Auf der ganzen Welt standen die Weihnachtsfeiertage des Jahres 2020 im Zeichen der tragischen Tatsache, dass mehr als 1,7 Millionen Menschen, die der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen sind, nie mehr die Möglichkeit haben werden, ihre Angehörigen zu besuchen und mit ihnen zu feiern.
Seit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der erste Fall von Covid-19 gemeldet wurde, sind pro Minute mehr als drei Menschen an der Krankheit gestorben. Darunter befanden sich Großeltern, die sich über einen Computer von ihren Angehörigen verabschieden mussten, Arbeiter, die bis zum letzten Moment am Beatmungsgerät um Atem ringen mussten, junge Erwachsene, deren Leben gerade erst begonnen hatte, und nur zwei Monate alte Kleinkinder, die sich gerade erst der Welt bewusst wurden, bevor ihr Leben ausgelöscht wurde.
Nach fast einem Jahr beschleunigt sich die Ausbreitung der Pandemie. Jeden Tag sterben mehr als 11.500 Menschen, d.h. fast doppelt so viele wie auf dem Höchststand während der ersten Welle im April. Bis die Zahl der Toten die Marke von 100.000 überschritten hatte, dauerte es vier Monate. Mittlerweile sterben alle neun Tage 100.000 Menschen.
In Deutschland ist die Lage auch während der Feiertage unverändert dramatisch. Obwohl die Test- und Meldekapazitäten über die Feiertage stark reduziert wurden, meldeten die Gesundheitsämter erneut knapp 11.000 Neuinfektionen und 348 Todesfälle, womit die Zahl der Covid-Todesopfer insgesamt den Wert von 30.000 deutlich überschritten hat.
Während hierzulande die ersten Impfungen beginnen, häufen sich in den Medien Berichte von überfüllten Leichenhallen und überlasteten Krematorien. Das Universitätsklinikum Gießen-Marburg musste lokale Bestatter um Unterstützung bitten und kurzfristig weitere Kühlkapazitäten beschaffen, da die bisherigen „an ihre Grenzen stoßen“. Im Gießener Krematorium sind ebenfalls beide Kühlräume überfüllt, weshalb die Stadtwerke den Betrieb auch über die Weihnachtstage angeordnet haben. Man nehme derzeit nur noch Särge an, die eingeäschert werden sollen, erklärte ein Sprecher gegenüber der Lokalpresse.
Wie ein Mitarbeiter des Krematoriums Tolkewitz bei Dresden gegenüber Tag24 berichtet, müssen Särge mittlerweile in „Ausweich-Garagen ohne Kühlung“ sowie im Eingangsbereich zwischengelagert werden, obwohl die vier Öfen der Einrichtung „zeitweise rund um die Uhr“ aktiv sind. Ähnliche Berichte hatte es zuvor aus dem hessischen Hanau und dem sächsischen Zittau gegeben.
Auf Weltebene sind die USA weiterhin das am stärksten betroffene Land. Präsident Donald Trumps Politik der Herdenimmunität, die von den Demokraten unterstützt wird, hat bisher einen von tausend Einwohnern des Landes das Leben gekostet. Die tödliche Krankheit breitet sich weiter aus, weil Schulen und Arbeitsplätze erzwungenermaßen offen gehalten werden. Täglich werden fast 3.000 weitere Todesopfer und 220.000 neue Infektionen gemeldet.
