Vor einem Jahr zeigte sich eine frühe Form von Widerstand der Arbeiterklasse gegen die mörderische Reaktion der herrschenden Klasse auf die Covid-19-Pandemie in einer Reihe von spontanen Streiks in Italien. Im Laufe der darauf folgenden Woche breiteten sich die Streiks auf andere europäische Länder sowie auf Nord- und Südamerika aus.
Zu dieser Zeit wütete die gefährliche Krankheit in Norditalien, und auch in den USA und auf der ganzen Welt mehrten sich die Fälle. Der italienische Premierminister Giuseppe Conte widersetzte sich jeglichen Notmaßnahmen, selbst als schon fast 500 Todesopfer gezählt wurden.
Schon bald wurden Militärlastwagen eingesetzt, um in Bergamo die Toten in die Krematorien zu transportieren. Am 9. März kündigte Conte schließlich einen nationalen Teillockdown an. Conte beugte sich jedoch den Forderungen des Großindustriellenverbandes Confindustria und erlaubte, dass Fabriken und andere große Betriebe geöffnet blieben.
Die Streikwelle begann am folgenden Tag, am Dienstag, den 10. März, im Fiat Chrysler-Werk Pomigliano bei Neapel. Tausende Autoarbeiter, die weiter am Band bleiben mussten, um Luxusautos von Alfa-Romeo zu produzieren, gingen spontan auf die Straße, um gegen unsichere Bedingungen zu protestieren.
Am folgenden Tag, Mittwoch, den 11. März, kündigte FCA die vorübergehende Schließung des Werks in Pomigliano an, zusammen mit anderen Fabriken in Melfi, Atessa und Cassino. Das Management stellte jedoch klar, dass die Produktion bis zum 14. März wieder aufgenommen würde, nachdem die Anlagen „gereinigt“ wären.
In den nächsten drei Tagen breiteten sich spontane Streiks in ganz Italien aus, in den Stahlwerken in Bergamo, Brescia und Genua, in den ligurischen Werften und der Electrolux-Fabrik in Treviso, in den Autoteilewerken in Cormano, in den Amazon-Lagern in den Provinzen Piacenza und Rieti und in den Geflügel- und Fleischverarbeitungsbetrieben in der Po-Ebene.
„Die Arbeiter streiken gegen das Coronavirus oder vielmehr gegen die Regierung, die die Fabriken trotz des Coronavirus offen hält“, schrieb der Corriere della Sera.
Der Widerstand der Arbeiter weitete sich schnell international aus. Am Donnerstag, den 12. März, streikten die Arbeiter der Royal Mail in mehreren Londoner Einrichtungen wegen der Sicherheitsbedingungen. Auf der anderen Seite des Atlantiks, in Kanada, stoppten Fiat Chrysler-Arbeiter im Werk Windsor, Ontario, die Produktion am selben Tag, an dem das FCA-Management den ersten Covid-19 Fall in einem nordamerikanischen Werk in Indiana bestätigte. Erst nach Intervention des Arbeitsministers von Ontario und der Gewerkschaft Unifor wurde die Produktion am nächsten Tag wieder aufgenommen.
Wie in Italien und Großbritannien sollte die Aktion der Arbeiter auch in Kanada und den Vereinigten Staaten die Form einer Rebellion gegen die Gewerkschaften annehmen, welche die Arbeiter trotz der Ausbreitung der tödlichen Krankheit in den Betrieben hielten.
Während die Gewerkschaft United Auto Workers ihre Führungsspitze ins Homeoffice schickte, um nicht vor Ort zu arbeiten, warnte die UAW die Arbeiter vor der „Verbreitung von Gerüchten“ über Ausbrüche in den Fabriken und wies sie an, sich die Hände zu waschen und „wenn möglich im Kontakt mit anderen den Abstand von einem halben Meter nicht zu unterschreiten“. Arbeiter, die Schulter an Schulter in den Fabriken arbeiten, straften diese Worte mit Verachtung. Ein Arbeiter aus Indiana äußerte, dass sowohl die UAW als auch das Unternehmen „sich einen Dreck um einen von uns oder unsere Familien scheren“.
