Seit im September die Schulen in sämtlichen Bundesländern wieder zum Regelbetrieb zurückgekehrt sind, steigen die Covid-19-Fallzahlen rasant an. Wie in anderen europäischen Ländern, erreichen die Infektionszahlen auch in Deutschland dramatische Höchstwerte. Schüler, Lehrer und Pädagogen werden dabei einer tödlichen Gefahr ausgesetzt.
Am Freitag erreichte die Anzahl der Neuinfektionen mit über 2500 den höchsten Stand seit April. Obwohl das Schuljahr teilweise erst vor wenigen Wochen begonnen hat, befinden sich einem Bericht der Bild zufolge aktuell rund 50.000 Schüler in Quarantäne. „Diese Zahl zeigt, dass wir nach wie vor mitten in der Pandemie sind und dies bereits wieder voll auf den Schulbetrieb durchschlägt“, so Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) gegenüber dem Blatt. Geflissentlich erwähnt sie dabei nicht, dass sie selbst eine der treibenden Kräfte der unsicheren Schulöffnungen war.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, warnte jüngst vor einem weiteren Anstieg der Infektionszahlen an den Schulen. „Die derzeitige hohe Zahl von 50.000 Schülerinnen und Schülern wird sich nach Auffassung des Deutschen Lehrerverbands in den nächsten drei Monaten noch mehr als verdoppeln, wahrscheinlich sogar vervielfachen“, so Meidinger. Dies habe zur Folge, dass Infektionsausbrüche kaum noch kontrollierbar seien.
Angesichts dieser Entwicklung warnen immer mehr Mediziner davor, dass die Anzahl der Todesfälle in Zusammenhang mit einer Coronainfektion ebenfalls deutlich zunehmen wird. „Die Totenzahlen werden in den kommenden Wochen weiter steigen“, sagte der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Uwe Janssens, gegenüber den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Seit Tagen liegen die gemeldeten Todesfälle in Deutschland im zweistelligen Bereich. Die Opfer haben sich im Schnitt etwa fünf Wochen zuvor angesteckt. Mit dieser zeitlichen Verzögerung seien nun die steigenden Todesfälle zu erwarten.
Doch auch angesichts dieser Entwicklung rückt die Bundesregierung nicht von ihrem Kurs ab und stellt die Öffnung von Schulen und Betrieben als alternativlos dar. Am Deutlichsten zeigt sich die rücksichtslose Politik der Bundesregierung an ihrem Umgang mit den Risikogruppen. Während zu Beginn der Pandemie die Risikogruppen aufgrund des öffentlichen Drucks teilweise durch bezahlte Freistellungen, Home-Office-Regelungen oder ähnliches einigermaßen geschützt worden sind, werden sie mit den Schul- und Kita-Öffnungen sowie der Rückkehr in die Betriebe einem enormen Risiko ausgesetzt.
Jessica, 39, eine Lehrerin aus Berlin macht berufsbegleitend ein Studium zum Quereinstieg an einer Grundschule. Sie ist Mitte März ins Home-Office gegangen und konnte im Juli auch ihre erste Prüfung schreiben. Aber da sie nun ein Attest für eine Befreiung vom Präsenzunterricht vorweisen kann, wird ihr Studium eingestellt, da es nicht mehr „berufsbegleitend“ sei.
Die Konzepte, die an Schulen, Universitäten und Kitas während des „Lockdowns“ von den Lehrern und Erziehern mühsam ausgearbeitet worden sind, werden allesamt über den Haufen geworfen, um einen sogenannten Regelbetrieb zu ermöglichen. Wie Jessica ergeht es vielen Risikopatienten bundesweit: Sie müssen zwischen Lebensunterhalt und Gesundheit entscheiden. Entweder bleiben sie zu Hause und schützen so sich und ihre Familie, verelenden aber, oder setzen sich einem enormen Risiko aus, um zu überleben. „Das ist Erpressung!“ schließt Jessica ab.
Das ist keine Ausnahme. Bundesweit haben tausende Lehrkräfte, die zur Risikogruppe gehören, Anträge auf Aussetzung der Präsenzpflicht gestellt – nur ein Bruchteil davon ist genehmigt werden. Der NDR berichtet, dass alleine in Schleswig-Holstein 1600 Lehrer nach eigener Angabe zur Risikogruppe gehören und daher nicht in der Präsenz unterrichten können. Von diesen Anträgen wurden nur 30 genehmigt.
