Die kriminelle Reaktion der indischen herrschenden Klasse auf die Pandemie – eine globale Katastrophe

Keith Jones ist der nationale Sekretär der Socialist Equality Party (Kanada). Er schreibt regelmäßig für die World Socialist Web Site über die Politik und Geschichte Südasiens. Die folgende Rede hielt Jones bei der Internationalen Maikundgebung 2021, die von der WSWS und dem IKVI am 1. Mai abgehalten wurde.

Rede von Keith Jones auf der internationalen Online-Kundgebung zum 1. Mai 2021

Die Corona-Pandemie hat die Welt erschüttert. Schnell ist das Lexikon der schaurigen Worte erschöpft, mit denen man das große Leiden und Sterben beschreiben kann. Aber die Katastrophe, die sich jetzt in Indien abspielt, markiert in jeder Hinsicht eine neue, schreckliche Etappe der globalen Pandemie.

Viele von euch, die nicht in Südasien sind, werden Berichte über verzweifelte Kranke gesehen oder gelesen haben, denen die Aufnahme in Krankenhäusern in Indiens Hauptstadt Delhi und im Finanzzentrum Mumbai verweigert wird, weil es an Personal, Betten, Medikamenten und Sauerstoff mangelt; über Patienten, die in Krankenhäusern ersticken, weil dort die medizinische Versorgung fehlt; und über Berge von Leichen, die auf ihre Einäscherung oder Beerdigung warten. In Gujarat, der Heimat von Premierminister Narendra Modi, bekommen die Metallrahmen der Krematoriumsöfen, die rund um die Uhr laufen müssen, Risse und schmelzen.

Seit dem 4. April, als Indien zum ersten Mal seit sieben Monaten über 100.000 Neuinfektionen verzeichnete, stieg die Gesamtzahl der Fälle nach offiziellen Regierungsangaben um mehr als 6 Millionen. Und es gab mehr als 45.000 zusätzliche Todesfälle, davon über 10.000 in den letzten drei Tagen. Indiens 7-Tage-Durchschnitt der täglichen Neuinfektionen übersteigt jetzt 350.000 oder mehr als das Dreieinhalbfache aller Covid-Fälle in China seit dem ersten Ausbruch des Virus dort vor etwa 16 Monaten.

Nackte Statistiken können kein wahres Bild der Katastrophe geben, die sich jetzt in Indien abspielt – von verlorenen Menschenleben und zerstörten Existenzen. Das trifft auch auf Europa und Amerika zu.

Doch im Fall Indiens sind die Zahlen, so erschütternd sie sein mögen, eine grobe Unterschätzung der eigentlichen Infektions- und Todeszahlen. Studien, die die Opferzahlen der Behörden in Regionen ganz Indiens mit Aufzeichnungen der Krematorien und Friedhöfe vergleichen, zeigen, dass die tatsächliche Zahl der Todesfälle in den letzten Wochen fünf-, ja sogar zehnmal höher liegt.

Die offizielle Zahl der aktiven Fälle, die derzeit bei mehr als 3 Millionen liegt, der marode Zustand des indischen Gesundheitssystems und die Armut und schlechte Gesundheitslage der Menschen, von denen Hunderte Millionen mindestens unterernährt sind – alles deutet darauf hin, dass Indiens so genannte zweite Welle erst im Anfangsstadium ist.

Die Entstehung neuer, ansteckenderer und potenziell impfstoffresistenter Varianten, darunter auch Indiens so genannte Doppelmutante, unterstreicht den globalen Charakter dieser Katastrophe, die Menschen auf der ganzen Welt bedroht.

Doch Modi, seine rechte, hindu-nationalistische Regierung der Bharatiya Janata Party und die indische herrschende Klasse bleiben entschlossen in der Verfolgung ihrer egoistischen Klasseninteressen und stellen kapitalistischen Profit über Menschenleben.

Das mörderische kapitalistische Mantra, dass „die Heilung nicht schlimmer sein darf als die Krankheit“, hat Modi in einer Rede an die Nation letzte Woche neuformuliert: „In der heutigen Situation müssen wir das Land vor einem Lockdown bewahren.“ Das heißt, seine Regierung ist entschlossen, die Wirtschaft offen zu halten und keine Leben zu retten.

Indien ist ein historisch unterdrücktes Land. Doch neben Massenarmut und Rückständigkeit verfügt es über bedeutende Produktionskapazitäten, fortschrittliche Technologien und einen großen Reichtum, der sich während der Pandemie noch stärker in den Händen einiger weniger konzentriert hat. Laut Forbes hat sich das Vermögen indischer Milliardäre 2020 auf 596 Milliarden Dollar fast verdoppelt.

Doch diese Ressourcen wurden nicht zur Bekämpfung der Pandemie eingesetzt. Alle Teile des politischen Establishments und der herrschenden Klasse sind dafür verantwortlich. Jahrzehntelang haben Indiens Regierungen unter der Kongresspartei und der BJP nur winzige 1,5 Prozent des BIP für die Gesundheitsversorgung ausgegeben.

Die von der Opposition geführten Landesregierungen wehren sich ebenso vehement wie die BJP-geführten Staaten gegen die Schließung nicht lebensnotwendiger Betriebe und die soziale Unterstützung der arbeitenden Bevölkerung, damit sie zu Hause bleiben und die Ausbreitung des tödlichen Virus stoppen können.

