Die Niederlage der afghanischen Regierungstruppen gegen die aufständischen Taliban führt in den herrschenden Kreisen der USA zu immer erbitterteren Vorwürfen über die Frage „Wer hat Afghanistan verloren?“ Das Wall Street Journal veröffentlichte am Montag einen Leitartikel, in dem der Rückzug der USA als „Debakel“ bezeichnet wurde. Die Taliban, so lautet der Vorwurf, konnten nur deshalb vorrücken, weil „Biden militärische Ratschläge ignorierte und sich so rücksichtslos und ohne einen Plan zur Verhinderung einer Katastrophe zurückzog“.
Eine militärische Katastrophe dieses Ausmaßes kann jedoch nicht auf das Fehlen eines „Plans“ zurückgeführt werden Die Realität ist, dass der US-Imperialismus den Preis für zwei Jahrzehnte Verbrechen gegen das afghanische Volk zahlt, begangen unter vier aufeinander folgenden US-Regierungen, sowohl unter Führung der Demokraten als auch der Republikaner. Gemeinsam schickten sie eine dreiviertel Million US-Soldaten nach Afghanistan, um dort einen schmutzigen Krieg im Kolonialstil zu führen, in dem nach vorsichtigen Schätzungen mindestens 175.000 Zivilisten getötet wurden. Das Ergebnis dieser Massentötungen sowie der Terrorisierung der Bevölkerung durch die ständige Bedrohung mit Bomben- und Drohnenangriffen, nächtlichen Razzien und der systematischen Folter von Gefangenen führte nur dazu, dass sich die Reihen der Aufständischen immer dichter schlossen.
Innerhalb von nur einer Woche haben die Taliban sechs Provinzhauptstädte eingenommen. Am Freitag eroberten sie Zaranj nahe der iranischen Grenze und Sheberghan im Norden, und am Sonntag nahmen sie drei weitere regionale Hauptstädte ein: Kundus, das Handelszentrum im Norden des Landes, sowie Sar-i-Pul und Taloqan. Am Montag bestätigten lokale Beamte, dass die Aufständischen die Stadt Aybak, die Hauptstadt der Provinz Samgan, und mit ihr die Hauptverbindungsstraße zwischen der Landeshauptstadt Kabul und den nördlichen Provinzen des Landes vollständig unter Kontrolle haben.
Der anhaltende Krieg in den Städten hat den Einfluss des von den USA unterstützten Regimes in Kabul auf einige Viertel und in einigen anderen Zentren auf wenige Straßenzüge reduziert, darunter Lashkar Gah, die Hauptstadt der Provinz Helmand, und Kandahar im Süden. Auch in Herat und Mazar-i-Sharif, der größten Stadt im Norden Afghanistans, finden heftige Kämpfe statt.
Tausende von Streitkräften, die dem von den USA unterstützten Regime in Kabul treu sind, haben sich den Taliban ergeben oder ihre Waffen niedergelegt und ihre Uniformen abgelegt. In einigen Fällen sind sie zu den Aufständischen übergelaufen. Die Taliban behaupten, dass sie in den meisten Fällen in der Lage waren, die Übergabe von Bezirken und Städten ohne Kampfhandlungen auszuhandeln.
Dort, wo es Widerstand gegen die Aufständischen gab, wie in Lashkar Gah und anderen belagerten Hauptstädten, war dieser in hohem Maße Luftangriffen durch US-Kampfflugzeuge geschuldet, die aus der Ferne operierten. Dazu gehörte der Einsatz von strategischen B-52-Bombern, die vom Luftwaffenstützpunkt Al-Udeid in Katar aus flogen, von F/A-18 Super Hornet-Kampfjets, die vom Deck des im Arabischen Meer stationierten Flugzeugträgers USS Ronald Reagan mit Nuklearantrieb starteten, und von AC-130 Specter-Kampfhubschraubern.
