Perspektive

Inflation, Krieg und Klassenkrieg

Die Arbeiterklasse Europas steht vor dem größten Angriff auf ihren Lebensstandard seit einem Jahrhundert, als die Nachkriegsinflation und die Folgen des Börsenkrachs von 1929 die Existenzgrundlage großer Teile der Arbeiter- und Mittelklasse zerstörten. Unter der kombinierten Wirkung hoher Inflation und niedriger Tarifabschlüsse schmelzen die Einkommen dahin wie Schnee in der Sonne.

Protest gegen die Erhöhung des Strompreises in Madrid am 6. Oktober 2021. Auf den Transparenten ist zu lesen: 'Nein zum Stromraub', 'Strom zu einem fairen Preis'. (AP Photo/Manu Fernandez)

Laut Eurostat, dem Statistischen Amt der Europäischen Union, lagen die Verbraucherpreise in den 27 Mitgliedsländern der EU im Juli um 9,8 Prozent höher als vor einem Jahr. 16 Staaten liegen über dieser Marke. Spitzenreiter sind die baltischen Staaten mit einer Inflationsrate über 20 Prozent, gefolgt von Tschechien, Bulgarien, Ungarn und Polen, wo die Preise zwischen 14 und 17 Prozent stiegen. In Großbritannien, das nicht mehr der EU angehört, liegt die Inflation bei 12 Prozent und könnte nach Einschätzung von Experten bis Ende des Jahres auf 18 Prozent steigen.

Die Einkommen halten mit den Preissteigerungen nicht annähernd Schritt. So sind die Löhne in Deutschland bei einem Preisanstieg von 8,5 Prozent nur um 2,9 Prozent gewachsen. Die Reallöhne sind damit innerhalb eines Jahres um durchschnittlich 4,4 Prozent gesunken, wie das Statistische Bundesamt errechnet hat. Bereits in den Pandemiejahren 2020 und 2021 waren die Reallöhne geschrumpft. In anderen europäischen Ländern verhält es sich ähnlich.

Dabei geben die offiziellen statistischen Zahlen die wirkliche Inflation nur ansatzweise wieder. Vor allem die Preise für Lebensmittel, Gas, Strom und Benzin, die Arbeiterhaushalte besonders stark belasten, sind überdurchschnittlich stark gestiegen und explodieren nun regelrecht. Das stellt Millionen Arbeiterfamilien vor die Alternative, entweder zu hungern oder zu frieren – wobei viele zu beidem gezwungen sind.

In Deutschland ist der Preis von Nahrungsmitteln seit einem Jahr um 12,7 und der Preis von Energie um 38 Prozent gestiegen. Im nächsten Monat wird ein weiterer Preisschub erwartet, da am 1. Oktober mehrere Entlastungsmaßnahmen der Regierung auslaufen und die Gasumlage in Kraft tritt, eine Art Sondersteuer für alle Endverbraucher, mit der Energiekonzerne für Verluste aus dem Russlandgeschäft entschädigt werden. Außerdem beginnen die hohen Weltmarktpreise für Strom und Gas auf die Haushaltsabrechnungen durchzuschlagen. Der Preis für Strom ist an der Europäischen Energiebörse EEX teilweise um das Zwanzigfache gestiegen. Die Bundesbank erwartet deshalb, dass die Inflationsrate im Winter deutlich über 10 Prozent liegen wird.

In Großbritannien wird zum 1. Oktober die amtliche Energiepreisobergrenze für Haushalte um 80 Prozent auf 3549 Pfund (4200 Euro) im Jahr erhöht. Bis April kommenden Jahres wird eine weitere Verdoppelung auf 7200 Pfund erwartet. Vor einem Jahr hatte die Obergrenze noch bei 1042 Pfund gelegen. Rund 50 Prozent aller britischen Haushalte drohen dadurch in Armut zu fallen. Der Nationale Gesundheitsdienst rechnet damit, dass Tausende sterben werden, weil sie ihre Wohnung nicht mehr heizen können.

