Die Zahl der Menschen ohne Krankenversicherung hat sich in Deutschland in den letzten fünf Jahren nahezu verdoppelt. Wie aus Daten des Statistischen Bundesamtes hervorgeht, waren im letzten Jahr 143.000 Menschen ohne Krankenversicherung, 2015 waren es noch etwa 79.000 gewesen. Da die Regierung durch verantwortungslose Lockerungen, wie die Wiederaufnahme des Regelbetriebs in den Schulen, die Gesundheit von Millionen Menschen aufs Spiel setzt, hat dies verheerende Folgen.
Betroffen sind vor allem Menschen, die eine gute und kostenfreie Gesundheitsversorgung am nötigsten hätten. 20.000 Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre gehören dazu. Darüber hinaus waren im vergangenen Jahr rund 15.000 Selbständige und 27.000 Minijobber nicht krankenversichert. Diese arbeiten meist in prekären Arbeitsverhältnissen oder rund um die Uhr, um halbwegs über die Runden zu kommen. Ausreichende Mittel für eine Krankenversicherung sind hier oft nicht vorhanden.
Ein großer Teil, nämlich 66.000, werden in der Statistik als „Ausländer“ geführt. In der Regel sind dies Arbeiter aus anderen EU-Staaten, häufig Sinti und Roma. Ohne ein Arbeitsverhältnis haben sie in Deutschland keinen Anspruch auf Leistungen aus der Sozialversicherung.
Die Große Koalition aus Union und SPD hat 2016 das so genannte EU-Bürger-Ausschlussgesetz verabschiedet. Danach erhalten Ausländer, die allein zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland sind, für fünf Jahre keine Grundsicherungsleistungen und damit auch keine Krankenversicherung. Dies zwingt die Menschen nicht nur in die Schwarzarbeit oder zum Betteln, sondern im Falle von Krankheit haben sie kaum eine Möglichkeit, sich adäquat behandeln zu lassen. 13.000 betroffenen Kinder unter 15 Jahren oder ihre Eltern weisen einen Migrationshintergrund auf.
Dabei ist die Dunkelziffer von Menschen ohne Versicherungsschutz mit Sicherheit noch weit höher. Schätzungen der Organisation Ärzte der Welt gehen von etwa einer halben Million aus, da beispielsweise Menschen ohne Aufenthaltstitel und Wohnungslose in der Statistik nicht aufgeführt werden. Außerdem gibt es eine große Anzahl von Personen, deren Versicherungsschutz unzureichend ist oder ruht.
Gerade unter Bedingungen der Corona-Pandemie ist der Zugang zu medizinischer Versorgung lebensnotwendig. Ein großer Teil der bundesweit 50.000 Obdachlosen sind über 60 Jahre alt, haben Vorerkrankungen und gehören damit zur Risikogruppe, bei der ein schwerer Krankheitsverlauf von Covid-19 wahrscheinlich ist. Die Unterkünfte von obdachlosen Menschen und Ausländern ohne Arbeit, wie Notübernachtungen u.ä., sind ideal für die Verbreitung des Virus.
Ärzte der Welt hat bestätigt, dass zwischen März und Juli dieses Jahres die Patientenzahlen drastisch angestiegen sind. Die Organisation behandelt Menschen ohne oder ohne ausreichenden Krankenversicherungsschutz kostenfrei in zahlreichen großen deutschen Städten. So stieg die Anzahl der Patienten allein in München zwischen März und Juli 2020 um 20 Prozent an.
„Die steigende Zahl der Menschen ohne Krankenversicherungsschutz offenbart, dass auch in Deutschland vielen Menschen ihr Menschenrecht auf Gesundheit verwehrt wird. Die Bundesregierung muss sicherstellen, dass alle Menschen im Krankheitsfall abgesichert sind und medizinisch versorgt werden – erst recht in Zeiten einer Epidemie“, sagt François de Keersmaeker, der Direktor von Ärzte der Welt.
Diese berechtigte Forderung stößt bei der Bundesregierung und bei allen im Bundestag vertretenen Parteien auf taube Ohren.
