Washington und seine imperialistischen Verbündeten erleben ein gewaltiges historisches Debakel, das seit dem Fall von Saigon 1975, als die letzten Amerikaner in Vietnam in Hubschrauber auf dem Dach der US-Botschaft kletterten, ohne Beispiel ist.
Nachdem die Taliban eine Reihe von Städten überrannt hatten, befanden sich am Freitag 20 von 34 Provinzhauptstädten unter ihrer Kontrolle. Am Wochenende folgten die restlichen und am Sonntag fiel auch die Hauptstadt. Die Bilder von Taliban-Kämpfern im Präsidentenpalast von Kabul gingen um die Welt.
Die imperialistischen Regierungen in Washington, London, Paris und Berlin sind fieberhaft damit beschäftigt, Evakuierungskräfte zu entsenden, die ihr im Land verbliebenes Personal vor den Aufständischen retten.
Am Freitag trafen die ersten von rund 3.000 US-Soldaten und Marines, die von der Biden-Regierung zurück nach Afghanistan geschickt wurden, auf dem internationalen Flughafen von Kabul ein. Berichten zufolge haben sie mittlerweile die Kontrolle über den Flughafen verloren.
Weitere 4.000 US-Soldaten werden nach Kuwait geschickt, um möglicherweise sehr bald nach Afghanistan verlegt zu werden. In der Zwischenzeit entsandte auch Großbritannien 600 eigene Soldaten.
Auch Deutschland hat mit einer Evakuierungsmission begonnen. Die ersten Angehörigen würden noch „im Laufe des Tages ausgeflogen“, erklärte Außenminister Heiko Maas (SPD) am Sonntag. Zudem sollten noch in der Nacht Transportflugzeuge der Bundeswehr aufbrechen, „um bei den notwendigen Evakuierungsarbeiten zu unterstützen und diese dann auch in den kommenden Tagen durchzuführen“.
Vorgeblicher Zweck dieser Operationen ist die Evakuierung von US-amerikanischem und britischem Personal aus Afghanistan, was das Pentagon als „Operation zur Evakuierung nicht-militärischen Personals“ („Noncombatant Evacuation Operation“, NOE) bezeichnet. Wie lange die Truppen in dem vom Krieg zerrütteten Land bleiben werden, oder ob sie möglichereise einen weiteren Auftrag haben, wurde nicht bekannt gegeben.
Eine Warnung ist in jedem Fall angebracht. Mit dem Rücken zur Wand sind die gleichen imperialistischen Mächte, die das Land in den letzten Jahrzehnten überfallen, besetzt und weitgehend zerstört haben, zu noch größeren Verbrechen fähig.
In einem bedrohlichen Ton nannte der ehemalige CIA-Direktor und pensionierte Armeegeneral David Petraeus in einem Interview mit WABC Radio am Freitag die sich verschlechternde Sicherheitslage in Afghanistan „katastrophal“ - nicht nur für die USA, sondern für die ganze Welt. „Dies ist ein enormer Rückschlag für die nationale Sicherheit, und sie droht noch viel schlimmer zu werden, wenn wir uns nicht entschließen, wirklich bedeutende Maßnahmen zu ergreifen“.
In Deutschland warnte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen (CDU), der sich bereits zuvor für einen erneuten Kriegseinsatz ausgesprochen hatte, vor den weitreichenden Konsequenzen der Niederlage in Afghanistan: „Das wird eine langfristige Wirkung haben, weil es die Glaubwürdigkeit, die Verlässlichkeit des Westens insgesamt erheblich beeinträchtigt. Ein Versagen mit weitreichenden Folgen.“ Jetzt gehe es „darum, dass wir schnellstmöglich unserer Verantwortung gerecht werden, diejenigen zu retten, die im Land sind.“
Die Rettung von zivilem Personal vor vermeintlichen Bedrohungen wurde schon früher – etwa in Granada und Panama in den 1980er Jahren – als Vorwand für Kriege und Regimewechsel-Operationen angeführt. Der Einsatz von Truppen am Boden folgt auf Luftangriffe, bei denen die USA den Vormarsch der Taliban mit strategischen B-52-Bombern, Drohnen, schwer bewaffneten Kampfflugzeugen des Typs AC-130 und auf Flugzeugträgern stationierten Kampfjets bombardiert haben und die sowohl unter den Kämpfern als auch unter der Zivilbevölkerung schwere Opfer gefordert haben.
