Gestern teilte das Robert-Koch-Institut (RKI) mit, dass sich in Deutschland in den vorangegangenen 24 Stunden 4058 Menschen neu mit dem Coronavirus infiziert haben. Das sind 1200 mehr als am Tag zuvor, der mit 2828 Neuinfektionen bereits den höchsten Anstieg seit April markiert hatte. Auch die Rate der positiven Tests (von 1,22 auf 1,64 Prozent) sowie der Altersdurchschnitt – und damit die potenzielle Todesrate der Infizierten – stiegen in der vergangenen Woche jeweils stark an. In der vergangenen Woche seien doppelt so viele Fälle aufgetreten wie noch in der ersten Septemberwoche, so das RKI.
Die herrschende Klasse weiß, dass sie mit ihrer rücksichtslosen Öffnungspolitik und ihrer Weigerung, ernsthafte Maßnahmen zur Eindämmung des Virus zu ergreifen, eine Katastrophe vorbereitet. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach erklärte, wenn sich der Altersdurchschnitt der Infizierten weiter an denjenigen der Bevölkerung angleiche, sei mit einer Todesrate von mindestens einem Prozent zu rechnen, also Hunderten Toten pro Tag. Dies jedoch unter der Annahme, dass das Gesundheitssystem nicht kollabiere.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte bereits Ende September verkündet, sie rechne bis Weihnachten mit 19.200 Neuinfektionen täglich. Diese düstere Prognose wird von den Ereignissen der letzten Tage bereits übertroffen. Bei gleichbleibender Entwicklung droht zum Ende des Jahres eine tägliche Infektionszahl von rund 30.000 Menschen. Das läge in der Größenordnung der Vereinigten Staaten – einem Land mit viermal größerer Bevölkerung.
In den USA hat die gleichgültige Reaktion der Trump-Regierung auf die Pandemie bislang 212.000 Tote gefordert, jedoch bei einer viel größeren Gesamtzahl der Infizierten. Die viel gerühmte „niedrige Todeszahl“ in Deutschland ist, bezogen auf die Anzahl der Infektionen, in Wirklichkeit nahezu identisch mit derjenigen der USA. Laut den Zahlen der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität würde die Zahl der Toten in Deutschland bei über 231.000 liegen, sobald sich hierzulande ebenso viele Menschen infiziert haben.
Sollten sich – wie von Kanzlerin Merkel bereits im März prognostiziert – in Deutschland langfristig 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung infizieren, würde dies bei der derzeitigen Sterberate zwischen 1,53 und 1,78 Millionen Tote bedeuten. Dies entspricht in etwa der Warnung eines im April erstellten und später veröffentlichten Papiers des Bundesinnenministeriums, das bei einem „Worst-Case-Szenario“ von „über einer Million Toten im Jahre 2020“ allein in Deutschland ausgeht.
Der sprunghafte Anstieg der Infektionszahlen ist das Ergebnis der kriminellen und bewussten Durchseuchungspolitik der Bundes- und Landesregierungen. Sie haben in den vergangenen Wochen und Monaten alles darangesetzt, Arbeiter zurück in die Betriebe zu zwingen, Schulen unter unsicheren Bedingungen zu öffnen, Ausbrüche zu vertuschen und verweigerten zugleich jede Investition in den Schutz vor der Pandemie.
Der Lehrerinitiative #Bildungabersicher zufolge hat es bislang an über 1000 Schulen und Kitas in Deutschland Infektionsfälle gegeben. Laut einer aktuellen amtlichen Studie aus Großbritannien sind Schulen und Bildungseinrichtungen dort mittlerweile für nahezu die Hälfte des Infektionsgeschehens verantwortlich.
Auf einer Pressekonferenz am Donnerstag, die angesichts der explodierenden Fallzahlen einberufen worden war, bezeichnete Gesundheitsminister Jens Spahn die Situation an Kindergärten und Schulen als „vergleichsweise gut“. Über einen „zweiten Lockdown“ solle keine mediale „Debatte“ geführt werden, verlangte Spahn. Schuld an den Neuinfektionen sei nicht die Öffnungspolitik der Bundes- und Landesregierungen, sondern private „Feiern“, „Hochzeiten“ und „religiöse Zusammenkünfte“.
Spahn beschuldigt gezielt die Bevölkerung, um zu verschleiern, was die Pandemie in Wirklichkeit antreibt: Die Explosion der Fallzahlen in Deutschland und anderen Ländern ist ein direktes Ergebnis der unsicheren Rückkehr an die Arbeitsplätze und Schulen und aufs Engste verbunden mit der kapitalistischen Ausbeutung der Arbeiterklasse. Besonders scharf zeigte sich dies seit Beginn der Pandemie in den Fabriken des Wurst-Milliardärs Clemens Tönnies.
So haben sich im Tönnies-Fleischbetrieb Weidemark im emsländischen Sögel bereits 112 der 2000 Arbeiter infiziert, während die Produktion nach wie vor weiterläuft. Anstatt eine umfassende Quarantäne anzuordnen und Ärzteteams zu mobilisieren, erklärte der zuständige Landkreis am Mittwoch, dass die Beschäftigten der Schlachtung noch bis zum heutigen Freitag weiterarbeiten müssen – diejenigen in der Zerlegung sogar bis Sonntag. Dies geschehe, „damit keine Ware verdirbt“. Auch die städtischen Schulen sollen weiterhin regulär geöffnet bleiben.
