Mehr als 200 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken

In der Woche vor Weihnachten sind im Mittelmeer bei mehreren Bootsunglücken mehr als 230 Flüchtlinge ertrunken. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration starben vor der libyschen Küsten mindestens 200 Menschen und mehr als 30 Flüchtlinge kamen in der Ägäis ums Leben. Damit sind in diesem Jahr nach offiziellen Angaben mindestens 1887 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken.

Zuletzt wurden nahe der westlibyschen Hafenstadt Choms die Leichen von 28 Menschen gefunden. „Der fortgeschrittene Verwesungszustand der Leichen lässt darauf schließen, dass der Schiffbruch vor mehreren Tagen stattfand“, sagte ein Sicherheitsvertreter Libyens. Nach Angaben des libyschen Roten Halbmonds sind unter den Leichen zwei Frauen und ein Baby. Nur drei Menschen konnten gerettet werden, während weitere Todesopfer befürchtet werden.

Bereits am 17. Dezember sind 102 Flüchtlinge ertrunken, als ihr Holzboot nahe der Hafenstadt Surman westlich von Tripolis kenterte, wie die Sprecherin der Internationalen Organisation für Migration (IOM) Safa Msehli bestätigte. Weitere 61 Leichen wurden von der so genannten libyschen Küstenwache an Bord eines Schiffes vor der Küste unweit der Stadt Sabratha gefunden. Dies gab der IOM-Koordinator Flavio di Giacomo über Twitter bekannt.

Zeitgleich zu diesen tragischen Bootsunglücken haben Schiffe privater Hilfsorganisationen mehr als 1.200 Flüchtlinge in diesem Seegebiet aus Seenot gerettet. Einige von ihnen warten noch immer darauf, in einen italienischen Hafen einlaufen zu können. Während die Sea-Watch 4 mit 216 aus Seenot geretteten Flüchtlingen an Bord und die Geo Barents mit fast 560 Flüchtlingen die Erlaubnis bekommen haben, die Häfen von Pozzallo und Augusta auf Sizilien anzulaufen, hat die Ocean Viking mit 114 Überlebenden noch noch keinen Hafen zugewiesen bekommen.

Auch die Sea-Watch 3, die über die Weihnachtstage bei fünf Einsätzen 446 Menschen aus Seenot gerettet hat, benötigt dringend einen Anlegeplatz, um die Menschen an Land zu bringen und zu versorgen. Viele Menschen an Bord der privaten Seenotrettungsschiffe sind dehydriert und weisen Verbrennungen durch das Gemisch von Salzwasser und Benzin auf, das sich oftmals in den volllaufenden Schlauchbooten bildet, die für die gefährliche Überfahrt genutzt werden.

In diesem Jahr sind alleine auf der zentralen Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien mindestens 1534 Flüchtlinge ertrunken, 50 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Zudem hat die so genannte libysche Küstenwache nach Angaben der IOM rund 31.500 Flüchtlinge auf See aufgegriffen und nach Libyen zurückgebracht – fast dreimal mehr als 2020, als „nur“ 11.900 Flüchtlinge zurück nach Libyen gezwungen wurden.

In der griechischen Ägäis sind in der letzten Woche Dutzende Flüchtlinge ertrunken. Sie waren auf kleinen Booten von der Türkei aus unterwegs und hatten wahrscheinlich versucht, an die italienische Ostküste zu gelangen.

Bereits am vergangenen Mittwoch war nahe der Insel Folegandros ein Boot mit bis zu 50 Flüchtlingen gesunken. Nach Angaben des griechischen Schifffahrtsministeriums berichteten Überlebende, dass das Boot nach einem Maschinenschaden innerhalb von Minuten vollgelaufen und gesunken sei. Nur 13 Flüchtlinge konnten sich auf ein Schlauchboot retten, das am Boot befestigt gewesen war. Bei der eingeleiteten Rettungsaktion wurden nur die Leichen von drei Flüchtlingen geborgen, aber keine weiteren Überlebenden gefunden.

Der Sprecher der griechischen Küstenwache, Nikos Kokkalas, erklärte, die Chancen, weitere Überlebende zu finden, seien äußerst gering. „Wir fürchten, dass die meisten es einfach nicht geschafft haben, das sinkende Boot rechtzeitig zu verlassen, und mit in die Tiefe gerissen wurden“. Unter den 13 Überlebenden, die aus dem Irak, Syrien und Ägypten geflohen sind, befanden sich vier Heranwachsende und eine Frau.

Nur einen Tag später sind bei zwei weiteren Schiffsunglücken mindestens 27 Flüchtlinge in griechischen Gewässern gestorben. Ein Boot mit mehr als 100 Flüchtlingen an Bord war nahe der Felseninsel Andikythira auf ein Riff gelaufen. Elf Menschen konnten nur noch tot aus dem Meer geborgen werden. Unter den 90 Überlebenden, die sich auf die winzige Insel retten konnten, sind 27 Kinder und elf Frauen.

