Daimler-Werk in Berlin-Marienfelde steht auf der Kippe

Ende März verkündete der Vorstand der Mercedes-Benz AG seinen Plan, das Berliner Mercedes-Werk in Zusammenarbeit mit Siemens zu einem „Kompetenzzentrum für Digitalisierung“ zu verwandeln.

Der Vorstand hat sich mit dem Betriebsrat und der IG Metall in wochenlangen Verhandlungen auf diese Umstrukturierung geeinigt. An Superlativen wurde dabei nicht gespart. In Marienfelde solle eine digitale Anlauffabrik entstehen, die Komponenten für Elektroautos produziere. Von einem „Campus für die Entwicklung, Erprobung und Implementierung wegweisender Softwareapplikationen“ war die Rede.

Jörg Burzer, im Vorstand von Mercedes-Benz für Produktion und Lieferketten verantwortlich, sagte, die hier erprobten Neuentwicklungen würden in den weltweit 30 Werken des Autoherstellers ausgerollt. „Wir treiben gemeinsam mit Siemens die Entwicklung von nachhaltigen Zukunftstechnologien voran – aus Berlin für die ganze Welt.“

Diese zukunftsfrohen Verlautbarungen verheißen für die angestammte 2400-köpfige Belegschaft des 120 Jahre alten Mercedes-Werks in Marienfelde nichts Gutes. Siemens und Daimler haben sich für eine „strategische Partnerschaft“ entschieden, um den „Umbau im Wandel von konventionellen Antrieben zu klimaschonenderen Elektroautos“ innerhalb kurzer Zeit umzusetzen. Es steht völlig offen, wie viele Arbeitsplätze dabei erhalten bleiben. Alles deutet jedoch darauf hin, dass ein Großteil der 2400 Arbeiter für diesen Umbau nicht mehr gebraucht wird, wenn die Produktion von klassischen Motoren und Komponenten aufgegeben wird.

Die gesamte Autoindustrie steht vor einem gewaltigen Umbruch. Die Konzerne betrachten die digitale Umstrukturierung zur Massenproduktion von Elektroautos als große Chance, zehntausende noch gut bezahlte Arbeitsplätze unwiderruflich zu zerstören.

Die jetzt veröffentlichten Pläne hatte der Daimler-Konzern längst in den Schubladen liegen. Die Corona-Pandemie wird nach dem Motto ausgeschlachtet: Man kann auch aus großen Krisen Profit schlagen. Im ersten Coronajahr 2020 machte der Konzern satte 6 Milliarden Euro Gewinn. Jetzt startet Daimler, ebenso wie der VW-Konzern, einen Großangriff, um dem Elektroautogiganten Tesla Paroli zu bieten, bevor dieser ihnen zu gefährlich wird.

Bereits Anfang März gab der Daimler-Vorstand weitgehenden Pläne bekannt, auf die er sich mit der IG Metall zuvor geeinigt hatte. So soll das Mercedes-Stammwerk in Stuttgart-Untertürkheim komplett umgewandelt und die bisherige Produktion nahezu eingestellt werden. Stattdessen soll in Untertürkheim ein Kompetenzzentrum für Elektromobilität und ein Elektro-Campus zur Produktion von Elektroantrieben entstehen. Allein das wird zahlreiche Arbeitsplätze kosten.

Die Daimler-Manager und ihre Berater, die IG Metall und ihre Betriebsräte, haben längst durchkalkuliert, um wie viel geringer der Arbeitsaufwand bei Elektrokomponenten als bei Verbrennungsmotoren sein wird. Im Namen von „nachhaltiger und umweltschonender Zukunftstechnologie“ sollen in Stuttgart und Berlin tausende Arbeiter überflüssig gemacht werden.

Die IG Metall, die an diesen Plänen mitgearbeitet hat und sie uneingeschränkt unterstützt, hat wie immer die Aufgabe übernommen, diesen gewaltigen Arbeitsplatzabbau „sozialverträglich“ gegen die Belegschaft durchzusetzen.