Unterdessen warnen Vertreter der US-Regierung die Taliban wiederholt, dass jede „mit Gewalt durchgesetzte Regierung“ als „Pariastaat“ betrachtet werden wird. Was für eine Heuchelei! Als ob das Marionettenregime in Kabul nicht mit exzessiver Gewalt durch das US-Militär durchgesetzt worden wäre.
Welche Taktik der Militär- und Geheimdienstapparat der USA in Koordination mit ihren europäischen Verbündeten auch verfolgen wird: die Rückeroberung Afghanistans durch den Imperialismus würde weit mehr als einige tausend Soldaten erfordern und ein Blutbad nach sich ziehen, das das Massensterben der letzten 20 Jahre in den Schatten stellen würde.
Innerhalb der herrschenden Kreise wird der Vergleich mit Vietnam immer häufiger offen ausgesprochen. Der Führer der Republikaner im US-Senat, Mitch McConnell, erklärte am Donnerstag: „Bidens Entscheidungen haben dazu geführt, dass wir auf eine noch schlimmere Version des demütigenden Falls von Saigon im Jahr 1975 zusteuern.“
Auch in den Medien wird zunehmend für eine Verlängerung der US-Intervention getrommelt. Die Washington Post schrieb am Freitag, dass „Bidens überstürzter Rückzug sowie seine Weigerung, der afghanischen Regierung sinnvollere Hilfe anzubieten, eine Katastrophe riskieren“.
Auch in Deutschland befinden sich Politik und Medien im Kriegsmodus. Sie beklagen den Sieg der Aufständischen und rühren die Propagandatrommel für einen möglichen neuen Einsatz.
„Man darf nicht dabei zuschauen, wie Menschen, die uns lange verbunden waren, von den Taliban abgeschlachtet werden, wie Mädchen und Frauen alle hart erkämpften Rechte wieder verlieren“, ereiferte sich Röttgen gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Vertreter von Linkspartei und Grünen äußerten sich ähnlich. „Es ist unsere Pflicht, die Menschen vor den Taliban zu retten, die ihr Leben riskiert haben, um unseren Soldatinnen und Soldaten zu helfen“, sagte der Grünen-Co-Vorsitzende Robert Habeck der Süddeutschen Zeitung. Der Fraktionsvorsitzende und Spitzenkandidat der Linkspartei für die Bundestagswahl Dietmar Bartsch bedauerte den Fall von Kabul in einem Tweet mit den Worten: „Was für ein Desaster. Bitter, sehr bitter“.
Dabei schaffen es die bürgerlichen Medien und Politiker in Deutschland sogar, den US-Imperialismus von rechts anzugreifen. Es sei ein Fehler Washingtons gewesen, das Land Hals über Kopf zuverlassen und das Vorgehen nicht einmal mit den eigenen Verbündeten abzustimmen lautet das Mantra.
Die gesamte Menschenrechtspropaganda und die zynischen Versuche, eine Kampagne unter der Überschrift „Wer hat Schuld an der Niederlage in Afghanistan?“ zu starten, können nicht über das Ausmaß der demütigenden Niederlage des US-Imperialismus und seiner Verbündeten hinwegtäuschen.
Die imperialistischen Mächte haben in den Aufbau, die Ausbildung und Bewaffnung der Sicherheitskräfte des afghanischen Regimes 20 Jahre mehr als 100 Milliarden Dollar investiert. Sie sollten den jahrzehntelangen Krieg gegen die Aufständischen nach dem Abzug der USA, der am 31. August formell abgeschlossen sein soll, fortsetzen. In den letzten Wochen sind diese Sicherheitskräfte völlig zusammengebrochen.