Und nur wenige Stunden später kenterte vor der Kykladeninsel Paros ein Segelboot mit rund 90 Flüchtlingen an Bord. Die griechische Küstenwache barg 16 Leichen aus dem Meer und konnte 63 Flüchtlinge retten.

Der griechische Schifffahrtsminister Giannis Plakiotakis gab den Schleusern, die die Überfahrten organisiert hatten, die Schuld für diese tragischen Schiffsunglücke. Ihnen sei, so Plakiotakis, „das menschliche Leben gleichgültig und sie stapeln Dutzende von Menschen ohne Schwimmwesten in Schiffen, die nicht grundlegendsten Sicherheitsstandards entsprechen“.

Ohne Frage gehen die Schleuser äußerst skrupellos vor. Aber die Verantwortung für die mehr als 20.000 Flüchtlinge, die seit 2014 im Mittelmeer ertrunken sind, liegt bei der Europäischen Union und ihrer mörderischen Flüchtlingspolitik. Die Festung Europa mit ihrer rücksichtslosen Flüchtlingsabwehr ist die Grundlage für das Geschäftsmodell der Schleuser und sie treibt die verzweifelten Flüchtlinge auf immer gefährlichere und längere Routen.

Alle drei der in griechischen Gewässern gekenterten Schiffe waren auf einer eher ungewöhnlichen Route unterwegs. Die meisten Flüchtlinge steuerten bislang von der Türkei aus mit kleinen Schlauchbooten die östlichen Ägäisinseln wie Lesbos, Samos oder Leros an. Doch seitdem die griechische Regierung den schmutzigen EU-Türkei-Flüchtlingsdeal immer rigoroser umsetzt, gnadenlos Flüchtlinge ohne Anhörung des Asylbegehrens abschiebt oder Flüchtlingsschlauchboote in illegalen „Pushback-Aktionen“ zurück Richtung Türkei drängt, ist die Zahl der hier ankommenden Flüchtlinge stark zurückgegangen.

Die Militarisierung der griechischen Land- und Seegrenze zwingt die Flüchtlinge dazu, auf andere Routen auszuweichen. Damit steigt das Risiko, die Überfahrt nicht zu überleben, stark an. Die Inseln Folegandros, Paros und Andikythira, vor denen sich die jüngsten tragischen Schiffsunglücke ereigneten, liegen nördlich von Kreta auf auf einer Route, die an die italienische Küste führt. Auf diesem Weg sind in diesem Jahr bereits 11.000 Flüchtlinge nach Italien gelangt. Es gibt allerdings keine offiziellen Angaben darüber, wie viele Flüchtlinge dabei ihr Leben verloren haben.

Die Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) in Athen, Stella Nanou, erklärte, die jüngsten Schiffbrüche machten deutlich, „dass Menschen weiterhin ihr Leben riskieren, indem sie auf der Suche nach Schutz verzweifelte Reisen antreten. Wenn es legale und sichere Routen gäbe, dann hätten diese Flüchtlinge eine Wahl.“ Momentan aber, so Nanou weiter, seien diese Menschen mit dem „unlösbaren Dilemma konfrontiert“, entweder in ihren Herkunftsorten ihr Leben zu riskieren oder sich auf die gefährliche Reise zu machen.

Und die EU schottet sich immer weiter ab. Zuletzt hat sie im Zuge der Flüchtlingskrise an der polnisch-belarussischen Grenze das Asylrecht so weit ausgehöhlt, das es faktisch nicht mehr existiert. Entgegen der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention hat die EU-Kommission den EU-Grenzstaaten erlaubt, Asylsuchende zu inhaftieren, in Lager zu konzentrieren und dort ein verkürztes Asylverfahren ohne rechtsstaatliche Garantien durchzuführen. Gleichzeitig werden Unterbringungsstandards und die Versorgung der Flüchtlinge unterlaufen, Abschiebungen erleichtert und illegale Pushbacks ermöglicht.

Wie in der Pandemie ist auch das Massensterben im Mittelmeer das Ergebnis einer bewussten Politik, die über Leichen geht. Die Seenotrettungsaktionen wurden von europäischen Mittelmeeranrainerstaaten weitgehend eingestellt. Verzweifelte Flüchtlinge, die in Seenot geraten und Hilfe anfordern, werden oftmals an die von der EU ausgebildete und hochgerüstete libysche Küstenwache verwiesen. Sie besteht im Wesentlichen aus Milizen, die von Warlords geführt werden, und ist für ihre schweren Menschenrechtsverbrechen berüchtigt.

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