Am Freitag traten Tausende Arbeiter des Energieunternehmens Boğaziçi Elektrik Dağıtım AŞ (Bedaş), das die europäische Seite von Istanbul mit Strom versorgt, in einen spontanen Streik gegen die Armutslöhne, die eine unternehmensnahe Gewerkschaft im jüngsten Tarifvertrag ausgehandelt hat. Damit widersetzten sie sich einem offiziellen Verbot von Streiks in der Energiebranche.
Die türkische Regierung, der Bedaş-Konzern und die Gewerkschaft Tes-İş befürchten, dass dies andere Arbeiter in der Türkei und weltweit zum Widerstand gegen die tödliche „Herdenimmunitäts“-Politik und die wachsende Armut und soziale Ungleichheit in Folge der Corona-Pandemie ermutigen könnte. Der Streik zeigt, welche Bedeutung es hat, dass das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) zur Gründung der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) aufruft.
Der Streik brach aus, als die Arbeiter nur eine sechsprozentige Lohnerhöhung für die ersten sechs Monate des Jahres und eine weitere fünfprozentige Erhöhung für die nächsten sechs Monate erhalten hatten. Angesichts des starken Anstiegs der Lebensmittelpreise während der Pandemie und der realen Inflation von über 30 Prozent bedeutet eine so niedrige Lohnerhöhung eine drastische Kürzung des Lebensstandards.
Nach dem Scheitern der Tarifverhandlungen zwischen Bedaş und der Gewerkschaft Tes-İş, die dem Gewerkschaftsbund Türk-İş angehört, ordnete die Oberste Einigungsstelle YHK ein Schlichtungsverfahren an. Die YHK besteht aus Vertretern von Staat und von Unternehmen wie dem Generalsekretär des Arbeitgeberverbands TİSK, Akansel Koç. Sie setzte trotz der offiziellen Inflationsrate von 17 Prozent einen Tarifvertrag durch, der Armutslöhne bedeuten würde. Enis Bağdadioğlu und Erdal Arap, zwei Vertreter von Türk-İş, unterzeichneten diesen Vertrag trotzdem.
Die streikenden Bedaş-Arbeiter erklärten gegenüber der World Socialist Web Site, der Durchschnittslohn betrage nur 3.200 bis 3.700 Türkische Lira (TL). Die Einstiegslöhne liegen nur knapp über dem Mindestlohn von 2.825 TL (282 Euro) oder der „Hungergrenze“, d.h. knapp über den Ausgaben einer vierköpfigen Familie für Lebensmittel von 2.767 TL (277 Euro).
Ein Streikender erklärte, selbst nach acht Jahren erhalte ein Arbeiter bei Bedaş nur 3.700 Lira, und die Erhöhung aus dem jüngsten Tarifvertrag belaufe sich auf weniger als 150 Lira. Er wies darauf hin, dass der Mindestlohn im Jahr 2019 bei 2.000 Lira lag; damals verdiente er 3.200 Lira. Der Mindestlohn ist trotz der massiven Inflation nur um 40 Prozent gestiegen, doch die Löhne bei Bedaş sind sogar noch weiter zurückgeblieben. Die Gewerkschaft hatte zu Beginn der Tarifverhandlungen eine Erhöhung von 20 Prozent gefordert, das Unternehmen 15 Prozent geboten, und die YHK habe letztlich eine sogar noch geringere Erhöhung durchgesetzt.
Der Arbeiter erklärte weiter, die Arbeitsbelastung sei in den letzten Jahren enorm gestiegen: Während ein Arbeiter früher 30 unterschiedliche Dienste pro Tag erfüllen musste, sind es mittlerweile zwischen 45 und 50. Das Unternehmen weigere sich, Arbeitern im Außendienst auch nur fünf Lira pro Tag zu zahlen, und riet ihnen, bei der Arbeit Wasser zu trinken. Abgesehen von den brutalen Arbeitsbedingungen und schlechten Löhnen seien Arbeiter auch mit willkürlichen und entschädigungslosen Entlassungen konfrontiert.
Bedaş wurde im Jahr 2013 privatisiert und gehört den Unternehmen Cengiz Holding und Kolin İnşaat, die in den letzten Jahrzehnten viele ehemalige Staatsunternehmen aufgekauft haben. Die beiden Unternehmen haben mit Regierungsaufträgen von Präsident Recep Tayyip Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) ein Vermögen verdient. Unter anderem waren sie am Bau des Flughafens von Istanbul beteiligt, wo es im Jahr 2018, nach dem Tod mehrerer Arbeiter, zu Massenprotesten kam. Vier Vorstände von Cengiz Holding wurden im Jahr 2020 von dem Magazin Forbes in die Liste der 100 reichsten Türken aufgenommen.
Es ist eine Lüge, dass angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen nicht finanzierbar seien. Während der Pandemie haben die türkische Regierung und andere Regierungen im Rest der Welt statt wissenschaftlich fundierten Lockdown-Maßnahmen die Politik der „Herdenimmunität“ umgesetzt, die zu einer massiven Ausbreitung und mehr als drei Millionen Todesopfern geführt hat. Arbeiter und Kleinunternehmer erhielten keine nennenswerte Unterstützung, da laut Regierungsvertretern ein ausreichend langer Lockdown zur Eindämmung des Virus zu teuer gewesen wäre.