Die Politik der Herdenimmunität der herrschenden Klasse ist die Speerspitze eines verschärften Klassenkriegs gegen Indiens Arbeiter. Im Namen der Wiederbelebung der Wirtschaft hat die Modi-Regierung einen Ausverkauf von Staatsbesitz eingeleitet, mehrere Gesetze zugunsten der Agrarwirtschaft verabschiedet und das Arbeitsgesetz geändert, um weiter die prekäre Wiederbeschäftigung von Leiharbeitern zu fördern und die meisten Arbeitskämpfe der Arbeiter zu verbieten.

Gleichzeitig hat sie Indien weiter in den Kriegskurs des US-Imperialismus gegen China eingebunden und ein Netz neuer multilateraler, trilateraler und bilateraler militärisch-strategischer Beziehungen mit Washington und seinen wichtigsten Verbündeten im asiatisch-pazifischen Raum Japan und Australien aufgebaut.

Nächsten Monat sind 30 Jahre vergangen, seit die indische Bourgeoisie ihre staatlich gelenkte Entwicklungspolitik aufgab, die sie zynisch als Sozialismus bezeichnete, und das Land vollständig in die kapitalistische Weltordnung unter Führung des US-Imperialismus integrierte. Was die Bourgeoisie angerichtet hat – hinter all dem Hype über Indiens kapitalistischen Aufstieg, wiederholt und verbreitet von westlichen Medien – wurde jetzt vor den Augen der Welt offenbart.

Während die Masse der Bevölkerung zu Not, Hunger und Tod verdammt ist, schwelgt eine winzige Minderheit in Reichtum, der die Moguln oder sogar die raubgierige East India Company der britischen Kolonialherren beschämen würde. Modi, ein hindu-nationalistischer Gangster, der erstmals nationale Bekanntheit erlangte, als er 2002 den antimuslimischen Pogrom in Gujarat anzettelte, ist für Indiens CEOs und Milliardäre ein passender politischer Vertreter.

Aber die vergangenen 30 Jahre waren nicht vergebens. Wie anderswo in Asien, Afrika und Lateinamerika hat die Globalisierung die Größe und Macht der indischen Arbeiterklasse enorm gestärkt. Durch den Produktionsprozess sind sie eng mit Arbeitern auf der ganzen Welt verbunden, auch mit ihren Kollegen in den imperialistischen Zentren Europas und Nordamerikas.

Die große soziale Wut gegen das Modi-Regime und die Barbarei des indischen Kapitalismus entlud sich in den letzten Monaten in einer Welle von Streiks und Protesten gegen Arbeitshetze, Armutslöhne und fehlende Schutzausrüstung. Daran nahmen unter anderem Toyoto-Autoarbeiter, Verkehrsarbeiter in Karnataka und Krankenpfleger in Delhi teil. Am 26. November letzten Jahres beteiligten sich zig Millionen in ganz Indien an einem eintägigen Generalstreik.

Aber wie überall ist die Arbeiterklasse in Indien damit konfrontiert, dass die Organisationen, die behaupten, für sie zu sprechen, Instrumente der Bourgeoisie sind, um den Klassenkampf zu unterdrücken, statt ihn zu führen. Die beiden stalinistischen Parteien und ihre Gewerkschaften haben die herrschende Klasse bei ihrem Kurs der letzten 30 Jahre, Indien zum führenden Billiglohnparadies für das globale Kapital zu machen, unterstützt, indem sie eine rechte Regierung nach der anderen stärkten. Sie setzten eine, wie sie ungeniert sagten, „Pro-Investoren“-Politik in den Bundesstaaten um, wo sie im Amt waren.

Die Stalinisten heuchelten Unterstützung für die fünfmonatige Massenagitation unter indischen Bauern. Aber sie haben alles getan, um sie von der Arbeiterklasse zu isolieren und sie an ihre schmutzigen Wahlbündnisse und andere Manöver mit der Kongresspartei zu binden, die – das muss gesagt werden – das letzte Jahr vor allem damit verbracht hat, Modi anzugreifen, weil er angeblich zu schwach gegenüber China ist.

Indische Arbeiter und Jugendliche müssen an der Seite ihrer Klassenbrüder und -schwestern auf der ganzen Welt stehen, um neue Organisationen des Massenkampfs wie die Aktionskomitees zu bilden, die sich auf ein sozialistisches und internationalistisches Programm gründen und der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees angeschlossen sind.

Die Hauptaufgabe ist der Aufbau einer revolutionären Partei der Arbeiterklasse, einer indischen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale. Gegründet auf das Programm der permanenten Revolution, das die Oktoberrevolution 1917 anleitete, wird sie die Arbeiterklasse als unabhängige politische Kraft mobilisieren und die Landarbeiter und alle Unterdrückten im revolutionären Kampf gegen die indische Bourgeoisie und ihre politischen Vertreter vereinen.

Keines der brennenden Probleme, mit denen die indischen Massen konfrontiert sind, vom Kampf gegen die Pandemie, soziale Ungleichheit und die Kriegsgefahr bis hin zur Beseitigung des Kastensystems und dem Sieg gegen reaktionären Kommunalismus, kann ohne den Kampf gegen den indischen und den Weltkapitalismus und für die sozialistische Reorganisation der globalen Gesellschaft und Wirtschaft gelöst werden.

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