In den Niederlanden (Inflationsrate 11,6 Prozent) drohen die Preissteigerungen laut dem Wirtschaftsforschungsinstitut der Regierung 1,4 der 17,4 Millionen Einwohner in Armut zu stürzen. Jeder fünfte niederländische Haushalt wird laut dem Institut in diesem Winter nicht mehr in der Lage sein, die Gas- und Stromrechnung zu bezahlen.

In Osteuropa, wo die Löhne niedriger und die Preissteigerungen höher sind, ist die Lage noch katastrophaler. So war Strom in Rumänien im Juli rund doppelt so teuer wie in Polen und sechs Mal so teuer wie in Finnland – und damit für einen großen Teil der Bevölkerung nicht mehr bezahlbar.

Die Regierungen stellen die Inflation und ihre sozialen Folgen abwechselnd als unvorhersehbare Naturkatastrophe oder als Opfer dar, das für die „Verteidigung von Demokratie und Freiheit in der Ukraine“ gebracht werden müsse. Doch das sind unverschämte Lügen. In Wirklichkeit ist der Angriff auf den Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten eine massive Eskalation des Klassenkriegs, den die Finanzoligarchie seit Jahrzehnten mit wachsender Intensität gegen die Arbeiterklasse führt.

Das zeigt allein schon die Tatsache, dass die Profite – wie schon während der Finanzkrise und der Pandemie – weiter wachsen, während die Löhne einbrechen.

Symptomatisch ist die Entwicklung in Großbritannien. Dort liegen die Gewinnspannen der größten börsennotierten Unternehmen (FTSE 350) um 73 Prozent über dem Niveau von 2019, dem Jahr vor der Pandemie. Laut dem Amt für nationale Statistik ONS sind die Unternehmensprofite allein zwischen Oktober 2021 und März 2022 um 11,7 Prozent gestiegen. Die Löhne wuchsen im selben Zeitraum nur um 2,6 Prozent, inflationsbereinigt sanken sie um knapp 1 Prozent.

Vor allem die großen Energiekonzerne schwimmen im Geld. Die sechs großen multinationalen Ölgiganten ExxonMobil, Chevron, Shell, BP, TotalEnergies und Eni meldeten für das zweite Quartal 2022 Gewinne von zusammen über 64 Milliarden Dollar. Die Hälfte davon floss direkt in Aktienrückkäufe und Dividenden zur Bereicherung der Aktionäre. Die gigantischen Summen, die Arbeiterfamilien für Heizung und Strom abgeknöpft werden, landeten so direkt auf den Konten der Superreichen.

Der Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse zeigt vor allem den untrennbaren Zusammenhang zwischen imperialistischem Krieg und Klassenkrieg.

Anders als es die offizielle Propaganda darstellt, ist der Stellvertreterkrieg, den die Nato in der Ukraine gegen Russland führt, kein Krieg für „Freiheit und Demokratie“, sondern ein imperialistischer Krieg um die Neuaufteilung der Welt. Er knüpft an die verbrecherischen Kriege auf dem Balkan, im Irak, in Afghanistan, in Libyen, in Syrien und anderen Ländern an, mit denen die USA und ihre europäischen Verbündeten versuchten, Öl, Gas und andere Rohstoffe unter ihre Kontrolle zu bringen und die strategische Vorherrschaft über den Nahen Osten, Afrika und die eurasische Landmasse zu erlangen.

Der Ukrainekrieg begann nicht mit dem russischen Angriff vom 24. Februar 2022, sondern mit der systematischen Einkreisung Russlands durch die Nato, der Installation eines westlichen Marionettenregimes in der Ukraine, der systematischen Aufrüstung der ukrainischen Armee und der Weigerung, Russland irgendwelche Sicherheitsgarantien zu geben.

