeldern bei sechs bis acht Milliarden Euro liegen, so der Konzernvorstand.
Etwa zwei Millionen Haushalte in Wien und Umgebung werden von WE mit Gas und Strom beliefert. Dabei erzeugt das Unternehmen aber kaum eigenen Strom, sondern kauft und verkauft diesen an Termin- und Spotmärkten. Auf diesen Märkten lassen sich traumhafte Gewinne realisieren, sie unterliegen aber auch starken Schwankungen und sind daher riskant. Dieser Umstand hat zu einer extremen finanziellen Schieflage geführt.
Vor einem Jahr kostete die Megawattstunde Strom noch unter 90 Euro. Mittlerweile ist der Preis auf rund 1000 Euro gestiegen. WE hatte auf fallende Preise spekuliert und dreimal mehr Energie verkauft, als sie liefern konnte. Um nun weitere Geschäfte tätigen zu können, waren Sicherheiten in Milliardenhöhe notwendig.
WE ist international kein Einzelfall. Der deutsche Gas-Händler Uniper hat bislang 9 Milliarden Euro von der staatlichen KfW-Bank erhalten und rund zwei Drittel der 34 Milliarden Euro beantragt, die ab Oktober über die Gas-Umlage von den Gaskunden erhoben werden. Der Konzern geriet in Bedrängnis, weil Gaslieferungen aus Russland ausgeblieben sind. Uniper sah sich gezwungen, Gas an den Spotmärkten einzukaufen, um seine Lieferverträge zu erfüllen. Dort sind die Preise explodiert.
Die Situation der 100-prozentigen Tochter der Wiener Stadtwerke war seit vielen Monaten absehbar. Die Wien Energie erzielte 2021 einen Umsatz von drei Milliarden Euro. Der Jahresüberschuss sank jedoch im gleichen Zeitraum um 61 Prozent auf nur noch 140 Millionen Euro. Im Frühjahr dieses Jahres erklärte das Unternehmen, die Zukunftsprognose sei nicht „sehr lustig“.
Die sinkenden Gewinne sollten offenbar durch risikoreiche Geschäfte wieder ausgeglichen werden. „Normal waren die Geschäfte nicht,“ zitiert die Süddeutsche Zeitung den Energiemarktexperten Walter Boltz. „Ich denke schon, dass die Wiener ein Risiko in Kauf genommen haben“, so der Ex-Chef der Energie-Regulierungsbehörde E-Control.
Der sozialdemokratische Wiener Bürgermeister Michael Ludwig hatte der WE im Juli und August je 700 Millionen Euro per Notkompetenz, ohne Information der Öffentlichkeit, zukommen lassen.
Ludwig und Stadtwerke-Vizechef Peter Weinelt leugnen bisher, dass das Unternehmen in riskante Spekulationsgeschäfte verwickelt sei. Doch die nun zu Tage getretenen Erkenntnisse und die Tatsache, dass WE sich strikt weigert, ihre bisherige Börsenstrategie offenzulegen, lassen nur den gegenteiligen Schluss zu. Ein externer Gutachter sowie der Stadtrechnungshof sollen die Geschäftspraktiken nun näher beleuchten.
Die Milliarden, die von Bund und Land in den Konzern gesteckt werden, ermöglichen es, die bisherigen Geschäftspraktiken fortzuführen. WE erklärte, es setze den Verkauf von Strom am Terminmarkt „vorläufig“ aus, der Handel am Spotmarkt gehe aber selbstverständlich weiter. Käufe und Verkäufe am Spotmarkt erfolgen jeweils zum tagesaktuellen Preis. Hier werden zwar keine Sicherheiten verlangt, aber das Risiko von Preisschwankungen ist enorm.
Bürgermeister Ludwig spielte die Folgen der Rettung durch öffentliche Gelder herunter. „Das Allerwichtigste“ sei ihm die Versorgungssicherheit der Wiener. Weder im WE-Vorstand noch im Aufsichtsrat oder in der Wiener Landesregierung gab es bislang Konsequenzen.
Die anderen Parteien fordern eine „volle Aufklärung“ des Falles und den Rücktritt von Ludwig. Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) will nun sämtliche Energieversorger durchleuchten lassen, um ein „detailliertes Bild des Sektors zu erhalten“. Bis 2020 waren die Grünen selbst Teil der Wiener Landesregierung und dürften über die Vorgänge bei der WE bestens informiert gewesen sein. Die Kanzlerpartei ÖVP versucht den Fall für sich auszunutzen und hat gemeinsam mit der rechtsextremen FPÖ eine Untersuchung beantragt.
