Hinter der Proklamation eines „neuen Aufbruchs“ in den Vereinigten Staaten lieferte Bidens Rede am Mittwochabend vor einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses ein Porträt der Panik, Krise und Verzweiflung, die in der amerikanischen herrschenden Klasse um sich greifen.
Weit bedeutender als die verschiedenen Aufrufe zu Reformmaßnahmen war die unheilvolle strategische Perspektive, die durchweg in der Rede herausgearbeitet wurde: Die Schaffung eines politischen Rahmens für eine Konfrontation mit China, um die globale Hegemonie des amerikanischen Imperialismus aufrechtzuerhalten – wenn nötig, durch Krieg.
Nach Jahrzehnten, in denen es für Präsidenten zum Ritual geworden ist, in ihren jährlichen Ansprachen an den Kongress zu erklären, dass „die Lage der Nation stabil ist“, musste Biden offen eingestehen, dass die soziale Situation in den USA nur als katastrophal bezeichnet werden kann: „Die schlimmste Pandemie seit einem Jahrhundert. Die schlimmste Wirtschaftskrise seit der Großen Depression. Der schlimmste Angriff auf unsere Demokratie seit dem Bürgerkrieg.“ Wenn man nur die Sätze isoliert, in denen Biden die Realität der amerikanischen Gesellschaft schildert, ergibt sich ein erschreckendes Bild der Armut, des Hungers und der Verzweiflung, mit der Millionen Arbeiter in den USA konfrontiert sind.
Der Zuhörer mag überrascht gewesen sein, Biden von der massiven Konzentration des Reichtums sprechen zu hören, als ob er aus einem Artikel der World Socialist Web Site vorlesen würde. „Zwanzig Millionen Amerikaner haben durch die Pandemie ihre Arbeit verloren, Amerikaner der Arbeiter- und Mittelschicht. Gleichzeitig stieg das Nettovermögen von rund 650 Milliardären in Amerika im gleichen Zeitraum um mehr als eine Billion Dollar.“
Wenn es um den wirklichen Zustand der amerikanischen Gesellschaft geht, sind die 114 Tage seit dem faschistischen Aufstand vom 6. Januar – der fast zum Sturz der Regierung führte – noch aufschlussreicher als die von Biden angesprochenen ersten 100 Tage seiner Regierung. Während Biden sprach, wurden rund um das Kapitolgebäude die Straßen gesperrt, auf denen sodann die Polizei und Truppen der Nationalgarde patrouillierten.
Allein in den ersten 100 Tagen seiner Regierung hat sich die Situation Biden zufolge bereits drastisch verändert. „Ich kann der Nation berichten, dass Amerika wieder in Bewegung gekommen ist. Gefahren werden in Möglichkeiten verwandelt – Krisen in Chancen, Rückschläge in Stärke.“ Doch Millionen Menschen erkranken noch immer an Covid-19 und sind mit einer tödlichen Gefahr konfrontiert. Noch immer sind Millionen Menschen arbeitslos und von Armut betroffen. Und für den Angriff auf das Kapitol ist keiner der politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen worden. Im Gegenteil: Sie besetzten fast die Hälfte der Sitze im Publikum, das Biden ansprach, und wurden von Biden als „meine Freunde auf der anderen Seite des Parlamentssaals“ bezeichnet.
Im Wissen um die tiefe soziale Wut, die sich in den Vereinigten Staaten aufgestaut hat, versprach Biden zwei Multimilliarden-Dollar-Programme, zu deren Verabschiedung er den Kongress aufrief. Der „American Jobs Plan“, so behauptete er, werde unter anderem durch große Infrastrukturprojekte „Millionen Menschen helfen, ihre Arbeit und ihre Laufbahnen wieder aufzunehmen“. Der „American Families Plan“, so Biden, werde eine gute Ausbildung für alle sicherstellen, einschließlich eines kostenlosen Besuchs des Community College für zwei Jahre; hochwertige und erschwingliche Kinderbetreuung für alle Eltern; 12 Wochen bezahlte Krankentage; und die Ausweitung der Steuergutschriften für Kinder.