Politische Schützenhilfe bekommt sie in Baden-Württemberg von der grün-geführten Landesregierung unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Aufgrund seiner industriefreundlichen Politik stieg er zum Liebling der schwäbischen Autobosse auf, mit denen er diverse Deals ausgehandelt hat. Erinnert sei an dieser Stelle an den Auftritt des damaligen Daimler-Chefs Dieter Zetsche auf dem Grünen-Parteitag 2016 in Münster.

In Berlin werden Daimler und Siemens vom rot-rot-grünen Senat umworben. Die Technologiekonzerne unterschrieben im Roten Rathaus eine Absichtserklärung, die keine Garantie und noch nicht mal ein Versprechen auf den Erhalt aller vorhandenen Arbeitsplätze gibt. Dies hinderte den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) nicht daran, eine Patenschaft für die Kooperation einzugehen. Begeistert von den Konzernherren erklärte er: „Beide Unternehmen sind Berlin seit Langem und eng verbunden. Mit ihrer strategischen Partnerschaft stärken sie den führenden Wissenschafts- und Forschungsstandort Berlin und können Arbeits- und Ausbildungsplätze sichern.“

Auch die grüne Wirtschaftssenatorin Ramona Pop rollte den beiden Großkonzernen den Teppich aus. Als ob sie notleidend und hilfebedürftig wären, versprach sie ihnen einen nicht näher bezifferten Förderungsbetrag. Die Wirtschaftssenatorin ließ verlauten: „Mit unserer Wirtschafts- und Technologieförderung für Unternehmen werden wir die Kooperation bestmöglich unterstützen.“

Schaut man sich die Umstrukturierungspläne genauer an, wird schnell offenbar, wohin die Reise für die Stammbelegschaft einschließlich der Auszubildenden und der Leiharbeiter geht.

Die Unternehmerwebsite industrie.de weist auf den niedrigen, nur zweistelligen Investitionsbetrag hin. „Wie viele der rund 2400 Beschäftigten an Bord bleiben, ist offen. Die Investitionssumme deutet auf eine Verkleinerung hin, denn normalerweise kosten Werksumbauten zumindest Hunderte Millionen Euro. Daimler hatte auf notwendige ‚personelle Anpassungen‘ hingewiesen, die sozialverträglich gestaltet werden sollen. ‚Wie viele Beschäftigte wir in Berlin 2025/26 und darüber hinaus haben werden, wird sich zeigen‘, kommentiert Mercedes-Vorstand Burzer.“

Auch Jan Otto, der IG Metall-Bezirksleiter in Berlin, der vor einigen Monaten noch Pseudo-Proteste in Marienfelde veranstaltet hatte, um die von den Stilllegungsabsichten alarmierte Belegschaft zu beruhigen, kann seine Bewunderung für den Daimler-Konzern nicht länger zurückhalten.

„Wenn sich Global Player wie Daimler und Siemens zusammentun, um die Industrie von morgen von Berlin aus zu gestalten, ist das natürlich ein sehr gutes Signal für die Stadt“, sagte er. „Und es ist vor allem ein schlauer Zug der Unternehmen. Die Stadt ist mit ihren exzellenten Wissenschaftseinrichtungen und der in Europa einmaligen Start-up-Szene ein Hot-Spot für die Entwicklung digitaler Zukunftstechnologien für die Industrie.“

Wohlwissend, dass von den 2400 Arbeitsplätzen nur ein Bruchteil übrigbleiben soll, versuchen der IG-Metall-Chef und die Betriebsräte in Marienfelde die Illusion zu erzeugen, viele Produktionsarbeiter könnten zu Softwarespezialisten umgeschult werden. In Wirklichkeit stehen bei Daimler konzernweit etwa 30.000 Arbeitsplätze auf der Streichliste. Auch Siemens hat im Februar die Vernichtung von 3000 Stellen angekündigt, 740 davon allein im Gasturbinenwerk in Berlin-Moabit. Bezeichnenderweise gab der Mutterkonzern von Siemens Energy am selben Tag einen Milliardengewinn bekannt.

