Kerzen stehen auf dem Gehweg, ein Unbekannter hat „No Justice No peace“ auf das Pflaster gesprüht. Im Innenhof der St.Antonius-Gemeinde in Dortmund (NRW) wurde am letzten Montag der 16-jährige Mohammed D. von der Polizei erschossen.
Dabei hätte gerade er besonderen Schutz benötigt. Als unbegleiteter Minderjähriger war Mohammed erst vor kurzem aus dem Senegal geflohen. Noch am Vortag seines Todes soll er auf eigenen Wunsch eine psychiatrische Klinik wegen Suizidgefahr besucht haben, doch wieder entlassen worden sein. Am Dienstag alarmierte ein Betreuer der Jugendeinrichtung, in der er wohnte, die Polizei, weil er Mohammed mit einem Messer hantieren sah.
Darauf trafen nicht weniger als elf schwerbewaffnete Polizisten ein, die den Jugendlichen (der kein Deutsch verstand) erst mit Pfefferspray und Elektroschocker traktierten und dann mit einer Maschinenpistole niederschossen. Fünf Schüsse trafen ihn in den Bauch, in den Unterarm, zweimal an der Schulter und einmal gar ins Gesicht. Sie zerschmetterten den Kiefer des Jungen, der kurze Zeit später im Krankenhaus verstarb.
Dieser jüngste Polizeimord wirft ein Schlaglicht auf die gesteigerte Gewaltbereitschaft der deutschen Polizei. Vier Einsätze in nur einer Woche, so verschieden sie auch waren, endeten alle mit tödlicher Gewalt:
- Am Dienstag, dem 2.August, erschossen SEK-Beamte im Frankfurter Bahnhofsviertel einen obdachlosen 23-jährigen Somalier. Bekannt ist bisher nur, was das Hessische Landeskriminalamt berichtete: Demnach sei die Polizei gerufen worden, weil ein Mann in einem Hotel im Rotlichtviertel zwei Frauen bedroht habe. Mit einem Messer bewaffnet, habe er beim Eintreffen der Beamten einen Polizeihund verletzt. Gegen vier Uhr früh wurde der junge Mann mit einem Kopfschuss regelrecht hingerichtet.
- Am folgenden Tag, dem 3.August, wurde bei einer Zwangsräumung in Köln der stadtbekannte russische Musiker Jozef Berditchevski (48) von Polizeikugeln tödlich getroffen. Er soll gegen die Zwangsräumung seiner Wohnung Widerstand geleistet haben. Polizisten griffen ihn mit Pfefferspray an und machten dann von der Schusswaffe Gebrauch.
- In der Sonntagnacht des 7. August nahm ein Polizeieinsatz in Oer-Erkenschwick bei Recklinghausen ein tödliches Ende. Ein 39-Jähriger soll in seiner Wohnung randaliert haben. Die herbeigerufenen Polizisten gingen mit Pfefferspray auf ihn los und „fixierten“ ihn, worauf er das Bewusstsein verlor und kurze Zeit später verstarb.
- Als die Polizei am Montagnachmittag Mohammed D. in Dortmund erschoss, war dies also bereits der vierte entsetzliche Fall in nur einer Woche, in dem Polizisten einen Menschen töteten.
Als Reaktion auf Mohammeds Tod gingen am Dienstag rund 250 und am Mittwoch noch einmal 400 Menschen spontan auf die Straße. Unter Rufen wie „Mörder! Mörder!“ zogen sie durch die Dortmunder Nordstadt. Auch in Köln fand am letzten Samstag unter dem Motto „Zwangsräumungen zerstören Leben“ eine Trauer- und Protestkundgebung vor dem Haus des Opfers Jozef Berditchevski statt.