An Bidens Vorschlägen ist viel weniger dran, als man auf den ersten Blick meinen könnte – und noch weniger davon wird jemals tatsächlich umgesetzt werden, sofern es überhaupt durch den Kongress kommt.
Bidens Politik ist die Politik der goldenen Mitte – alles für alle. Die Ungleichheit werde bekämpft, versprach er, während er gleichzeitig verkündete: „Ich denke, man sollte in der Lage sein, Milliardär und Millionär zu werden.“ All die Veränderungen, die Biden vorschlägt, werden angeblich erreicht werden, ohne in den Reichtum der Finanzoligarchie einzugreifen oder die Eigentumsformen zu verändern.
Er verwies auf die abstoßende Ungleichheit der republikanischen Steuersenkung von 2017, die dazu führte, dass 55 der größten Konzerne Amerikas trotz eines Gewinns von 40 Milliarden Dollar keinen Cent Steuern an den Bund abführen mussten. Doch sein Lösungsvorschlag lautete, den Körperschaftssteuersatz von 21 auf 28 Prozent anzuheben (was nur die Hälfte von Trumps Steuersenkung rückgängig machen würde) und den Einkommenssteuersatz für Superreiche auf das Niveau zurückzusetzen, das unter George W. Bush herrschte (von 37 auf 39,6 Prozent).
All diese Vorschläge kreisten um dieselbe zentrale Herausforderung: Die globale Stellung des amerikanischen Imperialismus zu verteidigen.
Eines der Hauptthemen der Rede war, dass die von Biden vorgeschlagenen Maßnahmen notwendig seien, damit Amerika im Wettstreit mit anderen mächtigen Ländern und vor allem China „das 21. Jahrhundert gewinnen“ könne: „Es gibt einfach keinen Grund, warum Flügel für Windturbinen nicht in Pittsburgh statt in Peking gebaut werden können“, sagte Biden, in nur einer von einem halben Dutzend Anspielungen auf die chinesische Wirtschaftskonkurrenz.
Unter Präsident Xi sei es China „todernst damit, die bedeutendste und einflussreichste Nation der Welt zu werden“, sagte Biden. Er versuchte, arbeitende Menschen für den imperialistischen Kriegsdrang zu gewinnen, indem er ständig den amerikanischen Nationalismus beschwor. In seiner Legislaturperiode, erklärte er, „werden amerikanische Steuergelder verwendet werden, um amerikanische Produkte zu kaufen, die in Amerika hergestellt wurden, um amerikanische Arbeitsplätze zu schaffen.“
Wenn man hinter die akustischen Veränderungen im Ton und in der Rhetorik blickt, entsprechen Bidens Wirtschaftsnationalismus, seine Handelskriegsmaßnahmen und seine militaristische Aufrüstung – die sich insbesondere gegen China richten – weitgehend Trumps berüchtigtem Slogan „America First“.
Innerhalb der herrschenden Klasse und ihrer Thinktanks ist man in erster Linie damit befasst, den innenpolitischen Rahmen für die Bedürfnisse des amerikanischen Imperialismus zu schaffen. Dieser Frage ist auch die jüngste Ausgabe von Foreign Affairs gewidmet. In dem Text „Die Heimatfront: Warum eine internationalistische Außenpolitik ein stärkeres innenpolitisches Fundament braucht“ („The Home Front: Why an Internationalist Foreign Policy Needs a Stronger Domestic Foundation“) zeigen sich Charles Kupchan und Peter Turbowitz besorgt darüber, dass trotz Bidens Versprechen, die USA seien wieder „bereit, die Welt zu führen“, die „politischen Grundlagen des US-Internationalismus [d.h. der imperialistischen Hegemonie der USA] zusammengebrochen“ seien.
Die Autoren stellen fest: „Was Biden braucht, ist ein ‚von innen nach außen‘-Ansatz, der die Notwendigkeiten zu Hause mit den Zielen im Ausland verbindet. Viel wird von seiner Bereitschaft und Fähigkeit abhängen, mutige Schritte zu unternehmen, um die breite Unterstützung der Bevölkerung für den Internationalismus von Grund auf neu aufzubauen.“
Bidens „mutige Schritte“ werden am Ende auf wenig hinauslaufen. Es ist bekannt, dass Lyndon Johnsons „Great Society“ im Zuge des Vietnamkriegs Schiffbruch erlitt. Bei der Entscheidung zwischen „Kanonen und Butter“ entschied sich die herrschende Klasse für Kanonen. Wer soll glauben, dass unter Biden – inmitten einer gewaltigen Erosion der globalen Stellung des amerikanischen Kapitalismus und Kriegsvorbereitungen der herrschenden Klasse von weit größerem Ausmaß – das Ergebnis ein anderes sein wird?
