Spontane Streikwelle von Tausenden Arbeitern der türkischen Elektrizitätswerke

In vielen türkischen Städten haben Tausende Arbeiter der Energiebranche spontane Streiks gegen die miserablen Tarifverträge begonnen, die ihnen inmitten der sozialen Krise, ausgelöst durch die Corona-Pandemie, aufgezwungen wurden.

Nachdem 2.000 Arbeiter des Energiekonzerns Bedaş in Istanbul trotz eines Streikverbots am 30. April einen spontanen Streik begonnen hatten, haben jetzt Tausende Beschäftigte der Elektrizitätswerke in Istanbul, Ankara, Adana und Zonguldak spontan die Arbeit niedergelegt. Sie protestieren gegen den Ausverkauf, den die Gewerkschaft Tes-İş, die dem Gewerkschaftsbund Türk-İş angehört, in den Tarifverträgen für sie ausgehandelt hat.

In den letzten Tagen haben Elektrizitätsarbeiter in mehreren Städten Massenproteste organisiert gegen die Versuche der Gewerkschaft, die Pläne für einen Ausverkauf vor ihnen zu verbergen. Inspiriert wurden sie dazu von den Arbeitern bei Bedaş. Der Lohn für Elektrizitätsarbeiter liegt generell nahe dem Mindestlohn, d.h. knapp über 3.000 türkischen Lira (ca. 291 Euro).

Am 29. Juni kündigte die Gewerkschaft ihre vierte Verhandlungsrunde mit dem Unternehmen EnerjiSA in dessen Niederlassungen Istanbul (Ayedaş), Ankara (Başkent) und Adana (Toroslar) an. Sie erklärte, sie habe das Angebot des Arbeitgebers erhalten und schnellstmöglichen Verhandlungen zugestimmt.

Ayedaş-Arbeiter in Istanbul, die das Angebot des Unternehmens nicht akzeptierten, versammelten sich vor dem Hauptsitz von Sabancı Holding, der Muttergesellschaft von EnerjiSA, obwohl die Gewerkschaft Tes-İş Einwände dagegen hatte. Sabancı Holding, eines der größten Privatkonglomerate der Türkei, hat in vielen Städten die Energieversorger aufgekauft.

Am Donnerstag versammelten sich die Arbeiter vor den Büros von EnerjiSA im Istanbuler Stadtteil Maltepe mit einem Transparent, auf dem stand: „Wir akzeptieren diesen Sklavenvertrag nicht. Wir wollen einen existenzsichernden Lohn.“ Sie wiesen darauf hin, dass EnerjiSA laut Vorstandschef Murat Pınar zwar in den ersten sechs Monaten 2021 um 48 Prozent gewachsen ist, ihre Lohnerhöhung aber unter der offiziellen Inflationsrate liegt. Gewerkschaftsvertreter, die vor den Arbeitern sprechen wollten, wurden ausgebuht.

Auch in der Hauptstadt Ankara demonstrierten die Elektrizitätsarbeiter. Nachdem die Gewerkschaft angekündigt hatte, sie habe hinter dem Rücken der Arbeiter eine „grundsätzliche“ Vereinbarung getroffen, protestierten die Arbeiter am 7. Juli vor der Tes-İş-Gewerkschaftszentrale. Sie veranstalteten eine Sitzblockade, kehrten der Gewerkschaftszentrale kurzzeitig den Rücken zu und drangen danach in das Gebäude ein, wobei sie skandierten: „Das Gewerkschaftsmanagement sollte zurücktreten!“ Mitglieder des Gewerkschaftsmanagements wurden ausgebuht und der Protest bis zum Abend fortgesetzt.

Ein Arbeiter erklärte vor der Presse: „Die Strompreise sind um 122 Prozent gestiegen, aber unsere Gewerkschaft fordert eine Erhöhung um neun Prozent für die ersten sechs Monate und fünf Prozent für die nächsten sechs Monate. Ich bin während der Arbeit fast gestorben.“ Ein Kollege fügte hinzu: „Ich habe seit 2008 drei Kollegen verloren.“

Am Freitagmorgen versammelten sich die Arbeiter, legten die Arbeit nieder und skandierten: „Wir wollen keine Erhöhung des Elends.“ Aus Angst vor der militanten Haltung der Arbeiter versuchten Gewerkschaftsfunktionäre erfolglos, die Arbeiter dazu zu bringen, die Arbeit wiederaufzunehmen. Die Arbeiter protestierten außerdem gegen die schrecklichen Sicherheitsbedingungen am Arbeitsplatz und zahlreiche Todesfälle. Ein Arbeiter erklärte: „Es sollte nicht jeden Tag Tote geben.“

In Zonguldak an der westlichen Schwarzmeerküste traten die Elektrizitätsarbeiter am Freitagmorgen in einen spontanen Streik, nachdem sie am Mittwoch gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen und die Zusammenarbeit zwischen der Gewerkschaft und EnerjiSA protestiert hatten. Die Arbeiter verdeutlichten ihre Kampfbereitschaft mit der Parole: „Das ist nur der Anfang, es kommt noch mehr.“

Die Proteste und Streiks dehnten sich auch auf Adana aus, wo sich der Nato-Luftwaffenstützpunkt Incirlik befindet. Am Mittwoch und Donnerstag protestierten Hunderte von Arbeitern mit Parolen gegen die Gewerkschaft Tes-İş, nachdem diese einen Ausverkauf unterzeichnet hatte, der eine Lohnerhöhung von neun Prozent für das erste und weitere sechs Prozent für das zweite Halbjahr vorsieht.

