Der 21-jährige Kurde Mohamed Shekha Ahmad, einer der beiden Überlebenden des Bootsunglücks im Ärmelkanal am 24. November, enthüllte am Montag gegenüber der kurdischen Nachrichtenagentur Rudaw, dass die französische und britische Polizei die verzweifelten Hilferufe der ertrinkenden Flüchtlinge ignorierte.
Diese Aussage entlarvt die zynischen Lügen von Premierminister Boris Johnson, dem französischen Premierminister Jean Castex und dem französischen Innenminister Gérald Darmanin, für die Todesfälle seien Schleuser verantwortlich.
Die Gruppe von 33 bis 35 Migranten kam um etwa 18 Uhr an der französischen Küste vor Dünkirchen an. Unter ihnen waren 15 irakische Kurden, vier iranische Kurden, vier Somalis, vier Äthiopier, zwei Ägypter und eine Person aus Vietnam. Auch mehrere Frauen und Kinder waren dabei, darunter ein dreijähriges Mädchen und zwei junge Kurdinnen namens Maryam Nuri Mohamad Amin und Muhabad, die zu ihren Verlobten in Großbritannien wollten. Mohamed hatte die Hoffnung, in Großbritannien als Bauarbeiter Geld für die Behandlung seiner Schwester Fatima zu verdienen, deren Bandscheiben an der Wirbelsäule zusammengewachsen sind.
Die Gruppe verließ Frankreich zwischen 20 und 22 Uhr an Bord eines unsicheren aufblasbaren Schlauchboots, doch einige Stunden später verlor es massiv an Luft und große Mengen Wasser flossen in das Boot.
Mohamed schildert: „Das Boot verlor auf der rechten Seite Luft. Einige versuchten, es wieder aufzupumpen, andere schöpften das Wasser raus. Nach einiger Zeit riefen wir die französische Polizei und meldeten: ,Helft uns, unsere Pumpe funktioniert nicht mehr.‘ Wir schickten der französischen Polizei unseren Standort, doch sie sagten: ,Sie sind in britischen Hoheitsgewässern‘... wir riefen die britische Polizei an, aber die sagten uns, wir sollten die Franzosen anrufen. Zwei Leute riefen an, einer in Frankreich, einer in Großbritannien.“
Sowohl die französische als auch die britische Polizei weigerten sich, den Flüchtlingen zu helfen, sondern ließen sie im eisigen Meer ertrinken. Mohamed erklärte: „Die Briten hätten an Bord kommen sollen, weil wir im Ärmelkanal untergegangen sind. Sie haben uns nicht geholfen und nichts für uns getan.“ Das Schlauchboot habe britische Gewässer erreicht, sagt Mohamed: „Die britische Polizei hat uns nicht geholfen, die französische behauptete, sie könnten nicht kommen, weil wir in britischen Gewässern seien. Als wir langsam untergingen, verloren die Leute die Hoffnung und gaben auf. Dann trugen uns die Wellen nach Frankreich zurück.“
Mohamed erklärte, die Migranten hielten sich anfangs aneinander fest, um nicht von der Gruppe abzutreiben oder unterzugehen. Er erinnert sich noch gut daran, wie sie in die Nacht hinausriefen: „Bitte Gott, rette uns! Bitte Gott, rette uns!“
Er sagt: „Alle hielten es bis Sonnenaufgang aus, als es wieder hell wurde. Danach konnten sie nicht mehr und gaben auf. Ein Mann aus Ranya war bei mir.“ Die beiden waren Kurden im gleichen Alter und hatten sich versprochen, einander nicht loszulassen. „Ich sagte, ich lasse deine Hand nicht los. Er sagte: ,Ich gehe vor dir.‘ Ich habe ihn nicht wiedergesehen.“
Mohamed sah Fotos von einer Familie mit einer dreijährigen Tochter aus Darbandikhan in der irakischen Provinz Suleimaniya und bestätigte, dass sie an Bord des Schlauchboots waren: „Das ist das kleine Mädchen. Sie waren bei uns. ... Ich selbst habe dem Tod ins Auge gesehen. Ich dachte nur an meinen Vater und meine Mutter.“
Etwa 12 Stunden nachdem das Schlauchboot zu sinken begonnen hatte, fanden französische Fischerboote das Wrack und alarmierten eine Fähre, die die Leichen und die Überlebenden aus dem Wasser holte.
Das britische Innenministerium erklärte auf Anfrage von Rudaw, Mohameds Schilderung sei „völlig wahrheitswidrig“. Ein Sprecher des Innenministeriums sagte: „Die Behörden hier bestätigten letzte Nacht, dass sich der Vorfall weit in den französischen Hoheitsgewässern ereignete. Sie führten den Rettungsversuch weiter, setzten aber einen Hubschrauber zur Unterstützung der Such- und Rettungsmission ein, nachdem sie alarmiert worden waren.“ Der Sprecher forderte Rudaw auf, wegen näherer Details bei der britischen Küstenwache nachzufragen.
