Bosnien-Herzegowina: Proteste gegen mangelnden Schutz vor Corona

Unter dem Motto „Fight for Life“ protestierten am Samstag in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo zum widerholten Male mehrere hundert Menschen gegen die mörderische Corona-Politik. Die Demonstranten forderten den Rücktritt der Regierung, weil sie keinen Impfstoff beschafft und es kaum Behandlungsmöglichkeiten gibt. In dem Land mit 3,2 Millionen Einwohnern haben sich nach offiziellen Angaben 189.000 Menschen mit dem Virus infiziert, 7788 sind daran verstorben.

Autofahrer blockierten den Bahnhofsplatz der Hauptstadt. Anschließend marschierten Demonstranten vor das bosnische Parlament. Auf Schildern und in Sprechchören forderten sie den Rücktritt der Gesamtregierung und der Regierung des bosnisch-kroatischen Landesteils.

Die Situation in dem kleinen, verarmten Land zwischen Serbien, Kroatien und Montenegro ist seit Monaten dramatisch. In Sarajevo sterben täglich mehr Menschen an Covid-19 als zur Zeit des Bosnien-Krieges, als die Stadt ständig unter Belagerung und Beschuss stand. Im März erlagen im Schnitt 18,5 Menschen pro Tag dem Virus. Verstorbene konnten teilweise nicht unmittelbar beerdigt werden, weil die Bestatter völlig überlastet waren.

Ein Impfprogramm existiert praktisch nicht. Die wenigen Impfdosen, die zur Verfügung stehen, stammen aus internationalen Spenden oder aus dem Impfstoff-Programm Covax. Der Großteil des medizinischen Personals ist nicht geimpft, obwohl die wenigen Kliniken des Landes in den großen Städten aus allen Nähten platzen.

Im März verzeichneten mehrere Städte eine 14-Tage-Inzidenz von über 1000. Zuletzt lagen die Neuansteckungen bei 641 pro 100.000 Einwohner. Täglich sterben zwischen 80 und 100 Menschen. Dabei sind die tatsächlichen Zahlen mit Sicherheit weit höher. In vielen Landesteilen sind die Behörden völlig überfordert mit der Erfassung und Weitergabe von Daten.

Bereits am 6. April hatten mehr als 1000 Menschen in Sarajevo für Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie demonstriert. Politico zitierte eine Teilnehmerin der Proteste, die mit ihrer Familie forderte, dass ihr „Recht auf Leben“ respektiert wird. „Vor einem Monat hätten vielleicht tausend Menschen mehr an diesem Protest teilgenommen. Aber jetzt sind diese Menschen wegen Covid tot,“ sagte sie.

„Diese Katastrophe hat gezeigt, dass unser Regierungssystem eine Farce ist und die Menschen sich selbst überlassen werden,“ zitiert das Magazin einen anderen Teilnehmer, Vedad Zulić.

Und Nihad Izmirlić, der im Gesundheitswesen arbeitet, sagte Politico: „Keiner von uns beschwert sich über Arbeitszeiten, Bedingungen oder Überstunden. Wir sind wütend auf das System, weil es keine Impfstoffe besorgt. Ich setze meine Gesundheit und die meiner Familie aufs Spiel, um das Leben von so vielen Bürgern wie möglich zu retten, und wir geben nicht auf, auch wenn wir müde sind.“

Während die gesamte Bevölkerung unter der kriminellen Untätigkeit der Regierungen leidet, sind die Schwächsten der Gesellschaft besonders betroffen. Flüchtlinge, die an der bosnischen Grenze zum EU-Mitglied Kroatien unter menschenunwürdigen Bedingungen ausharren, sind dem Virus schutzlos ausgeliefert.

Wie die Nachrichtenagentur AP berichtet, sind in nur einem einzigen Camp innerhalb von zwei Wochen 147 Infektionen registriert worden. Dabei gibt dies wohl nur einen kleinen Einblick in das tatsächliche Infektionsgeschehen. Mehr als 6000 Menschen warten entlang der Grenze auf die Einreise nach Kroatien. Nur ein Teil von ihnen ist in den offiziellen Camps untergebracht, viele leben in verlassenen Häusern oder selbst errichteten Zeltlagern entlang der Grenze. Sanitäre Einrichtungen oder medizinische Versorgung gibt es hier nicht.