Gleichzeitig wurden im Lauf des letzten Jahres jedoch Billionen Dollar weltweit und Hunderte Milliarden Lira in der Türkei an die Banken und Konzerne verteilt. Die Energiekonzerne erhielten im Jahr 2020 2,2 Milliarden Lira, im Jahr 2021 wird diese Summe vermutlich auf drei Milliarden steigen. Zudem hat das staatseigene Unternehmen Elektrik Üretim AŞ im April die Preise für Strom, der an die Vertriebsfirmen verkauft wird, gesenkt. Unternehmen wie Bedaş haben diese Preissenkung jedoch nicht an die Verbraucher weitergegeben, sondern ihre eigenen Profite massiv erhöht.
Die streikenden Bedaş-Arbeiter kämpfen nicht nur gegen das Management von Bedaş und seine mächtigen Hintermänner, sondern auch gegen die Gewerkschaften. In einer Social-Media-Gruppe warfen Arbeiter der Gewerkschaft wiederholt vor, sie trete als Betriebspolizei auf. Letzte Woche wurde ihre Zusammenarbeit mit dem Management deutlich: Nachdem das Schlichtungsverfahren am 14. April beendet war, wartete die Gewerkschaft mehr als zwei Wochen, bis am Freitag ein Teillockdown begann, bevor sie die Arbeiter über den Tarifvertrag informierte. Dieses Vorgehen zielte ganz klar darauf ab, Streiks zu verhindern.
Am Freitag rebellierten die Arbeiter gegen die Gewerkschaft. In einer Diskussion über die Frage, ob sie ihre Entscheidung zum Streik rückgängig machen und am Montag an die Arbeit zurückkehren sollten, wie es die Gewerkschaft forderte, erklärte ein Arbeiter: „Wenn wir nicht weitermachen, werden wir verlieren. Am Montag wird man uns wieder an die Arbeit schicken, aber diesmal sollten wir es nicht tun.“
Der Befehl der Gewerkschaft, am Montag wieder an die Arbeit zurückzukehren, versetzte die Arbeiter in große Wut: „Wir haben rebelliert, warum sollen wir jetzt der Gewerkschaft gehorchen, die uns verraten hat?“
Die Arbeiter warfen den Gewerkschaftsfunktionären vor, sie würden nichts anderes tun, als sich aus Mitgliedsbeiträgen üppige Gehälter zu zahlen: „Diejenigen, die ein Gehalt von 10.000 Lira aus Mitgliedsbeiträgen beziehen, wollen uns wieder an die Arbeit schicken, statt unseren Streik zu unterstützen.“
Viele betonten die Notwendigkeit, unabhängig von der Gewerkschaft zu handeln: „Die Gewerkschaft macht ihren Job nicht, also müssen wir es tun. Ich glaube, wir können unsere eigenen Entscheidungen und Forderungen ausarbeiten.“ Ein anderer erklärte: „Wir sollten nichts von der Gewerkschaft erwarten, sondern unsere eigenen Entscheidungen treffen.“
Arbeiter, die am Montag aufgrund der Verwirrung, die die Gewerkschaft geschaffen hatte, zur Arbeit erschienen, wurden vom Management bedroht. Ihnen wurde eine Erklärung verlesen, in der das staatliche Streikverbot für die Energiebranche hervorgehoben und allen Arbeitern, die sich an „illegalen Aktionen“ beteiligen, Lohnsenkungen und ein juristisches Nachspiel angedroht wurde.
Die Gewerkschaft Tes-İş erklärte in einer eigenen Erklärung: „Wir haben nicht entscheiden, von Montag bis Mittwoch die Arbeit zu unterbrechen.“ Darauf reagierten die Arbeiter mit weiteren Kommentaren, die Gewerkschaft sei eine Polizeitruppe des Konzerns. Aufgrund dieser Sabotage der Gewerkschaft hat sich der Ausstand zu einem Dienst nach Vorschrift entwickelt, den die Zusammenarbeit von Gewerkschaft und Firma bisher nicht unterbinden konnte.
Die Arbeiter müssen ein unabhängiges Aktionskomitee aufbauen, um der Tes-İş die Kontrolle über den Kampf zu entreißen. Der spontane Streik hat die Macht der Arbeiter gezeigt. Allerdings kann sie nicht mobilisiert werden, wenn die Gewerkschaftsbürokraten die Arbeiter weiterhin bei Hinterzimmer-Gesprächen mit dem Management, Aktionären und dem Staat in die Irre führen und betrügen können.
Arbeiter sollten die Forderungen der Gewerkschaft zurückweisen, den Streik zu beenden und bis Donnerstag zu warten. Die Gewerkschaften sind seit Jahrzehnten keine Arbeiterorganisationen mehr, sondern haben sich in Werkzeuge des Managements und des Staates verwandelt. Das gilt auch für den Gewerkschaftsbund DİSK (Türkische Vereinigung progressiver Gewerkschaften), der von seinem Versprechen abgerückt ist, gegen unsichere Arbeitsbedingungen während der Pandemie zu streiken und stattdessen kurz vor dem Ersten Mai eine gemeinsame Pressekonferenz mit dem türkischen Innenminister Süleyman Soylu abgehalten hat.
Die Bedaş-Arbeiter kämpfen nicht nur gegen das Management und die Gewerkschaften, sondern auch gegen den Staat und das internationale Finanzkapital, das Streiks in der wirtschaftlichen Hauptstadt der Türkei erbittert ablehnt. Ihre besten Verbündeten in diesem Kampf sind breite Schichten der Arbeiter im Rest der Türkei und im Rest der Welt, die Armutslöhne und die „Herdenimmunitäts“-Politik ablehnen. Um diesen Widerstand zu mobilisieren und zu vereinen, ruft das IKVI die kämpfenden Arbeiter auf, sich am Aufbau der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees zu beteiligen.