Über 100.000 Neuinfektionen in 48 Stunden: Corona-Katastrophe in Großbritannien eskaliert

Die Neuinfektionen mit Covid-19 steigen in Großbritannien weiter drastisch an. Am Dienstag erreichten sie den neuen Rekord von 53.135 positiven Fällen. Am gestrigen Mittwoch wurden erneut 50.023 Fälle gemeldet. Das bedeutet, es gab in nur zwei Tagen über 100.000 Neuinfektionen.

Gestern wurden 981 weitere Todesopfer gemeldet. Allein in der Woche ab dem 29. Dezember stieg die Zahl der hospitalisierten Corona-Patienten in England von 18.063 auf 21.787. Am stärksten stiegen die Zahlen in London, und zwar um 44 Prozent von 1.552 auf 2.237.

Damit erreicht die offizielle Zahl der Todesopfer 72.548. Allerdings ist die tatsächliche Zahl sehr viel höher und nähert sich der Marke von 90.000. Am Dienstag legten die Statistikbehörden von England und Wales Zahlen vor, laut denen in 87.000 Sterbeurkunden Covid-19 erwähnt wurde. Die Zahlen werden noch weiter ansteigen, da Schottland und Nordirland noch keine Sterblichkeitszahlen für den Zeitraum vom 24. bis zum 28. Dezember veröffentlicht haben.

Die schrecklichen Opferzahlen sind das Ergebnis der mörderischen Politik der Herdenimmunität, die die konservative Regierung von Premierminister Boris Johnson verfolgt. Abgesehen von einem wenige Monate andauernden landesweiten Lockdown ab Ende März hat die Regierung zugelassen, dass sich das Virus ungehindert in der Bevölkerung ausbreitet. Der neue Stamm, der seit September in Großbritannien im Umlauf ist und sich mittlerweile auf allen Kontinenten ausgebreitet hat, sorgt für ein katastrophales Wiederaufleben des Virus.

Der Leiter des National Health Service (NHS), Sir Simon Stevens, erklärte am Dienstag: „Wir befinden uns wieder im Auge des Sturms. Eine zweite Welle des Coronavirus fegt durch Europa und auch dieses Land.“

Am Montag lagen in England 20.426 Menschen wegen Covid-19 im Krankenhaus, mehr als auf dem Höhepunkt der ersten Welle am 12. April (18.974).

Die Krankenhäuser sind überlastet, mehrere mussten bereits den Notstand ausrufen. Am akutesten ist die Lage in London. Für den Londoner Ambulance Service war der 26. Dezember mit 7.918 Einsätzen – über 2.500 mehr als im Vorjahr – einer der „arbeitsreichsten Tage seiner Existenz“. Am Sonntag meldete das Queen Elizabeth Hospital einen Notfall wegen drohenden Sauerstoffmangels. Das Krankenhaus musste Patienten in andere Krankenhäuser im Stadtgebiet verlegen.

Ein Reporter von Sky News berichtete aus dem Queen’s Hospital in Romford, die Situation dort sei so schlimm, dass am Dienstag Patienten in Krankenwagen behandelt werden mussten, weil „nicht mehr genug Betten frei sind“. Der Daily Mirror berichtete: „Einige Gesundheitsbehörden erwägen, vor den Krankenhäusern Zelte für die Triage der Patienten aufzustellen, da sie im ,Großschaden‘-Modus arbeiten.“

Der Anstieg der Infektionen droht außerdem, die Verteilung des Impfstoffs zu überwältigen, die ohnehin nur im Schneckentempo vonstatten geht. Bis Dienstag hatten nur 600.000 Menschen den Impfstoff erhalten. Die Auslieferung der zweiten Dosis an diejenigen mit der höchsten Priorität begann erst am Dienstag.

Die London School of Hygiene and Tropical Medicine warnt in einer Vorstudie vor der „geschätzten Übertragbarkeit und Schwere der neuen Variante“ des Virus in England: „Solange es keine umfangreiche Impfkampagne gibt, wird die Zahl der Hospitalisierungen, Aufnahmen in Intensivstationen und Todesfälle im Jahr 2021 diejenige aus dem Jahr 2020 noch überschreiten.“

Weiter heißt es: „Das einzige Szenario, das nach unserer Erwägung die Belastung der Intensivstationen unter das Niveau der ersten Welle drücken wird, ist eine strenge Intervention der Stufe 4 in ganz England und die Schließung der Schulen im Januar sowie die Impfung von zwei Millionen Menschen pro Woche.“

Die Regierung hält große Stücke auf den Impfstoff AstraZeneca von der Universität Oxford, von dem sie 100 Millionen Dosen bestellt hat und der gestern in Großbritannien zugelassen wurde. Doch bei der derzeitigen Impfquote werden trotzdem die meisten Menschen ungeschützt bleiben. Dr. Bharat Pankhania, ein hochrangiger klinischer Dozent an der Universität Exeter, erklärte: „Es wird immer noch 50 Wochen dauern, bis 50 Millionen Menschen geimpft sind.“ Zudem müsste rund um die Uhr geimpft werden. Großbritannien hat 66 Millionen Einwohner.

Nach der jahrzehntelangen Unterfinanzierung und den Kürzungen zur „Effizienzsteigerung“ hat der NHS nicht genug Personal für einen solchen Kraftakt. Laut NHS-Krankenhäusern, psychiatrischen Diensten und kommunalen Anbietern fehlen 87.000 Mitarbeiter.

