Der falsche Vorwurf des „Antisemitismus“

Antisemitismus ist – insbesondere in Deutschland – ein schwerwiegender Vorwurf. Es gibt kein anderes historisches Verbrechen, das mit dem Völkermord an den Juden unter dem Nazi-Regime vergleichbar wäre. Sechs Millionen Menschen wurden allein aufgrund ihrer Abstammung und ihres Glaubens entrechtet, misshandelt und – präzise geplant und organisiert – vom Staat sowie unzähligen Mittätern ermordet.

Umso abstoßender ist es, wenn die deutsche Regierung, die Medien und sämtliche im Bundestag vertretenen Parteien – angeführt von der rechtsextremen AfD – alle als Antisemiten bezeichnen, die gegen die Kriegsverbrechen im Nahen Osten demonstrieren.

Rauch von einem brennenden Gebäude in Gaza nach israelischen Luftangriffen am 14. Mai 2021 (AP Photo/Hatem Moussa)

Dass die Bombardierung des dichtbesiedelten Gazastreifens durch die israelische Regierung ein Verbrechen ist, lässt sich nicht ernsthaft bestreiten. Weit über 200 Menschen, darunter 58 Kinder, sind nach offiziellen Angaben bereits den Bomben zum Opfer gefallen. Auch die Zerstörung eines Hochhauses, in dem zahlreiche internationale Medien ihre Büros hatten, ist ein Kriegsverbrechen. Die Organisation Reporter ohne Grenzen hat dies offen ausgesprochen, die Nachrichtenagentur AP hat heftig dagegen protestiert. Die israelische Armee will offenbar keine unabhängigen Zeugen haben.

Hinzu kommt, dass man den gegenwärtigen Konflikt nicht losgelöst von seiner Geschichte sehen kann: der gewaltsamen Vertreibung der Palästinenser bei der israelischen Staatsgründung; der völkerrechtswidrigen Besetzung Ostjerusalems, der Golanhöhen, der Westbank und Gazas im Krieg von 1967; der systematischen Landnahme durch rechtsextreme Siedler; der jahrzehntelangen Diskriminierung der Palästinenser durch den israelischen Staat.

Antisemit ist nicht, wer gegen die Verbrechen der Regierung von Benjamin Netanjahu protestiert, der mit rechtsextremen Parteien paktiert, mit einem Bein im Gefängnis steht und sich nur durch ständige Provokationen an der Macht halten kann. Antisemit ist, wer „die Juden“ pauschal mit der Politik der israelischen Regierung gleichsetzt. Tatsächlich verfügt Netanjahu noch nicht einmal in Israel selbst über eine Mehrheit. Unzählige jüdische Menschen in Israel und auf der ganzen Welt lehnen seinen Kurs vehement ab.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Netanjahu am Wochenende angerufen und sich, wie ein Regierungssprecher mitteilte, „vorbehaltlos“ an die Seite Israels gestellt. Nur wer historisch blind ist, kann dies für ein Zeichen der Sympathie für Juden halten. Deren Schicksal ist der deutschen Regierung in Wirklichkeit reichlich egal. Der deutsche Imperialismus betrachtet Israel, mit dem er seit langem enge politische und militärische Beziehungen pflegt, zumindest momentan als nützlichen Verbündeten, um im heftig umkämpften Nahen Osten stärker Fuß zu fassen.

Merkel war fast zwanzig Jahre lang Vorsitzende einer Partei, in der sich zahlreiche alte Nazis tummelten. Der Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassengesetze, Hans Globke, war Kanzleramtschef ihres Vorbilds Konrad Adenauer. Noch 1966 machte die CDU das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger zum Bundeskanzler. Die rechtsextremen Netzwerke, aus deren Reihen allein im vergangenen Jahr 2275 antisemitische Straftaten begangen wurden, werden von den deutschen Sicherheitsbehörden systematisch gedeckt. Hans-Georg Maaßen, unter Merkel lange Chef des Verfassungsschutzes, liebäugelt inzwischen mit antisemitischen Verschwörungstheorien.