Die Tönnies-Tochterfirma kündigte unterdessen an, eine einstweilige Verfügung gegen die Schließung zu beantragen, um in der Abwägung zwischen Profit und Menschenleben die „Verhältnismäßigkeit [zu] wahren“. Weiter erklärte der Konzern, die Schlachtung von derzeit 8.000 Schweinen pro Tag – anstatt der bisherigen 15.000 – stelle einen unzulässigen „Druck auf die landwirtschaftlichen Erzeugungsketten“ dar und gefährde den „Tierschutz auf den Höfen in der Region“.
In einem Vion-Fleischbetrieb in Emstek (Niedersachsen), wo sich bislang 63 Mitarbeiter infiziert haben, geht die Arbeit ebenfalls weiter. Dies habe der Landrat von Cloppenburg mit dem Schlachtkonzern vereinbart, berichtete der NDR. Im nahegelegenen Vechta sind zugleich zwei Bewohner eines Pflegeheims verstorben, in dem vergangene Woche 50 Corona-Fälle aufgetreten waren.
Begleitet wird die „Profite vor Leben“-Politik von einer rechten Propagandakampagne in Wirtschaft, Politik und Medien, die das Virus verharmlost. Im Interview mit Wolfram Weimer – dem ehemaligen Chefredakteur der Welt und der Berliner Morgenpost, sowie Gründer des rechten Magazins Cicero – klagt der Bonner Virologe und Verfechter der „Herdenimmunität“, Hendrik Streeck, die Bevölkerung habe „zu viel Angst“ vor einem Virus, das „tödlich nur für wenige“ sei. Schließlich sei das Risiko, das vom Virus ausgehe, „inzwischen gut kalkulierbar“.
Weimer und Streeck trafen sich am Rande des Hamburger Wirtschaftsgipfels „Neu denken“, an dem auch der frühere SPD-Vorsitzende und Außenminister Sigmar Gabriel, der Milliardär Erich Sixt, der ehemalige EU-Kommissar Günther Oettinger und die Präsidentin des CDU-Wirtschaftsrates Astrid Hamker teilnahmen. Die Gefahr der globalen Pandemie, so waren sich Streeck und Weimer einig, solle man „nicht überdramatisieren“.
Dies ist auch die Linie der Linkspartei. „Das Virus und die Krankheit sind gefährlich, aber unser Gesundheitssystem ist mittlerweile in der Lage, mit Covid-19 umzugehen“, erklärte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow gestern in einem Interview mit dem Neuen Deutschland. „Ich bitte darum, dass wir weniger Panik machen.“
In Thüringen, das von Linkspartei, SPD und Grünen regiert wird, gab es zuletzt einen Covid-19-Ausbruch in einem Behindertenwohnheim, in dessen Verlauf sich 23 Menschen – 15 Bewohner und acht Mitarbeiter – infizierten. Laut einem Bericht des MDR befinden sich die Betroffenen derzeit in Quarantäne. Nachdem die Kassenärztliche Vereinigung mehreren Heimbewohnern, die Symptome zeigten, einen Test explizit verweigert hatte, steht unter anderem der Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung im Raum.
Ramelow bezeichnete den Landkreis als „Hotspot“, stellte jedoch umgehend klar, dass selbst ein lokaler Shutdown in einem Risikogebiet für seine Regierung nicht infrage kommt. Gegenüber dem Neuen Deutschland erklärte er, man verfolge derzeit die Kontakte der Erkrankten, „damit wir nicht den ganzen Landkreis sperren müssen“.
Mittlerweile gelten laut Robert-Koch-Institut die Städte und Landkreise Bremen, Esslingen, Offenbach und Frankfurt am Main, Hagen, Hamm, Remscheid, Vechta sowie ganz Berlin als Risikogebiete. Am Mittwochnachmittag vereinbarte eine Mehrheit der Bundesländer für kommerzielle Unterkünfte ein Beherbergungsverbot für Urlauber aus inländischen Risikogebieten. Ramelow lehnte die Maßnahme mit den Worten ab, man könne sich „vor dem Virus nicht einsperren“.
Zwar gebe es in seinem Bundesland „ausreichend Kapazitäten, dass sich alle Thüringer vor einer Reise testen lassen können“ – doch kostenfreie Corona-Tests werde es für Arbeiter trotzdem nicht geben. Er wolle „nur darauf hinweisen, die Leute müssen das selbst bezahlen. Und das heißt: Wer weniger Geld hat, kann sich das vielleicht für seine Familie nicht leisten. […] Eine Rentnerin, die ihren Enkel besuchen will, kann sich das womöglich nicht erlauben.“
Ramelows Äußerungen bestätigen die Warnungen der Sozialistischen Gleichheitspartei, dass die mörderische Politik der systematischen Durchseuchung der Bevölkerung von allen Bundestagsparteien gleichermaßen verfolgt wird.
Arbeiter und Jugendliche müssen daraus die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen. Sie müssen sich in unabhängigen Aktionskomitees organisieren und einen Generalstreik vorbereiten, um das Leben von Hunderttausenden zu retten. In diesem Kampf sind sie nicht nur mit den Regierungen auf Bundes- und Landesebene und den mit ihnen verbündeten Gewerkschaften konfrontiert, sondern mit dem gesamten kapitalistischen System.