Sie haben eine Stadt nach der anderen kampflos aufgegeben. Die afghanischen Truppen haben sich entweder ergeben, ihre Uniformen ausgezogen und sich unter die Zivilbevölkerung gemischt oder sich in einigen Fällen den Aufständischen angeschlossen.
US-Regierungsvertreter bezeichnen das Problem als mangelnden „Willen“ der afghanischen Sicherheitskräfte und ihrer Führung. „Sie müssen für sich selbst und für ihr Land kämpfen“, erklärte Biden Anfang letzter Woche.
Es ist überdeutlich geworden, dass die Masse der afghanischen Bevölkerung zu dem Schluss gekommen ist, dass das Afghanistan, das ihnen von der Besatzung hinterlassen wurde, nicht „ihr Land“ ist. Dazu gehören auch die Soldaten und Polizisten, die unbezahlt, ohne Essen und ohne Versorgung blieben, weil Politiker und ihre Befehlshaber ihre Gehälter und Vorräte stahlen.
Nach 20 Jahre Besatzung und trotz der Aufwendung von weit über einer Billion Dollar ist Afghanistan verarmt, unterentwickelt und von extremer sozialer Ungleichheit zerrissen. Mindestens 70 Prozent der Bevölkerung leben von einem Dollar oder weniger pro Tag, während einige hundert Familien, die mit der Regierung in Verbindung stehen, durch veruntreute Hilfsgelder und lukrative Militäraufträge unermesslich reich geworden sind. Drei Viertel der Bevölkerung leben auf dem Land und können von der Landwirtschaft, die größtenteils der Eigenversorgung dient, kaum leben. Der Hass dieser enteigneten Massen auf die Verbrechen der US-geführten Besatzung und auf die Millionäre und westlichen Marionetten in Kabul verschaffte den Taliban eine nicht versiegende Quelle junger Rekruten – ganz gleich, wie viele von ihnen vom US-Militär und seinen Verbündeten getötet wurden.
Das gestürzte Regime in Kabul wurde von korrupten Exilpolitikern geführt, die mehr als einen Pass in der Tasche tragen und von denen einige weder Paschtu noch Dari, die beiden Hauptsprachen des Landes, sprechen können. Präsident Aschraf Ghani, der mittlerweile außer Landes geflohen ist und sich Medienberichten zufolge in der usbekischen Hauptstadt Taschkent aufhält, verdankte seine Position gefälschten Wahlen, an denen nur ein Bruchteil der Bevölkerung teilnahm, sowie der Unterstützung aus Washington.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Wie zuvor bereits Vietnam hat Afghanistan bewiesen, dass der US-Imperialismus nicht in der Lage ist, sich zum Sieg zu bomben. Bisher hat der Krieg mindestens eine Viertelmillion Opfer gefordert. Die US-Intervention, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York City und Washington unter dem Vorwand des „Kriegs gegen den Terror“ begonnen wurde, wandelte sich innerhalb weniger Monate von einer Jagd auf Al-Qaida – einem in den 1980er Jahren mit Hilfe der CIA geschaffenen Frankenstein-Monster – zu einem Krieg gegen die Bevölkerung, in dem jeder, der als Bedrohung für die US-Besatzung angesehen wurde, als „Terrorist“ behandelt, inhaftiert, gefoltert oder kurzerhand hingerichtet wurde.
Das Debakel in Afghanistan zeigt nicht nur, dass der längste Krieg Washingtons gescheitert ist, sondern die ganze Weltpolitik, die der US-Imperialismus seit mehr als drei Jahrzehnten verfolgt.
Nach der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie in Moskau im Jahr 1991 kam die herrschende Elite der USA zu dem Schluss, dass dem Einsatz der überwältigenden militärischen Überlegenheit der USA bei der Durchsetzung ihrer Vorherrschaft über strategische Regionen des Globus nichts mehr im Wege steht: zunächst Afghanistan, im Zentrum des eurasischen Kontinents und an der Schwelle zum Kaspischen Beckens mit seinen gewaltigen Energiereserven, und dann der Irak mit den fünftgrößten Ölreserven der Welt.