Als die Sozialistische Gleichheitspartei 2014 den Historiker Jörg Baberowski kritisierte, weil er den Nazi-Apologeten Ernst Nolte verteidigte und Hitler bescheinigte, er sei „nicht grausam“ gewesen, fielen Vertreter aller Parteien und Medien über die SGP her und verteidigten den rechtsextremen Professor. „Die Bemühungen, ein historisch falsches Narrativ zu begründen, fallen mit einem kritischen Wendepunkt der deutschen Geschichte zusammen“, schrieben wir damals. „Die Wiederbelebung des deutschen Militarismus erfordert eine neue Interpretation der Geschichte, die die Verbrechen der Nazizeit verharmlost.“

Es ist denn auch kein Zufall, dass die rechtsextreme AfD am lautesten gegen die Antikriegsdemonstrationen wütet. Die Partei, deren Führer den Judenmord als „Fliegenschiss“ in tausend Jahren ruhmreicher deutscher Geschichte und das Holocaust-Mahnmal als Schandmal betrachten, gibt sich als engster Freund Israels. Parteichef Jörg Meuthen warf der Bundesregierung sogar vor, sich nicht eindeutig genug „hinter Israel und seine Bemühungen zu stellen, die eigene Bevölkerung vor terroristischen Angriffen zu schützen“.

Die AfD-Fraktion forderte, Demonstrationen bereits im Vorfeld zu verbieten. Und Fraktionschef Alexander Gauland sprach aus, worum es der Partei wirklich geht: „Wem es mit der Bekämpfung von Antisemitismus wirklich ernst ist, der muss die unkontrollierte islamische Masseneinwanderung unterbinden und die Straftäter ohne Wenn und Aber konsequent abschieben.“

Wie bei der Flüchtlingspolitik und der inneren und äußeren Aufrüstung wird die AfD auch hier von allen anderen Parteien als Vorreiter benutzt. Gestützt auf vereinzelte antisemitische Vorfälle denunzieren sie Tausende, die in ganz Deutschland friedlich gegen den israelischen Terror protestieren, als Antisemiten. Damit soll die Unterdrückung von Demonstrationen und die Abwehr von Flüchtlingen gerechtfertigt werden.

Während sich der CDU-Vorsitzende Armin Laschet über die „entsetzlichen Bilder bei den Demonstrationen“ ereifert, diskutiert die Unionsfraktion bereits über eine weitere Begrenzung der Zuwanderung. Diese müsse „ein Maß bewahren, bei dem Integration noch leistbar ist“, sagte der innenpolitische Sprecher Mathias Middelberg (CDU).

CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak erklärte, es gebe in Deutschland Antisemitismus aus drei Bereichen: Rechtsextremismus, Linksextremismus und Zuwanderung. „Alle drei Bereiche gilt es zu sehen und ihnen entschlossen entgegen zu treten.“ Er forderte das Verbot mehrerer palästinensischer Organisationen und Parteien.

Ähnlich äußerte sich die SPD. Die Parteivorsitzende Saskia Esken forderte die konsequente Bestrafung von Teilnehmern „antisemitischer Demonstrationen“. Kanzlerkandidat Olaf Scholz ergänzte: „Für so etwas gibt es kein Pardon. Die Täter müssen die volle Härte des Gesetzes spüren.“ Der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir schimpfte über den „migrantischen Antisemitismus“.

Auch Gregor Gysi von der Linkspartei verurteilte die „antisemitischen Proteste“ in einem langen Interview mit dem Spiegel: „Wer Israelflaggen anzündet, ist nicht links.“ Die Bundesregierung fordert er auf, in Israel zu vermitteln und dabei auf die diskreditierte palästinensische Fatah zu setzen. Der Fraktionsvorsitzende und Spitzenkandidat im Bundestagswahlkampf Dietmar Bartsch unterstützt sogar die Lieferung deutscher U-Boote an Israel.

Die Grünen-nahe taz wetteifert mit der Welt aus dem Hause Springer darum, wer die Proteste gegen die israelischen Angriffe schärfer verurteilt. Die Welt bezeichnet sogar die an die israelische Regierung gerichtete Parole „Stop doing what Hitler did to you“ als Zeichen des Antisemitismus.

Die taz schreibt über die Anti-Kriegsdemonstrationen, sie seien „purer Antisemitismus, nur mühsam versteckt unter der Maske des Antizionismus“. Tatsache sei: „Der Judenhass ist ein Problem in migrantischen Gemeinschaften – aber er grassiert auch unter denjenigen, die seit Langem hier leben. Das Phänomen des Judenhasses betrifft auch nicht nur Neonazis oder Rechtspopulisten. Es geht auch um vermeintlich Linke, die, ausgestattet mit antiimperialistischen Phantasien von heute und dem Judenhass ihrer Großväter, fleißig mitdemonstrieren, wenn es gegen den großen Dämon Israel geht.“

Der Vorwurf des Antisemitismus muss entschieden zurückgewiesen werden. Er wird von Parteien und Medien erhoben, die selbst tief in rechten, antidemokratischen und militaristischen Verschwörungen stecken und von denen die wirkliche faschistische und antisemitische Gefahr ausgeht. Der Kampf dagegen erfordert die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse aller Nationalitäten für ein sozialistisches Programm.

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