Am Montag, dem 16. März, legten die Beschäftigten des LKW-Montagewerks Warren, in einem Vorort von Detroit ihre Arbeit in der Lackiererei nieder, wo später mindestens vier Arbeiter an der Krankheit starben. Am gleichen Tag streikten 5.000 Arbeiter im Mercedes-Benz Werk Vitoria im spanischen Baskenland gegen unsichere Arbeitsbedingungen.
Am Dienstag, den 17. März, weigerten sich die Arbeiter von FCA Transmission in Tipton, Indiana, in der Nähe von Kokomo, ihre Maschinen zu bedienen, ebenso wie die Arbeiter von Lear Seating in Hammond, Indiana. Am selben Tag führten die Busfahrer in Detroit eine Arbeitsniederlegung durch. Am Abend gab die UAW bekannt, dass sie sich mit den großen drei Automobilherstellern auf temporäre Schließungen einzelner Betriebsteile geeinigt hatte. Da sie kein Vertrauen in die UAW hatten, legten die Arbeiter des Sterling Heights Assembly Plant (SHAP) in einem Vorort von Detroit - einem der größten Autowerke in den USA - wenige Stunden später die gesamte Produktion still.
Am Mittwoch, dem 18. März, setzte die Morgenschicht bei SHAP die Arbeitsniederlegung fort. Ihr schlossen sich die Arbeiter im Montagewerk Jefferson North, im Motorenwerk Dundee in der Nähe von Ann Arbor, Michigan, und im Werkskomplex Toledo in Ohio an, wo Arbeiter und Angestellte in die UAW-Büros stürmten, um die Gewerkschaftsfunktionäre zu stellen. Am frühen Nachmittag kündigten die drei großen Autohersteller die Schließung ihrer Werke an und behaupteten, dies geschehe aus der gemeinsamen Sorge der Unternehmen und der UAW um die Sicherheit der Arbeiter.
Am folgenden Tag, Donnerstag, dem 19. März, kam es zu spontanen Streiks in Callcentern in ganz Brasilien, wobei die Arbeiter des italienischen Unternehmens ImaViva erklärten: „Wir werden nicht in unseren Kabinen sterben!“ Der Streik ereignete sich drei Tage nachdem die 2.800 Mitarbeiter des Unternehmens im sizilianischen Palermo nach einem bestätigten Fall von Covid-19 streikten und die Schließung des Betriebs vor Ort erzwangen.
Es gab eine Reihe von wichtigen Aspekten bei dieser Welle von Kämpfen. Der erste war der globale Charakter. Die Pandemie ist von Natur aus eine globale Krise, und das Covid-19-Virus respektierte damals wie heute keine internationalen Grenzen. Arbeiter in ganz Europa und Amerika reagierten in dem Bemühen, Leben zu retten anstelle der Profitinteressen von Konzern- und Finanzeliten.
Zweitens entstanden diese Kämpfe, als die Pandemie noch im Anfangsstadium war. Am 10. März lag die Zahl der weltweiten Todesfälle durch die Pandemie bei etwa 6.500. Ende Juni waren es schon über 45.000. In den USA wurde der erste Todesfall bereits Ende Februar verzeichnet, und die spontanen Streiks in den Autowerken brachen aus, als sich die Zahl der Todesopfer landesweit der 100 näherte.
Ein Jahr später beläuft sich die Zahl der Todesopfer auf weltweit 2,6 Millionen Menschen, davon mehr als 538.000 allein in den USA.
Drittens: Während die Leitmedien alles taten, um Berichte über den sich ausbreitenden Widerstand der Arbeiter zu verschweigen, lieferte die World Socialist Web Site detaillierte Berichte über die Streikwelle. Aber wir berichteten nicht nur über diese Kämpfe. Die WSWS und die Sozialistischen Gleichheitsparteien auf der ganzen Welt ermutigten die Arbeiter aktiv, die unabhängige Initiative zu ergreifen, um Leben zu retten. Die Erklärung der amerikanischen SEP vom 14. März mit dem Titel „Legt die Autoindustrie still, um die Ausbreitung des Coronavirus aufzuhalten!“ wurde über 130.000 Mal aufgerufen.
Die ersten Aktionen der Arbeiterklasse - in den USA waren es 260 Streiks und Arbeitsniederlegungen, die durch die Pandemie ausgelöst wurden und an denen sich eine Vielzahl von Arbeitern zwischen dem 1. März und dem 31. Mai beteiligte - erzwangen die teilweise Schließung von Betrieben und Schulen und retteten unzählige Leben.