Dahinter stand die Vorstellung, dass der amerikanische Kapitalismus durch eine Politik des Präventivkriegs und des ungezügelten Militarismus den langfristigen Niedergang seiner globalen wirtschaftlichen Vorherrschaft umkehren könnte. Die ersten militärischen Siege in Afghanistan und im Irak haben sich bestenfalls als Pyrrhussiege erwiesen. Durch die Ausgabe von Billionen von Dollar, die Opferung der Leben von mehr als 7.000 US-Soldaten und das Abschlachten von über einer Million Afghanen und Irakern ist es Washington in keinem der beiden Länder gelungen, ein Regime durchzusetzen, das seine Interessen sichern könnte.
Als die sowjetischen Streitkräfte 1989 nach einem zehnjährigen Krieg, der 15.000 Rotarmisten das Leben kostete, Afghanistan verließen, wertete Washington dies als Sieg und feierte es später als Beitrag zum Zusammenbruch der Sowjetunion.
Zbigniew Brzezinski, der nationale Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter und fanatische Antikommunist, hatte 1978 die Politik initiiert, einen islamistischen Aufstand gegen das von der Sowjetunion unterstützte Regime in Kabul zu schüren, um Moskau – in Brzezinskis Worten – sein „eigenes Vietnam“ zuzufügen.
Nach dem Bürgerkrieg in Afghanistan, der bis zu 2 Millionen Menschen das Leben kostete, sagte Brzezinski in einem Interview im Jahr 1998, er bereue nichts: „Was ist wichtiger für die Weltgeschichte? Die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetimperiums? Ein paar aufgewiegelte Muslime oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?“
Washington feierte die Niederlage der Roten Armee in Afghanistan – bekannt als „Friedhof der Imperien“ – als einen Beitrag zum Untergang der Sowjetunion. Die amerikanischen Medien haben indessen nicht versucht, das Debakel, das der US-Imperialismus im selben Land erlitten hat, unter einem ähnlichen Gesichtspunkt zu analysieren.
Dieses Debakel hat nicht nur den Bankrott des Regimes in Kabul, sondern auch den der Regimes in den imperialistischen Zentren in Washington und Europa offengelegt.
Zwei Jahrzehnte nach dem Einmarsch in Afghanistan sind die westlichen Gesellschaften durch ein erschütterndes Ausmaß an sozialer Ungleichheit, den fortgeschrittenen Verfall demokratischer Herrschaftsformen, der im Putschversuch vom 6. Januar in den USA seinen gewaltsamen Ausdruck fand, und eine mörderische Politik der herrschenden Eliten als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie gezeichnet, der allein in Europa und den USA mehr als 1,7 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Der jahrzehntelange, ununterbrochene Krieg und die unter dem Vorwand des „Kriegs gegen den Terror“ verhängten, antidemokratischen Maßnahmen haben den Rahmen für eine Polizeistaatsdiktatur geschaffen.
Die Geschichte hat gezeigt, dass die Niederlage einer imperialistischen Macht in einem Krieg die Tore für eine soziale Revolution öffnet. Die Reaktion des US-Imperialismus auf die Ereignisse in Afghanistan wird darin bestehen, seine Vorbereitungen für weitaus gefährlichere Kriege, auch gegen das atomar bewaffnete China und Russland, zu intensivieren. Auch die europäischen Mächte und allen voran Deutschland, rüsten sich für Krieg.
Doch das afghanische Debakel und der Umstand, dass die Politik aller etablierten Parteien dadurch völlig diskreditiert wird, wird die wachsende Bewegung der Arbeiterklasse nur stärken.
Die entscheidende Aufgabe besteht darin, eine neue revolutionäre Führung aufzubauen, die die Arbeiterklasse in den USA, Europa und international zu einem revolutionären Kampf gegen den Krieg und dessen Ursache, das kapitalistische System, mobilisieren kann.