In der Berliner Zeitung berichtet ein Lehrer aus Berlin über seinen Kampf, Gesundheit und Leben angesichts der Pandemie zu schützen. Nachdem er ein eindeutiges Attest seines Hausarztes vorlegen konnte, das ihm nach mehreren Herzoperationen und Kammerflimmern den Kontakt im Präsenzunterricht strengstens untersagte, musste er zu einem von der Senatsverwaltung beauftragten Zentrum für Arbeitsmedizin.
„Es war für mich von vornherein ganz klar, dass dieser Arzt mir meine Krankheit nicht bestätigen will – warum, darüber kann ich nur spekulieren“, berichtet der Berufsschullehrer. Der Arzt setzte den Lehrer massiv unter Druck und wollte zunächst die vorliegende Krankheit nicht bestätigen, schüchterte den Lehrer sogar ein und drohte den Termin abzubrechen. Erst als der Lehrer sich derart aufregte, dass der Arzt bei ihm einen erhöhten Blutdruck feststellen und auch Herzgeräusche vernehmen konnte, sei ihm das Attest schließlich ausgestellt worden.
Es liegt der Verdacht nahe, dass Lehrer mit Vorerkrankungen unter Druck gesetzt werden, sich nicht vom Präsenzunterricht befreien zu lassen, Der Prozentsatz derer, die ihre Lehrtätigkeit nicht in Präsenz ausüben, ist in Berlin mit 5,6 Prozent bei den berufsbildenden und 3,1 Prozent bei den allgemeinbildenden Schulen extrem niedrig. Lehrerverbände und Gewerkschaften waren zuvor von etwa 15 Prozent ausgegangen.
Auch das Aktionskomitee, das von Schülern und Lehrern in Dortmund gegründet wurde, deckte solche Fälle auf. Dort muss eine Lehrerin mit einer erheblichen Immunschwäche am Präsenzunterricht teilnehmen. Das ist ein Trend, der in ganz Deutschland zu erkennen ist. Der Definitionsbereich, der festlegt, ob eine Person Teil der Risikogruppe ist und somit ein Recht auf Befreiung vom Präsenzunterricht hat, ist erheblich verkleinert worden. So müssen Personen, die über 60 sind, an Bluthochdruck leiden oder andere leicht- bis mittelschwere Krankheiten haben, meist in die Schulen und Kitas zurück.
Es ist reiner Hohn, wenn Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erklärt, um Gefahren für Risikogruppen zu minimieren, solle es künftig spezielle Maßnahmen geben. „Wichtig ist, dass wir die besonders betroffenen Risikogruppen weiter besonders schützen und die Konzepte dafür im Alltag wieder schärfen“, sagte der CDU-Politiker. Gleichzeitig sprach er sich gegen eine weitergehende Maskenpflicht aus.
Unter diesen Bedingungen kehren Schüler und Lehrer an die Schulen zurück. Die Konsequenzen sind offensichtlich verheerend. Es gibt keine Möglichkeit, unter gegebenen Bedingungen einen sicheren Schulalltag zu gestalten.
Es beginnt schon mit dem Schulweg. Die meisten Schüler und Lehrer kommen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schule. Die sind bis zum Bersten gefüllt. Oftmals sind U-Bahn-Waggons, die für 30 bis 40 Personen gedacht sind, mit weit über 100 Menschen gefüllt. Auf dem Weg zum Unterricht oder in den Pausen treffen sich Schüler verschiedenster Klassen. Und in den Klassenzimmern kann kein Abstand gewährleistet werden, wenn 25 bis 30 Personen in einem 30 bis 40 Quadratmeter großen Zimmer sitzen. In den meisten Bundesländern wurde dazu noch die Maskenpflicht abgeschafft. Einer Infektion mit dem Virus steht somit nichts mehr im Weg.
Risikogruppen werden somit einer tödlichen Gefahr ausgesetzt, und die Landesregierungen denken nicht einmal daran, etwas dagegen zu unternehmen. Yvonne Gebauer, FDP-Bildungsministerin von Nordrhein-Westphalen, erklärte, dass besondere Lüftungsanlagen, die von führenden Virologen empfohlen werden, da sie Aerosole filtern, zu teuer in der Anschaffung und daher keine Option seien. Eine Lüftungsanlage kostet circa 3000 Euro.
Dieses Statement macht deutlich, wie viel Wert die herrschende Klasse auf die Rettung von Menschenleben legt. Während mit den so genannten „Corona-Rettungspaketen“ hunderte von Milliarden Euro an die Banken und Großkonzerne überwiesen worden sind, seien 100 Euro pro Schüler zu viel.