Diese Aktionen waren von immenser Bedeutung, aber sie blieben weitgehend unkoordiniert. Die Arbeiter strebten zwar danach, eine Politik durchzusetzen, die Leben retten sollte. Doch ihre Führung waren keine unabhängigen Arbeiterorganisationen mit klarer politischer Perspektive und von einem Programm geleitet.
Die herrschende Klasse reagierte, indem sie in die Offensive ging. Ende März verabschiedete der US-Kongress mit nahezu einstimmiger Unterstützung von Republikanern und Demokraten das CARES-Gesetz, mit dem geschätzt 4 Billionen Dollar an die Wall Street und Großkonzerne überschrieben wurden. Die begrenzte finanzielle Unterstützung für die Arbeiter, die im CARES-Gesetz enthalten war, diente dazu, der herrschenden Klasse Zeit zu verschaffen, um mit Unterstützung der Gewerkschaften eine systematische Kampagne zur Wiedereröffnung von Schulen und Arbeitsplätzen zu starten, mit dem Wahlspruch: „Die Medizin darf nicht schlimmer sein als die Krankheit.“
Dies ging einher mit der Förderung faschistischer Kräfte, die ein Ende der Abriegelungen forderten, einschließlich der Erstürmung des Parlamentsgebäudes im Bundesstaat Michigan am 30. April durch bewaffnete rechte Milizen, eine Generalprobe für den Putschversuch vom 6. Januar.
Inmitten dieser Entwicklungen vertraten die World Socialist Web Site und die sozialistischen Gleichheitsparteien in der ganzen Welt mit Vehemenz ein Programm, um die Pandemie zu stoppen. Am 28. Februar, als die Zahl der Toten erst 3.000 weltweit betrug, gab das Internationale Komitee der Vierten Internationale eine Erklärung heraus und forderte eine „global koordinierte Notfallmaßnahmen gegen die Coronavirus-Pandemie“, einschließlich einer Mobilisierung der sozialen und wissenschaftlichen Ressourcen weltweit, um die Krankheit zu stoppen.
Am 17. März, als die Zahl der Todesopfer in den USA 170 betrug, veröffentlichte das Politische Komitee der SEP (US) eine Erklärung mit dem Titel: „Wie die Covid-19-Pandemie zu bekämpfen ist: Ein Aktionsprogramm für die Arbeiterklasse“. Sie forderte darin „die sofortige Schließung aller Schulen, der nicht-systemrelevanten Produktionsanlagen und anderer Arbeitsplätze, mit vollem Einkommen für die betroffenen Arbeiter: Von keiner Arbeiterin, keinem Arbeiter darf erwartet werden, dass er sein Leben in Gefahr bringt.“
Es besteht kein Zweifel, dass Hunderttausende von Menschenleben gerettet worden wären, wenn die vom IKVI vertretene Politik umgesetzt worden wäre.
Ein Jahr später steht die Arbeiterklasse am Scheideweg. Überall auf der Welt werden noch bestehende Beschränkungen aufgehoben. Boris Johnson hat am Montag die Schulen in Großbritannien wieder geöffnet. Zehntausende von Lehrern und Schülern, darunter auch Gymnasiasten in New York City, werden von der Biden-Regierung und mit Unterstützung der staatstreuen Gewerkschaften zurück in die Schule getrieben, auch wenn Experten vor einer „Hurrikan“-Welle der Pandemie in den nächsten vier bis sechs Wochen warnen.
Die Arbeiterklasse muss eine neue politische Führung und von den Gewerkschaften unabhängige Basis-Komitees aufbauen, um Streiks zur Schließung von Schulen und aller nicht-systemrelevanten Produktionen sowie die volle Entschädigung für Arbeitern und Kleinbetrieben zu fordern, bis die Bevölkerung weitgehend geimpft und die Pandemie unter Kontrolle ist.
Das muss mit dem Kampf für ein sozialistisches Programm verbunden werden, einschließlich der Enteignung von Pandemie-Profiteuren, einer radikalen Umverteilung des Reichtums und einer massiven Nutzung von Ressourcen für Tests, Kontaktverfolgung, Impfungen und andere Gesundheitsmaßnahmen, die notwendig sind, um Covid-19 auszurotten.