Der Einsatz dieser Luftstreitkräfte gegen dicht besiedelte städtische Gebiete wird unweigerlich einen hohen Blutzoll in Form von zivilen Opfern fordern. In Lashkar Gah zerstörten US-Bomben eine Krankenstation und eine Schule, und die Behörden berichteten von 20 toten Zivilisten innerhalb von 48 Stunden. Die afghanischen Sicherheitsbehörden versuchen zwar, den Kontrollverlust der Regierung herunterzuspielen, geben aber die Zahl der Opfer der Luftangriffe an und behaupten, dass Hunderte von Taliban-Kämpfern getötet wurden. Wie viele zivile Opfer in diesen Zahlen enthalten sind, ist nicht bekannt.
Die Gründe für den Erfolg der Taliban lassen sich an der Bilanz der US-Besatzung in Kundus ablesen, die mit fast 350.000 Einwohnern größte Stadt, die in den letzten Wochen von den Aufständischen erobert wurde.
Im Jahr 2001, kurz nach der US-Invasion, ergaben sich die Taliban-Kräfte in Kundus den US-Spezialkräften und einer Miliz, die dem Warlord Rashid Dostum loyal ist. Dostum pferchte die unterlegenen Taliban-Kämpfer in Schiffscontainer und ließ sie nach Sheberghan, in seine Hochburg bringen. Die meisten der rund 2.000 Gefangenen erstickten in den Containern, die noch lebenden wurden erschossen.
Im Jahr 2009 forderte ein deutscher Offizier einen Luftangriff des US-Militärs auf eine Menschenmenge in der Provinz Kundus an, die Treibstoff aus zwei Tanklastwagen abzapfte, die an einer Flussüberquerung feststeckten. Die 500-Pfund-Bomben der USA haben mindestens 142 Zivilisten verbrannt.
Und 2015 legte ein US-amerikanischer Kampfhubschrauber AC-130 langsam und absichtlich ein von Ärzte ohne Grenzen (MSF) betriebenes ziviles Krankenhaus in Kundus in Schutt und Asche, wobei mindestens 42 Patienten und medizinisches Personal getötet und viele weitere verletzt wurden.
Niemand wurde jemals für auch nur eines dieser Verbrechen bestraft. Aber die Überlebenden und die Verwandten, Freunde und Nachbarn derjenigen, die sie nicht überlebten, haben diese sicher nicht vergessen.
Das Regime, das mit diesen Verbrechen verteidigt werden sollte, war nie mehr als eine Marionette der US-Besatzung und eine korrupte Kleptokratie, die eine Schicht von Politikern, Kriegsherren und deren Kumpanen durch die Veruntreuung von westlichen Hilfsgeldern bereichert.
Auf einer Pressekonferenz im vergangenen Monat verteidigte US-Präsident Joe Biden seine Entscheidung, bis auf eine Handvoll Soldaten alle US-Truppen bis Ende dieses Monats aus Afghanistan abzuziehen. Er bestritt vehement, dass es irgendeine Ähnlichkeit zwischen dem Debakel in Afghanistan und dem in Vietnam im Jahr 1975 gäbe. „Das ist nicht im Entferntesten vergleichbar“, sagte er. „Man wird keine Bilder sehen, wo Menschen vom Dach der US-Botschaft in Afghanistan ausgeflogen werden.“
Da sowohl Washington als auch London ihre Bürger am Wochenende aufgefordert haben, den ersten Flug aus Afghanistan zu nehmen, und in den Straßen von Kabul Schießereien ausgebrochen sind, klingen Bidens Beteuerungen zunehmend hohl.
In Vietnam dauerte es noch mehr als zwei Jahre nach dem Abzug der US-Truppen, bis die nordvietnamesischen Streitkräfte und die Nationale Befreiungsfront Saigon einnahmen. In Afghanistan erweist sich das „Worst-Case-Szenario“ der US-Geheimdienste, wonach Kabul innerhalb von drei Monaten nach dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan fallen könnte, allmählich zu optimistisch.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Ein Debakel dieses Ausmaßes stellt nicht nur das Überleben des Regimes in Kabul, sondern auch dasjenige in Washington in Frage. Der Zusammenbruch in Afghanistan ist Teil der Implosion einer Politik, die der US-Imperialismus im Laufe von mehr als drei Jahrzehnten verfolgt hat.