Der jüngste Anstieg der Infektionen löste zahlreiche unheilvolle Kommentare aus, vor allem aus dem Corona-Beratergremium des künftigen US-Präsidenten Biden. Professor Dr. Celine Gounder von der Universität New York erklärte auf MSNBC, in den nächsten Wochen stehe „Anstieg über Anstieg über Anstieg“ bevor. Sie warnte, das Krankenhauspersonal werde „leider einige sehr schwierige Triage-Entscheidungen fällen müssen – wer welche Behandlung erhält und wer nicht.“
Das gilt vor allem für Bundesstaaten wie Kalifornien, Oklahoma, Tennessee und Texas, wo die Kapazitäten der Krankenhaussysteme fast ausgelastet sind. Dr. Lisa Piercey, Gesundheitsministerin von Tennessee, erklärte gegenüber dem National Public Radio: „Wenn es nach Weihnachten und Neujahr einen weiteren Anstieg wie nach Thanksgiving gibt, werden unsere Krankenhäuser völlig zusammenbrechen.“
Ähnlich äußerte sich auch Dr. Atul Gawande, der ebenfalls in Bidens Beratergremium sitzt. Er erklärte gegenüber CNBC: „In mehr als einem Drittel des Landes sind die Krankenhäuser bereits voll bis überfüllt.“ Damit droht eine noch katastrophalere Situation als bisher. In den USA gibt es mehr als 115.000 stationäre Einlieferungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus, d.h. doppelt so viele wie im Juli und im April, und die Zahl der täglich neu eingelieferten Patienten steigt.
Auf die Frage, wie sich ein noch schlimmeres Szenario vermeiden ließe, antwortete Gawande: „Was wir deshalb tun? Es sind weiterhin die gleichen Praktiken, die auch tatsächlich wirken. [...] Es wird noch mindestens 100.000 weitere Todesopfer geben.“
Die Aussage, der Tod von 100.000 Menschen sei unvermeidlich, kommt einem Eingeständnis des Bankrotts der „Praktiken“ der ganzen herrschenden Klasse Amerikas gleich. Abgesehen davon ist es eine Lüge.
Es ist allgemein bekannt, dass bestimmte Notfallmaßnahmen die Ausbreitung des Virus aufhalten und die Welle von Toten beenden können. In Ländern wie China und Vietnam, die umfassende und langandauernde Lockdowns durchgeführt haben – darunter die Schließung von nicht systemrelevanten Arbeitsstätten und Schulen – konnte das Virus eingedämmt und fast ausgerottet werden.
China, wo das Virus zuerst auftauchte, hat 1,4 Milliarden Einwohner, d.h. mehr als viermal so viele wie die USA. Insgesamt sind dort 4.634 Menschen an Covid-19 gestorben, und seit April wurden keine weiteren Toten durch das Virus mehr gemeldet. In den USA, die, genau wie die Industrienationen Europas, darauf beharrt haben, dass die nicht systemrelevante Produktion fortgesetzt werden und die Schulen geöffnet bleiben müssen, sterben im Durchschnitt pro Woche 19.600 Menschen an Covid-19 – mehr als viermal so viele wie in China während des ganzen Jahres. Diese Tatsachen anzuerkennen, bedeutet keine Unterstützungserklärung für das chinesische Regime.
Notfallmaßnahmen, die das Virus eindämmen und kontrollieren und die Welle der Todesfälle beenden würden, werden aus einem einfachen Grund nicht getroffen: Sie würden die wirtschaftlichen Interessen der Finanzoligarchie beeinträchtigen, die die kapitalistische Gesellschaft dominiert. Unternehmensprofite, Aktienkurse und die Vermögen der Superreichen haben absolute Priorität über Menschenleben. Um die Arbeiter in verseuchte Werke und Arbeitsplätze, die Schüler und Lehrkräfte in unsichere Schulen zu zwingen und die Profite nicht zu beeinträchtigen, weigern sich die herrschenden Klassen, der wachsenden Schar der Arbeitslosen ein garantiertes Einkommen bereitzustellen. Die Arbeiter stehen vor der „Wahl“, ihr Leben zu riskieren oder in Obdachlosigkeit und Elend zu stürzen.
Das just vom US-Kongress verabschiedete lächerliche „Hilfsgesetz“ ist der dreisteste Ausdruck der Absicht der herrschenden Klasse, die Pandemie auszunutzen, um sich noch weiter zu bereichern und die Löhne und sozialen Bedingungen der Arbeiterklasse immer weiter zu senken.
