Trotz Impf- und Testdebakel: Bundesländer öffnen Schulen und Handel

Seit dem 15. Februar hat sich der Abwärtstrend der Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland abrupt umgekehrt. Die gemittelten Neuinfektionen sind seitdem kontinuierlich gestiegen und liegen bereits bei über 8.000 Infizierten pro Tag. Die Zahl der täglichen Corona-Toten beträgt derzeit 250 und wird in den nächsten Wochen mit der Zunahme der Infektionen noch stark ansteigen. Der Anteil des ansteckenderen Virusstamms B117, der zu Beginn des letzten Monats noch bei 6 Prozent lag, ist einem aktuellen Bericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) zufolge mittlerweile für 46 Prozent aller Neuinfektionen verantwortlich.

Unter diesen Bedingungen ist die ungesicherte Wiederöffnung von Einzelhandel und „öffentlichem Leben“ – wie sie von der herrschenden Klasse betrieben wird – ein politisches Verbrechen, mit dem das Leben und die Gesundheit von hunderttausenden Menschen aufs Spiel gesetzt wird. Mit ihrem Beschluss für eine stufenweise Aufhebung der verbliebenen Schutzmaßnahmen gegen Covid-19, auf den sich Bund und Länder am vergangenen Mittwoch geeinigt haben, begann unter den Landes- und Kommunalregierungen ein neuerlicher mörderischer Wettlauf um Profite und öffentliche Einnahmen.

So wurden in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz – den einzigen Ländern mit einer Inzidenz unter 50 – am Montag unverzüglich sämtliche Läden geöffnet, ohne dass die angekündigten Schnelltest-Kapazitäten errichtet worden wären. Die meisten anderen Bundesländer erließen am Montag die Öffnung des Einzelhandels auf der Grundlage einer „Terminshopping“-Regelung.

Insgesamt ermöglicht der Beschluss es den Ländern, in 340 Landkreisen Öffnungen durchzuführen, obwohl die Inzidenz dort im „roten Bereich“ zwischen 50 und 100 liegt. In 66 weiteren Landkreisen liegt die Inzidenz derzeit nach wie vor über der verheerenden Marke von 100.

Auch zehn Wochen seit Beginn der bundesweiten Impfkampagne haben erst 3,1 Prozent der Bevölkerung eine vollständige Immunisierung erhalten, obwohl die Impfbereitschaft laut einer repräsentativen Erhebung des RKI bei 80 Prozent liegt.

Ulrich Weigeldt, Chef des Hausärzteverbandes, erklärte gestern, mit einer systematischen Einbindung der seit Monaten bereitstehenden Hausärzte könnten jede Woche 2,5 Millionen Menschen geimpft werden. Charité-Virologe Christian Drosten hatte zuletzt ebenfalls auf dieses Vorgehen gedrängt. Laut Nationaler Impfstrategie sollen haus- und fachärztliche Praxen jedoch erst „Ende März/Anfang April… umfassend in die Impfkampagne eingebunden werden“.

Trotz des deutlichen Anstiegs der Inzidenz sollen mit der Öffnung des Einzelhandels auch die Schulöffnungen massiv vorangetrieben werden. Die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz Britta Ernst (SPD) – zugleich Bildungsministerin von Brandenburg – sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland gestern, man sei sich bundesweit „einig“, alle Schülerinnen und Schüler „noch im März“ wieder zur Schule zu schicken. Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) gab bekannt, dass ab kommendem Montag in zehn Stadt- bzw. Landkreisen alle Schüler wieder in ihre Klassenräume zurückkehren sollen.

Bereits vor vier Wochen hatten die Landesregierungen Grundschulen und Kitas oftmals ohne Maskenpflicht wieder geöffnet und damit Lehrer und Erzieher, aber auch Kinder und ihre Familien einem tödlichen Risiko ausgesetzt.

Die pandemieverstärkende Öffnungspolitik der Bundesländer ist in allen Aspekten von einer beträchtlichen kriminellen Energie gekennzeichnet. So kündigte die Landesregierung von Brandenburg am Dienstag an, den bundesweit gültigen Inzidenzgrenzwert von 100 – jenseits dessen erneute Schließungen fällig werden sollen – einseitig auf 200 zu erhöhen. Hessen, das gegenwärtig eine Inzidenz von 68 verzeichnet, ließ trotz gegenteilig lautendem Gipfelbeschluss zu Beginn der Woche die Fitnessstudios öffnen.