Nach der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie im Jahr 1991 kam die herrschende Klasse in den USA zu dem Schluss, auf die Macht des US-Militärs zu setzen. Der überwältigenden militärischen Macht des US-Imperialismus schien nichts im Wege zu stehen, um die Erosion der globalen Wirtschaftsposition Washingtons aufzuhalten, die sich über Jahrzehnte entwickelt hatte, und um die US-Hegemonie über strategisch wichtige Gebiete der Welt durchzusetzen. Seit dem ersten Golfkrieg und den US-Interventionen im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren befindet sich Washington permanent im Krieg.
Die US-Invasion in Afghanistan im Oktober 2001, die unter dem Vorwand der Vergeltung für die Anschläge vom 11. September begonnen wurde, war lange vor dem Einsturz der Zwillingstürme vorbereitet worden. Das strategische Ziel des Krieges war nicht die Vernichtung von Al-Qaida, einem Frankenstein-Monster, das durch den von der CIA orchestrierten Krieg gegen die sowjetischen Streitkräfte in Afghanistan in den 1980er Jahren erst geschaffen wurde. Vielmehr ging es darum, die militärische Macht der USA in Zentral- und Südasien zu stärken, indem die Kontrolle über ein Land übernommen wurde, das nicht nur an die ölreichen ehemaligen Sowjetrepubliken des Kaspischen Beckens, sondern auch an China und den Iran grenzt.
Unter dem Slogan des „Kriegs gegen den Terror“ oder dem, was der damalige US-Präsident George W. Bush als „die Kriege des 21. Jahrhunderts“ bezeichnete, beanspruchten die USA das Recht, in jedes Land einzumarschieren, das sie als Bedrohung ihrer globalen Interessen ansah. Innerhalb von weniger als zwei Jahren nach der Invasion in Afghanistan wurde das US-Militär auf der Grundlage von Lügen über nicht existierende „Massenvernichtungswaffen“ in den Irakkrieg geschickt. Sowohl in Libyen, dem Land mit den größten Ölreserven Afrikas, als auch in Syrien wurden unter dem heuchlerischen Banner der „Menschenrechte“ Kriege mit dem Ziel des Regimewechsels geführt.
Diese Kriege haben Millionen von Menschen getötet und verstümmelt, zig Millionen zu Flüchtlingen gemacht und ganze Gesellschaften vernichtet. Sie haben die hegemonialen Ziele Washingtons nicht erreicht und ähnliche Katastrophen herbeigeführt wie jene, die sich jetzt in Afghanistan abspielt.
Die Debakel, die der „Krieg gegen den Terrorismus“ mit sich brachte, haben das Wachstum des amerikanischen Militarismus keineswegs aufgehalten, sondern nur den Weg für die Verlagerung der globalen US-Strategie auf „Großmachtkonflikte“ geebnet, in erster Linie die Konfrontation mit den Atommächten China und Russland. Der Rückzug aus Afghanistan dient nicht dazu, den längsten Krieg der USA zu beenden, sondern ist vielmehr dazu da, die Ressourcen des Pentagons auf das Südchinesische Meer, Osteuropa und die Ostsee zu verlagern.
Hinter dem Ausbruch des amerikanischen Militarismus und der wachsenden Gefahr eines dritten Weltkriegs steht die unlösbare Krise des US- und des Weltkapitalismus, die ihren schärfsten Ausdruck in der Politik der „Herdenimmunität“ und des sozialen Mords findet, die von den herrschenden Klassen in den USA und international als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie betrieben wird. Das unerbittliche Streben nach Profit auf Kosten des menschlichen Lebens hat den unüberbrückbaren Widerspruch zwischen dem Kapitalismus und den Bedürfnissen der arbeitenden Bevölkerung in der ganzen Welt offenbart und gleichzeitig einen wachsenden Klassenkampf ausgelöst.
Dieser Kampf der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten und international ist die objektive Grundlage für eine Bewegung gegen die Kriegstreiberei des US- und Weltimperialismus. Dringend wird eine revolutionäre Führung benötigt, die diese Bewegung mit einer sozialistischen und internationalistischen Perspektive ausstatten kann. Erforderlich ist der Aufbau einer Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in jedem Land.