Jozef war keineswegs der „gewaltbereite Russe“, wie zahlreiche Medien, allen voran die Bild-Zeitung, ihn darstellten. Bild schrieb: „Bei dem Toten soll es sich um einen gebürtigen Russen handeln, der oft betrunken war und dann randalierte.“ Die Zeitung betonte besonders: „Auf dem Balkon hängt eine Sowjet-Flagge.“
In Wirklichkeit war Jozef ein virtuoser Straßenmusiker, der in Köln wohlbekannt und geachtet war. Der in St. Petersburg geborene Jozef stammte aus einer russisch-jüdischen Familie. Seine Mutter war eine bekannte russische Geigerin, und er selbst widmete sich seit seinem 12. Lebensjahr der klassischen Musik. Nach der Auflösung der Sowjetunion kam der 19-Jährige nach Deutschland, weil er nicht als russischer Soldat gegen Tschetschenien kämpfen wollte, und danach studierte er an der Musikhochschule Köln. Es gibt einen WDR-Beitrag über ihn, der auf YouTube eingestellt wurde und hier noch zu sehen ist.
In der Corona-Pandemie warf das Auftrittsverbot für alle Kölner Straßenkünstler auch Jozef aus der Bahn und entzog ihm die Existenzgrundlage. Hinzu kam zuletzt die üble Russophobie, die im Zusammenhang mit dem imperialistischen Stellvertreterkrieg in der Ukraine bewusst geschürt wird, und die die Medien bis heute fortsetzen.
Jozef war den Behörden als suizidgefährdet bekannt. Wie verzweifelt er war, das kann man dem offiziellen Bericht entnehmen. Dort schreibt Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer: „Der Verstorbene war bereits polizei- und gerichtsbekannt. Zuletzt war er von der Staatsanwaltschaft im Juni 2022 beim Amtsgericht Köln angeklagt worden. Der Anklage lag der Vorwurf zugrunde, Widerstand gegen Polizeibeamte geleistet zu haben, nachdem der Beschuldigte seinen Suizid angekündigt und sich gegen die ihm zu Hilfe eilenden Polizeibeamten mit Tritten zur Wehr gesetzt hatte.“
Der bürokratisch-kalte Bericht macht ganz nebenbei klar, dass Jozefs Wohnung unter solchen Bedingungen überhaupt nicht hätte zwangsgeräumt werden dürfen, denn Zwangsräumungen sind bei Suizidgefahr von vorneherein unzulässig.
Auch bei den anderen Fällen lagen offensichtlich für die Opfer psychologische Ausnahmesituationen von großer Dramatik vor. Um die Lage zu deeskalieren, wären erfahrene Psychologen oder Sozialarbeiter, nicht jedoch martialisch bewaffnete Polizisten am Platz gewesen. Seit Jahren ist bekannt, dass ein übergroßer Teil der Personen, die von Polizisten getötet wurden, sich im „psychischen Ausnahmezustand“ befanden. Dies betreffe zwei Drittel, stellte ein TV-Bericht des rbb schon 2014 fest.
In Oer-Erkenschwick wurde am 8. August der angebliche „Randalierer“ mit Pfefferspray traktiert, überwältigt und „fixiert“. Er verlor das Bewusstsein und starb wenig später. Im Polizeibericht heißt es: „Es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass der Oer-Erkenschwicker Drogen genommen hatte.“ Welche Anhaltspunkte? War sein Tod tatsächlich die Folge eines Drogenkonsums? Welche Rolle spielte die polizeiliche „Fixierung“, die ihm den Atem nahm, oder der Pfefferspray-Einsatz? Diese Methode, Menschen mit Reizgas zu traktieren, ist hochgefährlich und kann beispielsweise für Menschen, die Psychopharmaka eingenommen haben, zum Tode führen.
Zu allen vier Todesfällen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, doch es ist zweifelhaft, ob die wirklichen Ursachen und Begleitumstände jemals ans Licht kommen. Denn das Polizeipräsidium Dortmund ist für den Fall in Oer-Erkenschwick zuständig, und dasjenige von Recklinghausen, zu dem Oer-Erkenschwick gehört, für die Aufdeckung der Geschehnisse in Dortmund. (Dasselbe gilt für die Nachbarstädte Bonn und Köln.) In den jüngsten Fällen heißt das, dass die Polizeistelle, die wegen Mohammeds Tod unter Anklage steht, gegen die Kollegen ermittelt, die für den Todesfall in Oer-Erkenschwick verantwortlich sind – und umgekehrt.