Aus diesem Grund ist der Kampf gegen die Pandemie, das Massensterben und die massenhafte Verarmung ein politischer Kampf gegen das kapitalistische System. Erforderlich ist die unabhängige Intervention der Arbeiterklasse, um die Stilllegung der nicht systemrelevanten Produktion und der Schulen zu erzwingen, die betroffenen Arbeiter in vollem Umfang zu entschädigen, sichere Bedingungen an systemrelevanten Arbeitsplätzen durchzusetzen, Tausende zusätzliche Pflegekräfte und Ärzte einzustellen, genug Medikamente und gesundheitliche Ressourcen wie Schutzausrüstung zu beschaffen und Hochgeschwindigkeits-Internet und andere Mittel für Distanzunterricht während der Pandemie bereitzustellen. Die immensen Mittel, die für diese sozialen Bedürfnisse erforderlich sind, können und müssen durch die Enteignung der obszönen Vermögen der Wirtschafts- und Finanzelite und die Überführung der großen Konzerne und Banken in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle der Arbeiterklasse beschafft werden.
Die künftige Biden-Regierung hat solche Maßnahmen bereits abgelehnt und stattdessen erklärt, es dürfe weder eine Schließung der Betriebe noch der Schulen geben – im Wesentlichen ist das die gleiche tödliche Politik der Herdenimmunität, die auch Trump verfolgt hat. Diejenigen, die sterben müssen, sollen den Mund halten und ihr Schicksal akzeptieren – vielleicht noch mit einem Trostpreis von 600 Dollar.
Auch in allen anderen kapitalistischen Staaten orientieren sich die Regierungen an der Politik von Biden und Trump. In Großbritannien, wo vor Kurzem ein neuer und noch infektiöserer Stamm des Coronavirus entdeckt wurde, rechnet der National Health Service damit, dass seine Krankenhäuser am Weihnachtstag mehr Corona-Patienten behandeln werden als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt der Pandemie. Das Land hat bereits mehr als 80.000 Todesopfer zu beklagen, die Zahl der Neuinfektionen liegt momentan auf Rekordniveau.
In Brasilien, das mit mehr als 191.000 die weltweit zweitgrößte Zahl der Todesopfer zu verzeichnen hat, propagiert der faschistische Präsident Jair Bolsonaro Hydroxychloroquin als Mittel gegen die Pandemie. Das Mittel, zu dessen Einnahme auch Trump geraten hat, hat nachweislich keinen Effekt auf die Sterblichkeitsraten. Das hat Bolsonaro jedoch nicht daran gehindert, seine Herdenimmunitätspolitik zu verschärfen und diese und andere wirkungslose Mittel zu propagieren, um die letzten verbliebenen Lockdowns und andere Gesundheitsmaßnahmen in Brasilien zu beenden.
Auf der anderen Seite des Pazifiks war die Politik des indischen Premierministers Narendra Modi genauso katastrophal. Nachdem er ohne Vorwarnung oder Planung einen landesweiten Lockdown verhängt und Dutzende Millionen Arbeiter sich selbst überlassen hatte, benutzte Modi anschließend die dadurch entstandene soziale Krise für eine radikale Back-to-work-Politik. Das hat dazu geführt, dass die Fallzahlen seit Mai ununterbrochen rapide ansteigen und mehr als 10,2 Millionen Menschen infiziert und mehr als 148.000 gestorben sind.
Wenn die Warnungen von Gesundheitsexperten und der World Socialist Web Site im Februar und März befolgt worden wären, dann würden mehr als eineinhalb Millionen Menschen noch leben. Und die Feiertage wären nicht überschattet vom Gespenst des Todes.
Doch wie Karl Marx einst schrieb, wird die Kapitalistenklasse von einem anderen Gespenst heimgesucht: dem Gespenst der sozialistischen Revolution. In den letzten Monaten kam es von Pflegekräften in den USA bis zu Bauern in Indien weltweit zu einem Aufleben des Klassenkampfes. Die Aufgabe besteht nun darin, diese Kämpfe zu bewaffnen – nicht nur mit Empörung über den Tod von Kollegen, Freunden und Angehörigen durch eine vermeidbare Pandemie, sondern darüber hinaus mit einem revolutionären internationalistischen Programm, das der tieferen Krankheit, die diese Welt zerstört, ein Ende bereitet: diese Krankheit – der Kapitalismus – muss durch den Sozialismus geheilt werden.