Die Arbeiter skandierten: „So eine Gewerkschaft wollen wir nicht.“ Einer erklärte gegenüber der Presse: „Wir arbeiten stundenlang in großer Hitze. Alles wird erhöht, nur unsere Löhne sinken. Wir haben zwei Jahre auf diesen Tarifvertrag gewartet. Die reale Inflationsrate liegt bei etwa 30 Prozent, aber wir bekommen eine Lohnerhöhung von neun und sechs Prozent. Mit diesem Tarifvertrag wurde unsere Arbeit und unser Schweiß verkauft.“

Die Gewerkschaftsführung versuchte, die Arbeiter mit der Behauptung zu beschwichtigen, es werde noch Verhandlungen geben, da der Vertrag noch nicht unterschrieben sei. Allerdings wurden die Arbeiter vor der Gewerkschaftszentrale von Tes-İş in Adana von der Polizei bedroht. Am Freitagmorgen legten die Arbeiter nach einer einstündigen Protestveranstaltung die Arbeit nieder und erklärten, sie würden erst wieder an die Arbeit gehen, wenn ihre Forderungen erfüllt sind. Einer von ihnen erklärte: „Ich werde nicht mehr schweigen. Genug ist genug!“

Am Donnerstag erklärte Süleyman Keskin, der Vorsitzende der Konkurrenzgewerkschaft Enerji-Sen von der Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei (DİSK), in einem Interview mit Yol TV: „Unsere Kollegen mögen es nicht, wenn Tarifverhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfinden und Verträge ausgehandelt werden, denen sie nicht zugestimmt haben.“ Keskin verschwieg jedoch die Tatsache, dass auch die DİSK hinter verschlossenen Türen mit Unternehmen verhandelt und kooperiert, und dass in vielen Branchen auch die Wut der Arbeiter auf die DİSK wächst.

Im April endete der Streik der Bedaş-Arbeiter in Istanbul mit einer Niederlage, weil Druck ausgeübt wurde, eine andere Gewerkschaft zu unterstützen, nämlich die Enerji-Sen. Jetzt fordern die Bedaş-Arbeiter in ihrer Social-Media-Gruppe ein gemeinsames Vorgehen mit den Arbeitern in anderen Städten, doch ihre neue Gewerkschaft Enerji-Sen schweigt. Sie hält sich streng an das Streikverbot in der Energiebranche und organisiert lediglich wirkungslose symbolische Aktionen außerhalb der Arbeitszeit, um die Militanz der Arbeiter zu zügeln.

Die Rebellion der Elektrizitätsarbeiter gegen die Gewerkschaften und die Missachtung des Streikverbots ist Teil eines internationalen Auflebens des Klassenkampfs. Während sich die internationale herrschende Klasse mit einer kriminellen „Profite vor Leben“-Politik während der Pandemie massiv bereichert hat, nahmen die sozialen Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu, zusätzlich zu den Masseninfektionen und dem Massensterben.

Während die Gewerkschaften im Auftrag der herrschenden Klasse und des Staats versuchen, die Arbeiter in die Niederlage zu führen, wächst die Wut der Arbeiter über diese reaktionäre Zusammenarbeit. Sie nehmen in wachsendem Maße den Kampf gegen die Bedingungen auf, die ihnen aufgezwungen werden, und suchen einen Ausweg.

In den USA haben die Arbeiter bei Volvo dreimal mit überwältigender Mehrheit einen Tarifvertrag abgelehnt, den die United Auto Workers (UAW) ausgehandelt hat, und durch die Gründung ihres eigenen Aktionskomitees ein internationales Beispiel gesetzt. Auch im belgischen Gent legten die Volvo-Arbeiter am Donnerstag aus Protest gegen die von den Gewerkschaften unterstützte Verlängerung der Wochenarbeitszeit die Arbeit nieder.

In der Türkei hatten die Arbeiter bei Bedaş vor kurzem trotz des Streikverbots die Arbeit niedergelegt. Bei dem Unternehmen TPI Composite wurden Arbeiter entlassen, die einen von der Gewerkschaft ausgehandelten Ausverkauf ablehnten. In Soma hatten Bergarbeiter vor kurzem versucht, nach Ankara zu ziehen, weil sie seit Jahren auf ihre Abfindung warten, doch die Polizei verwehrte ihnen den Zugang zur Stadt. Auf dem Rückweg starben der Vorsitzende der Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft, Tahir Çetin, und der Bergarbeiter Ali Faik bei einem Verkehrsunfall, Berichten zufolge aufgrund von Erschöpfung. Die Todesfälle verstärkten die Wut der Arbeiter noch mehr.

Ein Ende des Streikverbots, Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen und eine echte Lohnerhöhung sind nicht mit Gewerkschaften möglich, die zum verlängerten Arm der Unternehmen und des kapitalistischen Staats geworden sind. Ebensowenig kann man sich auf ein national basiertes Programms stützen, wie es die Gewerkschaften und ihre pseudolinken Unterstützer vertreten.

Elektrizitätsarbeiter müssen ihre eigenen, von den Gewerkschaften unabhängigen Aktionskomitees gründen und sich der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees anschließen, die das Internationale Komitee der Vierten Internationale ins Leben gerufen hat, um ihre Kämpfe mit denen ihrer Klassenbrüder in der Türkei und der ganzen Welt zu koordinieren.

Dieser Kampf dient der Organisation einer viel größeren internationalen Gegenoffensive der Arbeiterklasse mit einem sozialistischen Programm, dessen Ziel die Verstaatlichung zentraler Bereiche wie der Energiebranche und der Aufbau der Arbeitermacht im Rahmen des Kampfs für den weltweiten Sozialismus ist.

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