Im Frühjahr musste die Regierung sieben provisorische „Nightingale“-Feldlazarette bauen. Am Dienstag wurde bekannt, dass diese wegen Personalmangels weitgehend stillgelegt wurden. Der Telegraph berichtete: „Das Krankenhaus im Londoner EXCEL-Zentrum ist angeblich vollständig ausgeräumt worden, einschließlich der Betten und Beatmungsgeräte.“

Die Krise ist so schnell eskaliert, dass darüber spekuliert wird, Johnson müsse möglicherweise in den kommenden Tagen ganz England unter den Lockdown der Stufe 4 stellen oder sogar eine noch nicht definierte „Stufe 5“ an Einschränkungen verhängen. Berichten zufolge könnten unter Stufe 5 die Schulen und Universitäten geschlossen werden.

Allerdings wird Johnson von den gierigsten Vertretern der herrschenden Elite dazu gedrängt, jede Art von Lockdown zu verhindern, bei dem Eltern zu Hause bleiben und auf ihre Kinder aufpassen müssen, statt am Arbeitsplatz Profite für die Konzerne zu erwirtschaften. Die Daily Mail hatte am Dienstag die schreierische Headline „Verratet unsere Kinder nicht.“ Die Sun zitierte einen Tory-Hinterbänkler mit den Worten: „Die meisten Tory-Abgeordneten sind der Ansicht, dass die Schulen geöffnet bleiben müssen. Die Leute aus dem Gesundheitswesen sagen ,Oh Gott, die Krankenhäuser werden voll sein‘. Wir wissen, dass offene Schulen den R-Wert erhöhen. Die Frage ist, ob wir bereit sind, diesen Preis zu zahlen. Meiner Meinung nach sollten wir dazu bereit sein.“

Johnson hat sich geweigert, die Schulen zu schließen, sodass nächste Woche der Unterricht wieder aufgenommen wird. Nur an Sekundarschulen soll die Wiederaufnahme bis auf den 18. Januar verschoben werden.

Die Regierung ignoriert wieder einmal die Ratschläge ihrer eigenen wissenschaftlichen Berater. Der Telegraph schrieb: „Die Beratergruppe SAGE hat den Premierminister gewarnt, die Infektionen könnten außer Kontrolle geraten, wenn die Sekundarschulen nicht bis Ende Januar geschlossen bleiben.“

Die Wiedereröffnung der Schulen wird mit der Behauptung gerechtfertigt, Schulen seien sicher, weil die Kinder getestet werden. Das ist gelogen, vor allem angesichts der Tatsache, dass nur Sekundarschüler getestet werden. Millionen von Grundschülern und Lehrkräften, die für alle Altersgruppen zuständig sind, werden nicht getestet werden. Wenn sämtliche Sekundarschulen geöffnet würden, wie es die Regierung plant, müssten innerhalb einer Woche 5,5 Millionen Schüler getestet werden.

Es gibt kein Personal, das für eine so enorme und sicherheitsrelevante Aufgabe qualifiziert ist. Die Regierung kündigte am Dienstag an, dass sich 1.500 Soldaten „bereithalten und Sekundarschulen und Hochschulen in ganz England bei der Durchführung von Covid-Tests bei Schülern und Personal ab Januar Unterstützung leisten“. Soldaten im Klassenzimmer würde ein neues und gefährliches Stadium der Militarisierung der Gesellschaft bedeuten.

Nichts davon wäre möglich ohne die Unterstützung der Labour Party und der Gewerkschaften im Bildungswesen, die nur ein Aufschieben der Rückkehr in die Schulen um zwei Wochen und genug Tests gefordert haben. Die zweite Generalsekretärin der National Education Union (NEU), Mary Bousted, erklärte in einem Interview mit dem Guardian: „Unsere Sorge ist, dass sie heute nicht die richtige Entscheidung treffen und tun, was sie in der ganzen Pandemie getan haben: eine ideologische Linie verfolgen und die Schulen wieder in Betrieb nehmen, bevor das Testprogramm richtig in Gang gesetzt werden kann.“

Die NEU weigert sich, ihre mehr als eine halbe Million Mitglieder für den Kampf gegen die erzwungene Rückkehr von Millionen von Schülern und Personal in die Schulen zu mobilisieren. Der Guardian schrieb über Bousteds Position: „Ein Arbeitskampf ist zwar keine Option, doch sie erklärte, die NEU weise ihre Mitglieder ausdrücklich darauf hin, dass sie das Recht haben, in einem sicheren Umfeld zu arbeiten.“

Das Aktionskomitee für sichere Bildung (Educators Rank-and-File Safety Committee), das von der Socialist Equality Party ins Leben gerufen wurde, veranstaltet am 3. Januar ein Koordinationstreffen, um die zur Schließung der Schulen und Universitäten notwendigen Maßnahmen zu planen. Um teilzunehmen, schreibt uns an sep@socialequality.org.uk. Am 9. Januar findet um 14 Uhr eine Onlineveranstaltung statt. Wir rufen alle Lehrkräfte, Eltern, Schüler und Studenten auf, daran teilzunehmen und den Link zu diesem Treffen so weit wie möglich zu verbreiten.

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