Die SPD-Fraktionsvorsitzende Bärbel Bas zeigte sich zwar „beunruhigt” über die Situation und die Linkspartei-Sozialpolitikerin Sabine Zimmermann forderte die Bundesregierung auf, „dringend“ dafür zu sorgen, „dass für jeden Menschen das Recht auf medizinische Versorgung gewährleistet wird“. Doch das ist reine Heuchelei.
Die SPD hat als Teil der Bundesregierung selbst die Gesetze verabschiedet, die Ausländer in Deutschland von der Krankenversicherung ausschließen. Die Linkspartei hebelt das „Recht auf medizinische Versorgung“ überall dort aus, wo sie in der Regierung ist. In Berlin und anderen Bundesländern setzt sie den Rotstift in der Gesundheitspolitik ebenso gnadenlos an, wie alle anderen Parteien.
Ein Sprecher des Gesundheitsministeriums erklärte lapidar, es gebe keine Hinweise auf die Ursachen des Anstiegs der Zahl von Nichtversicherten. Das Ministerium behalte die Entwicklung aufmerksam im Blick, fügte er an. CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn arbeitet seit langem daran, weitere „Wettbewerbselemente“ in das Krankenversicherungssystem einzubauen. Diese Politik hat in den letzten Jahrzehnten zu ständig sinkenden Regelleistungen der Krankenkassen bei gleichzeitigem Anstieg der Eigenleistungen der Versicherten geführt.
Zwar unterliegen seit 2009 alle Personen mit Wohnsitz in Deutschland der allgemeinen Versicherungspflicht, d.h. gesetzliche und auch private Versicherungen müssen allen Personen, die in Deutschland leben, einen Versicherungsschutz bieten. Doch dieser Anspruch besteht für viele nur auf dem Papier.
„Menschen können aus sehr unterschiedlichen Gründen keine Krankenversicherung haben“, zitierte die taz Valentina Manasieva von Ärzte der Welt. Unter den Nichtversicherten befinden sich laut taz untergetauchte Geflüchtete, arbeitslose EU-BürgerInnen ohne Sozialleistungsanspruch und „Overstayer“ aus Drittstaaten, deren Reisevisa ausgelaufen sind.
Aber auch viele, die die Beiträge für ihre Versicherung schlichtweg nicht mehr bezahlen können, sind darunter. Meist sind dies Selbständige. Durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf kleine Selbständige, denen Aufträge weggebrochen sind, rechnet man mit einem starken Anstieg säumiger Beiträge für die privaten Krankenkassen.
Dies betrifft auch ältere Menschen, die aufgrund geringer Einkünfte die Beiträge nicht mehr bezahlen können. „Wir sehen immer mehr ältere Menschen, die die Beiträge für die private Kasse nicht mehr zahlen konnten und daher vor Jahren herausgeschmissen wurden aus der Krankenversicherung“, erklärte Nele Kleinhanding vom Verein Armut und Gesundheit in Deutschland gegenüber der taz.
Die Beitragsschulden, die sich in so einem Fall anhäufen, gehen nicht selten in die Zehntausende. „Die Beitragsschulden sind ein Riesenproblem“, sagte Kleinhanding, „da geraten die Leute in eine Schuldenfalle, aus der sie nicht mehr herauskommen.“
Auch der Wechsel in den sogenannten Notlagentarif, den die privaten Krankenversicherer anbieten müssen, löst diese Probleme nicht. Zum einen müssen die Versicherten noch immer 150 Euro pro Monat bezahlen, und darin ist lediglich eine Abdeckung der Versorgung in absoluten Notfällen enthalten, notwendige Voruntersuchen aber zum Beispiel nicht.
Tatsächlich verschlimmern sich dadurch Krankheiten massiv, die unter normalen Bedingungen leicht zu behandeln wären. Deutschlandfunk Kultur berichtete von einem Diabetiker aus Bulgarien, der keinen Zugang zu Insulin hatte und ins Krankenhaus eingeliefert wurde: „Der Zeh musste amputiert werden, und der Patient wurde entlassen, ohne dass er Zugang zu Insulin bekommen hat. Einige Wochen später wurde er wieder ins Krankenhaus eingeliefert, weil er ins Koma gefallen war. Was natürlich leicht hätte verhindert werden können, wenn er das Insulin bekommen hätte.“