Auf Bundesebene wird auf Initiative der Grünen die Einführung einer Gasumlage nach deutschem Vorbild diskutiert. Die Umlage wird an Energieversorger weitergereicht, die damit für gestiegene Importpreise entschädigt werden. So landen die Gelder am Ende in den Kassen der großen Energiekonzerne, die davon profitieren und Rekordgewinne melden.
Während sich die Parteien über die Verantwortung für die jüngsten Spekulationsverluste streiten, weichen sie der grundlegenden Frage aus: dass nämlich ein gesellschaftliches Grundbedürfnis, die Versorgung mit elektrischem Strom, zum Gegenstand wilder Spekulationsgeschäfte geworden ist, mit denen neben gelegentlichen Verlusten auch gigantische Profite auf Kosten der Verbraucher gemacht werden.
Seit die Europäische Union 1998 eine Öffnung des Strommarkts erzwang, der bisher strikt reguliert war und sich meist in den Händen kommunaler Versorger befand, ist Strom zur Ware geworden, an der Erzeuger, Händler und Netzbetreiber kräftig verdienen.
In Deutschland kaufen Großkunden, also Industrieunternehmen und Stadtwerke, nur noch etwa die Hälfte ihres Stroms direkt bei den Erzeugern ein. Die andere Hälfte wird an der Strombörse, der European Energy Exchange (EEX) in Leipzig, gekauft. Dort wird ein Teil des Stroms in Form von „Futures“ gehandelt, wobei der Preis bis sechs Jahre im Voraus festgelegt wird. Der Rest wird am Spotmarkt zu Tages- oder Stundenpreisen gekauft, wo sich der Strompreis im vergangenen Monat verdreifacht hat.
Dabei gilt EU-weit das sogenannte Merit-Order-Prinzip, nach dem der Preis des jeweils teuersten noch benötigten Kraftwerks für alle anderen gilt, was diesen hohe Profite beschert. Ursprünglich sollten so die Erzeuger erneuerbarer Energien gefördert werden. Doch mit der Explosion des Gaspreises als Folge des Ukrainekriegs sind auch die Strompreise in die Höhe geschnellt, da nun die teuren Gaskraftwerke den Preis bestimmen.
Für die Erzeuger von erneuerbarem, Atom- und Kohlestrom bedeutet dies exorbitante Gewinne. Für Händler wie Wien Energie, die langfristige Lieferverträge zu niedrigen Preisen vereinbart haben, kann es Milliardenverluste zur Folge haben. Leidtragende sind in allen Fällen die Verbraucher, insbesondere Privathaushalte und kleine Unternehmen.
Kunden der WE mussten dies in den vergangenen Tagen erleben. Zum 1. September stiegen die Preise der WE kräftig an. Laut dem Magazin Vienna wurden Kunden vor die Wahl gestellt, in einen neuen, durchschnittlich um ein Viertel teureren Ökostrom-Tarif zu wechseln oder in dem alten Tarif zu verbleiben. Dieser Tarif wird jedoch auch massiv teurer – sogar noch teurer als der neue Ökostrom-Tarif. Am Ende sind Millionen Haushalte mit einer Stromkostensteigerung von 25 Prozent konfrontiert.
Laut der Österreichischen Energieagentur steigt der Energiepreisindex in diesem Monat im Vergleich zum Vormonat um 9,2 Prozent. Im Vergleich zum September 2021 liegt er um 256 Prozent höher. Hinzu kommen auch in Österreich enorme Steigerungen bei Mietkosten. Laut dem Beratungsunternehmen Deloitte stiegen die Kaltmieten in Linz und in Graz um rund 10 Prozent auf über 10 Euro pro Quadratmeter. Auch in Wien zogen die Mieten zuletzt kräftig an. In weiten Teilen der Stadt liegt der Quadratmeterpreis bereits über 14 Euro.
Experten gehen davon aus, dass die Strompreise in Europa auch im Herbst und Winter weiter ansteigen werden. Daran wird auch das Versprechen der EU-Kommission, ein neues „Strommarktdesign“ zu erarbeiten, nichts ändern. Es wird Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis neue Regelungen in Kraft treten.