Die britische Küstenwache antwortete nicht auf die Fragen von Rudaw. Auch die französischen Behörden ignorierten eine Bitte der Nachrichtenagentur um einen Kommentar.
Weitere Schilderungen der Katastrophe bestätigen Mohameds Darstellung. Der zweite Überlebende, ein Somali namens Mohamed Isa Omar, berichtete ebenfalls, dass die Flüchtlinge sowohl die britischen als auch die französischen Behörden kontaktiert hätten: „Die meisten Hilferufe gingen nach Großbritannien. ... Sie konnten uns hören, wir riefen um Hilfe, nicht einmal, sondern zweimal. Wir sind in britischen Hoheitsgewässern untergegangen.“
Ein Verwandter eines der kurdischen Opfer, der als Namen „Taha“ angab, bestätigte Mohameds Schilderung in einem Telefoninterview mit Rudaw aus dem Irak.
Taha erklärte, er sei per Telefon mit den Migranten in Kontakt gestanden und habe ihren Standort per Facebook verfolgt. Er schilderte: „Sie bekamen um 1:30 Uhr morgens britischer Ortszeit Probleme mit dem Schlauchboot. Ich hatte bis 2:40 Uhr Kontakt mit ihnen... Sie waren fünf Kilometer innerhalb der britischen Gewässer. ... 45 Minuten bevor sie ertranken, riefen sie an und erklärten, sie seien in britischen Gewässern, könnten sich aber nicht weiterbewegen. Sie ertranken in britischen Gewässern und die Wellen trugen die Leichen in französische Gewässer.“
Taha schloss aus, dass die britische oder französische Polizei die Hilferufe der ertrinkenden Migranten falsch verstanden haben könnte, und erklärte: „Es waren auch Ausländer dabei, die gut Englisch sprachen. Sogar die 15-jährige Kurdin aus Darbandikhan sprach gut Englisch.“
Zum Schluss erklärte Taha: „Was passiert ist, ist ein Verbrechen, das ist nicht Schicksal und nicht der Wille Gottes. Ein Verbrechen der beiden Staaten.“
Diese Schilderungen entlarven die entsetzliche Menschenverachtung der herrschenden Klasse Frankreichs, Großbritanniens und ganz Europas. Nach 30 Jahren Nato-Kriegen und Interventionen im Nahen Osten und Afrika seit dem Golfkrieg gegen den Irak 1991 gibt es weltweit mehr als 82 Millionen Vertriebene, so viele wie noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die europäischen Mächte stehen diesem großen Teil der Menschheit, so groß wie die Bevölkerung Deutschlands, mit mörderischer Feindschaft gegenüber.
Die europäische Grenzschutzbehörde Frontex hat Rettungsoperationen für Flüchtlingsschiffe im Mittelmeer unterbunden. Seit 2014 sind nachweislich 22.594 Migranten beim Versuch ertrunken, von Afrika oder dem Nahen Osten aus über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, um vor den imperialistischen Interventionen im Irak, Somalia, Syrien oder Libyen, der blutigen, von der Nato unterstützten Militärdiktatur in Ägypten oder vor Armut und Arbeitslosigkeit zu fliehen. Die EU hat auf den griechischen Inseln, in Bosnien und auf den Kanaren ein Netzwerk von Internierungslagern errichtet, in denen die Überlebenden der Überquerungsversuche gefangen gehalten werden.
Die offizielle Kampagne gegen „Schleuser“ wird ebenso als Lug und Trug entlarvt wie die Behauptungen der Nato-Mächte, große Sympathie für die Kurden zu empfinden. In den letzten zehn Jahren wurden potenzielle Gefahren für Kurden als Vorwand für Nato-Militäreinsätze in Syrien und dem Irak benutzt, in denen Milliarden Dollar verschwendet wurden, um Tausende von Soldaten zu mobilisieren und ganze Städte zu zerbomben. Doch wenn es nicht um einen Kriegsvorwand geht, sondern um die Entsendung von Booten, um 30 Menschen ein paar Kilometer vor der Küste von zwei der reichsten Länder Europas zu retten, wird nichts unternommen.
Nach einem Streit zwischen London und Paris um Johnsons Forderung, Frankreich solle in Großbritannien ankommende Migranten zurücknehmen, bereiten beide Regierungen Berichten zufolge den Einsatz von Frontex im Ärmelkanal vor. Arbeiter aus ganz Europa und der Welt müssen die Migranten verteidigen, gegen die verschärfte polizeiliche Unterdrückung kämpfen und ihr Recht auf Leben, Studium und Arbeit in jedem Land ihrer Wahl verteidigen.