Biden versucht, einen politischen Rahmen innerhalb der USA zu schaffen, um im Ausland Krieg zu führen. Das ist im Kern der Grund, weshalb seine Regierung die offiziellen Gewerkschaften aggressiv fördert, um sie in eine „nationale Arbeitsfront“ einzugliedern, die auf Wirtschaftsnationalismus und Militarismus basiert.
Im ersten direkten Gesetzgebungsaufruf seiner Rede erklärte Biden: „Deshalb fordere ich den Kongress auf, den Protect the Right to Organize Act – den PRO Act – zu verabschieden und ihn auf meinen Schreibtisch zu legen, damit wir das Recht auf gewerkschaftliche Organisation unterstützen können.“ Der PRO Act hat nichts mit der Sicherung der Interessen der Arbeiter zu tun – dafür jedoch alles mit der Institutionalisierung der offiziellen „Gewerkschaften“ als korporatistische Instrumente der herrschenden Klasse und des Staates.
Die Gewerkschaften haben ein halbes Jahrhundert lang systematisch daran gearbeitet, jeden Ausdruck des Widerstands der Arbeiterklasse gegen Ungleichheit und Ausbeutung zu isolieren und zu unterdrücken. Im vergangenen Jahr haben sie sich jedem Kampf gegen die mörderische Pandemie-Politik der herrschenden Klasse entgegengestellt und an der Wiederöffnung von Fabriken und Schulen mitgewirkt.
Nun sollen die Führungskräfte, die diese Organisationen kontrollieren, noch weiter in den Staatsapparat integriert werden. Wie Trotzki im Gründungsdokument der Vierten Internationale feststellte: „In Zeiten des Krieges oder der Revolution, wenn die Lage der Bourgeoisie besonders schwierig wird, steigen die Gewerkschaftsführer gewöhnlich zu bürgerlichen Ministern auf."
Letzte Woche gab die Biden-Regierung bekannt, dass sie eine „Task Force“ im Weißen Hauses bilden werde, um in Übereinstimmung mit der aggressiven Unterstützung der Gewerkschaftskampagne bei Amazon die Institutionalisierung der Gewerkschaften weiter zu fördern. Der Task Force gehören Verteidigungsminister Lloyd Austin sowie die Finanzministerin und ehemalige Federal Reserve-Vorsitzende Janet Yellen an. Damit werden die beiden Hauptrepräsentanten des amerikanischen Imperialismus und des Finanzkapitals in der Task Force vertreten sein.
Bidens reformistische Vortäuschungen werden eher früher als später entlarvt werden. Der Ausbruch des Klassenkampfes wird mit grausamer politischer Repression beantwortet werden. Biden und die Demokraten hoffen, dass sie den Klassenkampf unterdrücken und die Vorherrschaft des amerikanischen Imperialismus wiederherstellen können, um „das 21. Jahrhundert zu gewinnen“. Doch ihre Bemühungen werden sich als vergeblich erweisen.
Für die Arbeiterklasse besteht die entscheidende Frage darin, eine Gegenoffensive gegen die Politik aller Fraktionen der herrschenden Klasse zu entwickeln. Auf seiner Maikundgebung wird das Internationale Komitee der Vierten Internationale daher am Samstag zur Bildung einer Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees aufrufen, um die Arbeiterklasse auf der ganzen Welt zu vereinen – gegen alle Bemühungen, Arbeiter gegen Arbeiter und Nation gegen Nation auszuspielen.
Die Entwicklung einer mächtigen Gegenoffensive muss mit dem Aufbau einer sozialistischen Führung in der Arbeiterklasse verbunden sein. Wir fordern alle unsere Leser auf, sich diesem Kampf anzuschließen und sich noch heute zur Internationalen Maikundgebung anzumelden.