Der russische Präsident Putin, der Interessenvertreter der russischen Oligarchen, reagierte darauf mit der reaktionärsten aller denkbaren Antworten. Er griff die Ukraine militärisch an, stärkte damit die rechtesten, nationalistischen Kräfte und lieferte der Nato den erstrebten Kriegsvorwand. Seither treibt die Nato die Konfrontation mit der zweitgrößten Atommacht der Welt rücksichtslos voran, beliefert die Ukraine mit Unmengen Waffen und Munition und leitet faktisch die Kriegshandlungen.

Sie verfolgt damit handfeste wirtschaftliche und geostrategische Ziele: die koloniale Unterwerfung Russlands, die Aufspaltung seines gewaltigen Territoriums, die Ausplünderung seiner reichen Rohstoffe sowie die Ausschaltung eines potentiellen Verbündeten Chinas.

Alle Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zeigen, dass imperialistische Kriege die rücksichtslose Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiterklasse im eigenen Land erfordern. Sie muss nicht nur die Kosten der Aufrüstung tragen, für die schier unerschöpfliche Summen zur Verfügung stehen, während Schulen, Kliniken und soziale Infrastruktur kaputtgespart werden. Auch die Folgen der heftigen Störungen der Weltwirtschaft, die mit den Kriegsvorbereitungen und dem Krieg selbst einhergehen, werden auf sie abgeladen.

Die Inflation ist eine der Formen, in der dies geschieht. Wenn Regierungen und Medien predigen, die Bevölkerung müsse „Opfer“ bringen, um unabhängig von russischen Energielieferungen – oder chinesischen Computerchips und Autobatterien – zu werden, sprechen sie in Wirklichkeit von Krieg.

Bereits Hitler und Mussolini hatten für nationale Autarkie geworben, als sie den Zweiten Weltkrieg vorbereiteten. Aber der faschistische Nationalismus bereitete „nicht die Besänftigung der Wirtschaft im nationalen Rahmen, sondern vulkanische Ausbrüche und grandiose Zusammenstöße vor“, wie Leo Trotzki 1933 im Artikel „Nation und Weltwirtschaft“ schrieb, der heute wieder hochaktuell ist.

Man kann die Folgen der Inflation nicht bekämpfen, ohne gleichzeitig den Nato-Krieg in der Ukraine und die Kriegsvorbereitungen gegen China abzulehnen. Der Lebensstandard kann nicht verteidigt werden, ohne Krieg und Militarismus zurückzuweisen.

Überall in Europa und auf der ganzen Welt setzen sich Arbeiter gegen die Angriffe auf ihren Lebensstandard zur Wehr. Die Zahl der Proteste gegen Sozialabbau und der Streiks für höhere Löhne nimmt spürbar zu. Doch diese Kämpfe brauchen eine klare Orientierung und Perspektive. Sie müssen zu einer europa- und weltweiten sozialistischen Bewegung gegen den Kapitalismus entwickelt werden.

Die Gewerkschaften und ihre politischen Unterstützer bemühen sich nach Kräften, dies zu verhindern. Nationalistisch bis ins Mark, stehen sie uneingeschränkt hinter der Kriegspolitik ihrer Regierungen und tun alles, um die Kämpfe der Arbeiter zu isolieren, abzuwürgen und auszuverkaufen. Ohne Unterstützung des gut bezahlten Gewerkschaftsapparats hätten die Konzerne die Reallohnsenkungen und Entlassungen der vergangenen Jahre nicht durchsetzen können.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Verteidigung des Lebensstandards ist ein Bruch mit den Gewerkschaften und der Aufbau unabhängiger Aktionskomitees, die den Kampf gegen Lohnsenkungen, Preiserhöhungen, Sozialabbau und Entlassungen organisieren und sich bundesweit und international vernetzen. Um eine solche globale Gegenoffensive der Arbeiterklasse einzuleiten, hat das Internationale Komitee der Vierten Internationale die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees ins Leben gerufen.

Loading