Der baden-württembergische Landkreis Calw manipulierte sogar die Datengrundlage, um den Einzelhandel wieder öffnen zu können. Einem dpa-Bericht zufolge ließ das Landratsamt „lokal gut eingrenzbare Ausbrüche“ herausrechnen, sodass die auf diese Weise „bereinigte Inzidenz“ fünf Tage lang unter 50 lag. Dabei berief sich das Amt auf die Corona-Verordnung des Bundeslandes, der zufolge „das Gesundheitsamt die Diffusität des Infektionsgeschehens angemessen berücksichtigen“ könne. Diese „Diffusität des Infektionsgeschehens“ in Deutschland ist wiederum das Ergebnis der behördlichen Vertuschungspolitik, die dazu geführt hat, dass in den Statistiken des RKI in vier Fünfteln aller Fälle kein Ansteckungsort angegeben werden kann.

Thüringen, das als einziges Bundesland von der Linkspartei regiert wird, weist unterdessen eine mehr als doppelt so hohe Sieben-Tage-Inzidenz auf als die meisten anderen Bundesländer und liegt mit 135 wöchentlichen Infizierten je 100.000 Einwohner bundesweit mit großem Abstand an der Spitze. Ministerpräsident Bodo Ramelow hatte sich nach der letzten Bund-Länder-Konferenz erleichtert gezeigt, „dass wir nicht mehr an die Zahl 35 gekettet sind“ und hatte dafür plädiert, „das Wort Herdenimmunität auch in den Mund zu nehmen“.

Tatsächlich geht die herrschende Klasse in Deutschland – ebenso wie in unzähligen anderen Ländern – seit Beginn der Pandemie von der Prämisse aus, dass Profite unbedingten Vorrang vor Menschenleben haben müssen. Das Ergebnis dieser Politik, die international koordinierte Shutdownmaßnahmen strikt ablehnt, sind über 800.000 Covid-Tote allein in Europa. In Deutschland lag die Gesamttodeszahl im vergangenen Jahr nach einer aktuellen Auswertung des Statistischen Bundesamtes um neun Prozent über dem Schnitt der vier Vorjahre. Dem RKI zufolge sind bislang 72.189 am Virus verstorben.

Mit dieser Politik des Todes vollstreckt die Regierung die Profitinteressen des deutschen Finanzkapitals. So zeigte sich Baden-Württembergs Handelsverbandschefin Sabine Hagmann nach der Bund-Länder-Konferenz gegenüber der Stuttgarter Zeitung „positiv überrascht“ über die verabschiedeten Öffnungspläne. Im Duktus rechtsextremer Corona-Leugner setzte sie hinzu, man befürchte jedoch, „dass durch mehr Schnelltests die Inzidenzzahlen steigen könnten – und es dadurch zu einem erneuten Lockdown kommen könnte“.

In Wirklichkeit kann von systematischen Massentestungen, die angeblich eine tragende „Säule“ des Öffnungsbeschlusses hätten sein sollen, keine Rede sein. Das von Bundeskanzlerin Angela Merkel angekündigte „Spitzengespräch mit der Wirtschaft“ – an dem die regelmäßige betriebliche Testung aller Mitarbeiter diskutiert werden sollte – wurde am Freitag im letzten Moment ohne Ersatztermin abgeblasen. Der Grund seien offene „rechtliche und logistische Fragen“, zitiert die Tagesschau den Bundesverband der Deutschen Industrie. Ohne eine regelmäßig zweimal wöchentlich stattfindende Testung aller Mitarbeiter und Schulkinder könnten Cluster-Infektionen jedoch nicht zuverlässig entdeckt werden, warnen Experten.

Anstatt die Produktion zuverlässiger Massentests planmäßig auszuweiten und in einer wissenschaftlich fundierten Art und Weise einzusetzen, sollen die vorhandenen Schnelltest-Bestände dem „freien Markt“ überlassen und dem privaten Profit untergeordnet werden. Mehrere Discount- und Drogeriemärkte haben angekündigt, Nasenabstrich-Tests für fünf Euro je Stück zu verkaufen. Am Samstag brach die Internetseite des Discounters Lidl unter der hohen Nachfrage nach Selbsttests vorübergehend zusammen. Das Manager-Magazin spricht von einem staatlich organisierten „Megageschäft“, das führende Biotech-Unternehmen sagenhaft bereichern dürfte.

Die rücksichtslose Verschärfung der "Profite vor Leben"-Politik wurde an den deutschen Finanzmärkten mit Wohlwollen quittiert. Der Deutsche Aktienindex (DAX) schloss am Dienstag mit einem Allzeithoch von über 14.400 Punkten.

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