Diese Praxis, von der das Innenministerium von NRW behauptet, sie garantiere eine „neutrale Ermittlungsführung“, wird vom Deutschen Anwaltsverein (DAV) seit langem kritisiert. Der Verein fordert stattdessen eine unabhängige Beschwerdestelle. Tatsächlich werden Polizisten wegen tödlicher Einsätze praktisch niemals verurteilt. Wie gering die Erfolgsaussichten nach einer Anzeige sind, belegen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Ihm zufolge wurden im Jahr 2020 bei 4500 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibedienstete lediglich in 70 Fällen Strafverfahren eingeleitet.
Vier Tote bei Polizeieinsätzen in einer einzigen Woche, das ist ein neues Ausmaß an Polizeigewalt. Das lässt an US-amerikanische Verhältnisse denken, wo Polizeiübergriffe mit tödlichem Ausgang jeden Tag mehrmals vorkommen, mehr als 1000 Mal pro Jahr. Im laufenden Jahr 2022 sind in den USA schon 588 Menschen von der Polizei ermordet worden. Vor zwei Jahren gingen Bilder des brutalen Polizeimords an George Floyd um die Welt.
In Deutschland kommt es zwar ebenfalls immer wieder zu üblen Tötungen durch die Polizei, doch bisher nicht in derart großer Anzahl. Die Website polizeischuesse.cilip.de, die alle Vorkommnisse auflistet, zählt seit der Wiedervereinigung im Jahr 1991 mindestens 315 Fälle, bei denen „Personen durch Kugeln der deutschen Polizei getötet“ wurden. Weitere Opfer starben wie Oury Jalloh in Polizeihaft, oder sie kamen im Zusammenhang mit einer brutalen Abschiebung ums Leben.
Parallel zur Kriegspolitik der Ampel-Koalition und ihrer Aufrüstung des Staatsapparats nimmt diese tödliche Praxis derzeit immer mehr zu. Diese Entwicklung ist ein Anzeichen von panischer Angst der Herrschenden vor dem wachsenden Widerstand der Arbeiterklasse.
In der Corona-Pandemie verfolgt die herrschende Klasse eine systematische Profite-vor-Leben-Politik. Seit Beginn des Ukrainekriegs wird die Inflation immer mehr angeheizt, Arbeitsplätze werden zerstört und die Lebensbedingungen der sozial Schwachen sind gefährdet. Aufgrund der massiven sozialen Ungleichheit braut sich ein gewaltiger sozialer Sturm zusammen.
Das ist der Grund, warum sich regierende Politiker unter allen Umständen schützend vor schießwütige Polizisten stellen und sie selbst dann noch verteidigen, wenn ihr Rechtsextremismus und Rassismus offen zutage liegt.
In Hessen ist im Zusammenhang mit dem Polizeiskandal um die NSU 2.0-Hassbotschaften jetzt herausgekommen, dass der Leiter der polizeiinternen Ermittlungen selbst die Ergebnisse manipuliert und andere Kollegen gewarnt haben soll. Zudem gehörte er früher derselben SEK-Einheit an, die mit rechten Chats auffiel. Auch ein zweiter Vorgesetzter aus dem Fahndungskommissariat wird beschuldigt, Beamte vor den internen Ermittlungen gewarnt zu haben.
Auch in NRW hat Innenminister Herbert Reul (CDU) bei einer Pressekonferenz am 10. August die Polizisten, die Mohammed D. erschossen, ausdrücklich in Schutz genommen. Es sei eine Frage von Sekunden gewesen, so Reul, und der Junge [der in Wirklichkeit schon von Tränengas geblendet war] sei mit dem Messer auf die Polizisten zugerannt.„Und in dieser Situation“, so Reul, „ging es um die Frage: Sticht der zu – oder schießt die Polizei?“
Das ist nichts anderes als ein Freibrief für weitere Polizeimorde.