Am Mittwochnachmittag kamen im Ärmelkanal nahe der französischen Hafenstadt Calais mindestens 27 Menschen ums Leben, als ihr aufblasbares Schlauchboot in stürmischer See kenterte. Berichte hatten zunächst von 31 Toten gesprochen, doch diese Zahl wurde am Donnerstag von der französischen Regierung nach unten korrigiert.
Französische Fischer berichteten, sie hätten am Mittwochnachmittag reglose Körper im Meer treiben sehen. Sky News berichtete: „Der Fischer Nicolas Margolle erklärte, er habe zwei kleine Schlauchboote gesehen – eines mit Insassen, das andere leer. Er erklärte, ein anderer Fischer habe die Seenotrettung alarmiert, nachdem er das leere Schlauchboot und fünfzehn leblose Menschen im Wasser gesehen hatte.“
Der französische Innenminister Gerald Darmanin bestätigte, dass sich auf dem Boot 34 Menschen befanden: „Unter den 31 Toten befanden sich nach unserem Kenntnisstand fünf Frauen und ein junges Mädchen.“ Zwei Personen wurden gerettet, eine weitere wird vermisst. Über die Überlebenden sagte Darmanin: „Es gibt zwei Überlebende... aber sie leiden an schwerer Unterkühlung und schweben in Lebensgefahr.“ Weiter erklärte er, das Schlauchboot der Flüchtlinge sei „sehr fragil“ gewesen, „wie ein aufblasbares Schwimmbecken für den Garten.“
Laut der Internationalen Organisation für Migration handelt es sich um den Einzelvorfall mit den meisten Todesopfern im Ärmelkanal seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2014.
Die Verantwortung für die Todesopfer liegt bei den Regierungen des britischen Premierministers Boris Johnson und des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Die Flüchtlinge, die vor imperialistischen Kriegen und schrecklichem Elend fliehen, werden von London, Paris und allen anderen europäischen Regierungen systematisch verfolgt. Dieses Jahr haben mehr als 25.700 Menschen in kleinen Kähnen und aufblasbaren Booten die gefährliche Reise über den Ärmelkanal, die am stärksten befahrene Seefahrtsroute der Welt, nach Großbritannien gewagt, was einem Anstieg um 300 Prozent entspricht. Alleine am Mittwoch haben es erneut 25 Boote versucht.
Das Ausmaß der Katastrophe zeigt sich in der Tatsache, dass bisher der Tod von fünf iranischen Kurden im Oktober letzten Jahres der Vorfall mit den meisten toten Flüchtlingen im Ärmelkanal war. Mit 27 ist die Zahl der Todesopfer nahezu doppelt so hoch wie die Gesamtzahl von vierzehn Menschen, die dieses Jahr beim Versuch gestorben sind, von Frankreich den Ärmelkanal zu durchqueren.
London und Paris erklärten einmütig, dass Schleuser für die Tode verantwortlich seien, und dass ein härteres Vorgehen gegen Migranten die Antwort sei.
Bei einer Pressekonferenz in Calais bestätigte Darmanin, dass die Toten die „bisher größte (Migrations-)Tragödie“ darstellen. Danach erklärte er: „Es ist eine erschütternde Situation für Frankreich, Europa und die Menschheit, dass diese Leute wegen den Schleusern im Meer umkommen.“
Er wies sogar stolz darauf hin, dass seit Anfang 2021 etwa 1.500 Personen verhaftet wurden, die in Zusammenhang mit den Todesfällen im Meer stehen, vier davon am Mittwoch.
Präsident Macron erklärte, Frankreich werde „nicht zulassen, dass der Ärmelkanal ein Friedhof wird“ und versprach, „die Verantwortlichen zu finden und zu verurteilen“. Er forderte eine „Krisensitzung der von Migrationsfragen betroffenen europäischen Minister.“
Auch Premierminister Jean Castex betonte, die Toten seien die Opfer „krimineller Schleuser“.