Neben der gesundheitlichen Gefährdung hat die anhaltende Pandemie für die Bevölkerung massive wirtschaftliche Folgen. Laut einem Unicef-Bericht mussten 24 Prozent der Haushalte im letzten Jahr mit weniger Einkommen als vor der Pandemie leben. 13 Prozent der Befragten können sich keine notwendige Gesundheitsversorgung mehr leisten. Für 63 Prozent jener, die bereits vor der Pandemie als arm galten, hat sich die Situation weiter verschlechtert, für 20 Prozent von ihnen sogar extrem.

Bosnien-Herzegowina kann nur als „failed-state“ bezeichnet werden. Das aus dem Abkommen von Dayton 1995 hervorgegangene Staatsgebilde ist entlang ethnischer Grenzen in die Föderation Bosnien-Herzegowina und die Republik Srpska aufgespalten. Um die heftigen ethnischen Konflikte, die zum großen Teil von den Westmächten selbst provoziert wurden, unter Kontrolle zu bringen, wurden beiden Teilen weitreichende Autonomierechte zuerkannt.

Beide Landesteile werden von nationalistischen Parteien regiert, die immer wieder in heftige Konflikte geraten. Der serbische Landesteil wird von der SNS von Milorad Dodik regiert. Dodik ist berüchtigt für die Leugnung serbischer Kriegsverbrechen und schürt regelmäßig nationalistische Stimmungen. Auf allen Regierungsebenen herrschen korrupte, halb-kriminelle und zutiefst diskreditierte Politiker der nationalistischen Parteien. Erst nachdem im März die Todeszahlen extrem in die Höhe schnellten, wurden erste, bei weitem nicht ausreichende Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Corona ergriffen.

In mehreren Ländern der Balkanregion herrschen ähnliche Bedingungen. So sind im Kosovo von 1,7 Millionen Einwohnern erst rund 10.000 geimpft, fast ausschließlich Ärzte und Menschen über 80 Jahren. Zuletzt wurden im Schnitt 700 Infektionen und 14 Todesfälle pro Tag gemeldet. Ärzte gehen davon aus, dass bei gleichem Patientenaufkommen in den nächsten Tagen Triage angewendet werden muss. Obwohl Einkaufszentren und Restaurants geschlossen wurden, sind Schulen und Betriebe geöffnet.

Von den zwei Millionen Einwohnern Nordmazedoniens haben gerade einmal 26.000 eine erste Impfdosis erhalten. Diesen Monat wurden mit 1300 täglichen Neuinfektionen neue Rekordwerte erreicht. Das öffentliche Gesundheitssystem liegt am Boden, die Versorgung in den öffentlichen Kliniken ist längst nicht mehr sichergestellt. Privatklinken bieten für die schmale betuchte Oberschicht des Landes Corona-Behandlungen für umgerechnet 20.000 Euro an, eine Senkung der Preise, um mehr Menschen die Behandlung zu ermöglichen, lehnten die Kliniken ab.

Dass in vielen Ländern über Monate hinweg keine Impfstoffe bereitgestellt wurden, hat politische Gründe. Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien und andere Staaten wie Montenegro hätten schon längst Impfstoffe aus China oder Russland beziehen können. Aus Angst vor negativen Reaktionen der EU haben die Machthaber die Anschaffung abgelehnt.

Erst als der Druck aus der Bevölkerung zu groß wurde und Lieferungen aus dem Westen nicht absehbar waren, entschieden sich einige Staaten dafür. Seit Wochen reisen Menschen aus Bosnien, Albanien, dem Kosovo und anderen Staaten nach Serbien in der Hoffnung, dort eine Impfung zu erhalten. Serbien erhielt zuletzt große Lieferungen des russischen Vakzins Sputnik V.

Offensichtlich ist der Druck aus dem Westen derart hoch, dass sich Nordmazedoniens Premier Zoran Zaev bei den „strategischen Partnern“ ausdrücklich für die Bestellung chinesischen Impfstoffs entschuldigte und versicherte, die Beschaffung sei „keine geopolitische Frage“.

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