Daimler und andere Konzerne, wie VW oder Siemens, feiern zu Coronazeiten Milliardengewinne, während die Arbeiter in den Fabriken und Büros schlecht geschützt dem Corona-Virus ausgeliefert sind. Trotzdem bescheinigen Gewerkschaftsbürokraten wie Otto den Kapitalvertretern im Konzernaufsichtsrat, in dem sie selbst sitzen, „gute Signale“ und „schlaue Züge“.

Die Kluft zwischen den Gewerkschaften und ihren gut bezahlen Betriebsräten, die die Drecksarbeit für die Konzerne erledigen, und den Arbeitern wird zusehends unüberbrückbar. In allen genannten Konzernen spielt die IG Metall die Schlüsselrolle dabei, den massiven Stellenabbau durchzusetzen.

Die altbewährten Methoden, mit denen sie das tut, sind berüchtigt. Sie lauten: Zukunftsvereinbarung, Altersteilzeit/Abfindung, interne Qualifizierung, Versetzung und Transfergesellschaften (in die Arbeitslosigkeit).

Weil betriebsbedingte Kündigungen schwierig und teuer sind und, wenn sie sie massenhaft ausgesprochen werden, oft Widerstand bei den betroffenen Arbeitern hervorrufen, greifen die Geschäftsleitungen und die IG Metall zunehmend auf das Erpressungsmittel „Aufhebungsverträge“. Unterschreibt jemand die Vernichtung seines eigenen Arbeitsplatzes nicht, wird ihm gedroht und die Hölle heiß gemacht. Hunderten von Daimler-Arbeitern ist dies in den letzten Monaten und Jahren widerfahren.

Es ist an der Zeit, sich aus diesem Würgegriff der IG Metall zu befreien. Die massive und unwiederbringliche Arbeitsplatzvernichtung muss gestoppt werden. Um alle Arbeitsplätze zu verteidigen und sich nicht standortweise gegeneinander ausspielen zu lassen, ist ein gemeinsamer Kampf aller Daimler-Arbeiter notwendig. Dieser kann nur unabhängig von den Gewerkschaften und gegen ihren Ausverkauf erfolgreich geführt werden.

Die IG Metall und alle Gewerkschaften, hier in Deutschland und weltweit, sind in den letzten Jahrzehnten sukzessive zum festen Bestandteil der Kapitalseite geworden und stehen den Belegschaften offen feindlich gegenüber. Eine neue und wirkliche Interessenvertretung der Arbeiter muss daher völlig unabhängig von diesen Möchtegern-Managern entstehen. Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) schlägt als ersten Schritt den Aufbau von Aktionskomitees in Marienfelde und in allen Daimler-Werken vor.

Anfang des Jahres hat die SGP das Netzwerk der Aktionskomitees für sichere Arbeitsplätze ins Leben gerufen. Im Aufruf dazu heißt es: „Wir haben das Netzwerk ins Leben gerufen, weil wir nicht mehr bereit sind, die geplanten Massenentlassungen in der Industrie, die gefährlichen Arbeitsbedingungen und die Vertuschung der Infektionszahlen in den Betrieben hinzunehmen. Wir wollen den wachsenden Widerstand unabhängig von Bundestagsparteien und Gewerkschaften organisieren und international koordinieren.“

Das Netzwerk für sichere Arbeitsplätze und das Netzwerk für sichere Bildung haben am kommenden Montag um 19:30 Uhr ein gemeinsames Treffen anberaumt. Nehmt daran teil und diskutiert mit uns eine internationale, sozialistische Perspektive.

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