Der britische Premierminister Boris Johnson traf sich am Mittwochnachmittag mit dem Notfallkomitee COBRA und erklärte später, er sei „erschüttert, schockiert und zutiefst traurig über den Verlust von Menschenleben im Ärmelkanal... Doch ich möchte auch erklären, dass diese Katastrophe zeigt, wie gefährlich es ist, auf diese Weise den Ärmelkanal zu durchqueren.“
Weiter erklärte er, es seien weitere Maßnahmen nötig, um „Gangster“ zu stoppen. „Wir hatten Schwierigkeiten, einige unserer Partner, vor allem die Franzosen, davon zu überzeugen, die Dinge so anzugehen, wie es die Situation unserer Meinung nach erfordert.“ Die Operation wurde von unseren Freunden an den Stränden durchgeführt, unterstützt mit 54 Millionen Pfund aus Großbritannien, um den Patrouillen am Strand die notwendige technische Unterstützung zu bieten, aber es war nicht genug.“
Er machte deutlich, dass seine Regierung die tragischen Todesfälle ausnutzen wird, um die Verabschiedung eines drakonischen Gesetzentwurfs gegen Immigranten im Parlament zu forcieren und fügte hinzu: „Und deshalb ist es so wichtig, dass wir möglichst alle Maßnahmen in unserem Borders and Nationalities Bill schneller verabschieden, damit wir zwischen legalen und illegalen Einwanderern unterscheiden können.“ Der Gesetzentwurf erklärt Migranten und Asylsuchende, die versuchen, über den Ärmelkanal nach Großbritannien einzureisen, faktisch zu Verbrechern.
Innenministerin Priti Patel, die Verfasserin des Gesetzentwurfs, bezeichnete die Todesfälle als „eindringlichste Erinnerung, wie gefährlich diese von rücksichtslosen kriminellen Banden organisierten Kanalüberquerungen sind. Deshalb wird das neue Einwanderungsgesetz unser kaputtes Asylsystem überholen und viele der seit Langem bestehenden Pull-Faktoren beseitigen, die Migranten dazu verleiten, die gefährliche Reise von Frankreich nach Großbritannien zu wagen.“
Die Organisation Freedom From Torture bezeichnet den Nationality and Borders Bill als „den größten juristischen Angriff auf das internationale Flüchtlingsrecht, das es in Großbritannien je gegeben hat.“
Zwischen der oppositionellen Labour Party und den Tories bestehen keine grundlegenden Differenzen. Beispielhaft dafür ist der Vorwurf von Sir Keir Starmer an Patel, sie habe „absolut nichts geliefert“, weil sie keine „ausreichend starken Abkommen mit Frankreich“ ausgehandelt habe, „um die Arbeit weiter vorne“ zu erledigen.
Schatteninnenminister Nick Thomas-Symonds erklärte gegenüber der BBC zu den Todesfällen vom Mittwoch: „Die Vorstellung, dass die ganze Küste durch Patrouillen gesichert werden kann, ist unrealistisch. Wir müssen auch in Entfernung von der Küste praktische Maßnahmen zur Strafverfolgung ergreifen. Wir müssen dabei enger mit den französischen Behörden zusammenarbeiten, und weiter im Inland.“
Hilfsorganisationen für Migranten machen hingegen unmissverständlich Johnson, Macron und ihre europäischen Amtskollegen verantwortlich.
Zoe Gardener vom Joint Council for the Welfare of Immigrants erklärte gegenüber der BBC, „Asylsuchende sind nicht verpflichtet, ihr Asyl im ersten Land zu beantragen, in das sie kommen. Natürlich nicht, andernfalls würde niemand Schutz in Großbritannien suchen.“
Sie erklärte, Großbritannien könne „viel mehr Flüchtlingen Schutz bieten als wir es derzeit tun. Wenn alle in Frankreich bleiben sollen, weil wir etwas weiter westlich sind, dann könnte Frankreich das gleiche zu Italien sagen, und Italien das gleiche zu Libyen. Letzten Endes würde das ganze internationale Flüchtlingsschutzsystem zusammenbrechen.“
Die Vorstandschefin von Safe Passage International Beth Gardiner-Smith forderte Patels sofortigen Rücktritt und rief Johnson auf, weitere Todesopfer zu verhindern: „Immer mehr Menschen riskieren die kalte, beängstigende Reise über den Ärmelkanal in kleinen instabilen Booten, seit die Regierung letztes Jahr die sicheren Routen nach Großbritannien geschlossen hat.“
Clare Moseley, Gründerin von Care4Calais, forderte die Regierung ebenfalls auf, sich mehr auf die Schaffung eines „sicheren und legalen“ Weges zu einem Asylantrag zu konzentrieren. Gegenüber Sky News erklärte sie: „Schleuser sind ein Symptom, aber nicht die Ursache des Problems... Das tiefere Problem ist die Tatsache, dass man in Großbritannien nur Asyl beantragen kann, wenn man physisch anwesend ist, und diese Leute können nicht herkommen. Deshalb steigen sie in diese kleinen Boote.“