Zur ARD-Reportage „Markt macht Medizin“

Corona-Pandemie und Privatisierung im Gesundheitswesen

Kurz vor dem Schulbeginn im Herbst zeichnet sich bereits eine zweite Corona-Welle ab. In den letzten sieben Tagen verzeichnete das Robert-Koch-Institut fast 4000 neue Covid-19-Fälle, ein Drittel mehr als in der Woche davor. Insgesamt sind in Deutschland bisher laut John-Hopkins-Universität 9128 Personen an SARS-CoV-2 gestorben.

Fast täglich werden neue Covid-19-Hotspots an den verschiedensten Stellen entdeckt. Das ist eine Folge der aggressiven Back-to-work-Politik der Regierung, die mit einem Verzicht auf praktisch alle Einschränkungen auch im Gastronomie- und Touristikbereich einhergeht. So wird das Virus aktuell auch bei vielen Urlaubsrückkehrern festegestellt.

Bei einer Trauerfeier im ostwürttembergischen Schwäbisch Gmünd haben sich mindestens 47 Teilnehmer angesteckt, und auch bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück sind nur eine Woche nach Wiederaufnahme des Betriebs erneut 30 Schlachtereiarbeiter Corona-positiv getestet worden.

Am Wochenende wurde in Niederbayern ein Massenausbruch mit 174 infizierten Erntehelfern entdeckt. Dort wurden auf dem Alois Wagner-Gemüsehof in Mamming rund 500 Arbeiter in Quarantäne geschickt, und die Behörden lassen das Gelände durch Bauzäune und Security-Personal abriegeln. Ein erkrankter Erntehelfer musste sofort ins Krankenhaus gebracht werden. Dies geschah fast auf den Tag genau ein halbes Jahr, nachdem am 27. Januar in Bayern der erste Coronafall registriert worden war.

In diesem halben Jahr hat die Corona-Pandemie alle tiefer liegenden Misstände der kapitalistischen Gesellschaft ans Tageslicht gebracht. Das gilt in besonderem Maße für den Pflegebereich, für die Krankenhäuser und Kliniken und ihr Personal. Die Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger bringen in der Covid-19-Pandemie die größten Opfer.

Besonders die Auswirkungen der Krankenhausprivatisierung der letzten Jahre sind in den Fokus gerückt. Darüber berichtete am 20. Juli eine ARD-Reportage und Dokumentation mit dem Titel: „Markt macht Medizin“. Darin lassen die Filmemacher Markus Pohl, Ursel Sieber und Lisa Wandt zahlreiche Ärzte, Pflegekräfte und Angehörige von Patienten zu Wort kommen. Zusammen mit reichhaltigem statistischem Material tritt so die Perversion eines Systems zutage, bei dem nicht die Gesundheit der Menschen, sondern die Kapitalinteressen der Aktionäre im Zentrum stehen.

Die Reportage beginnt mit der Schließung einer Kinderstation, die zum Asklepios-Konzern gehört. Der Konzern, einer der größten privaten Klinikbetreiber Deutschlands, hat zum Ende letzten Jahres seine Kinderabteilung in Parchim, Mecklenburg-Vorpommern, geschlossen. Über die Gründe der Schließung hat er, wie der Film nachweist, die Öffentlichkeit mehrfach belogen. Die Gründe waren weder Personalmangel, noch fehlende Neubewerbungen, sondern die schlichte Profitgier – mit verheerenden Folgen. Die Reportage berichtet von einer jungen Familie, deren kleine Tochter in der Folge beinahe an einer Hirnhautentzündung gestorben wäre.

Schon vor der Schließung hatte Asklepios seine kostenintensive Kinderstation in Parchim vernachlässigt. Das macht ein weiterer, ebenfalls dokumentierter Vorfall drastisch deutlich. Im März 2019 verstarb ein zweijähriges, an Lungenentzündung erkranktes Mädchen, das dort zu spät geröntgt und falsch behandelt worden war.

Als sich Proteste gegen die Schließung erhoben, zeigte sich Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) öffentlich empört, ohne dass dies an der Schließung der Kinderstation irgendetwas geändert hätte. Die SPD-CDU-Regierung von Mecklenburg-Vorpommern versprach, sie werde die Versorgung durch die Gründung einer neuen Kindertagesklinik und eine Hubschrauber-Verbindung zur nächsten Kinderklinik in Schwerin kompensieren. Ein absurdes und fahrlässiges Konzept, das bisher nicht ansatzweise verwirklicht wurde.

Der Fall zeigt exemplarisch auf, wohin es führt, wenn private Konzern- und Gewinninteressen über Aspekte der Gesundheitsversorgung dominieren. Kindermedizin ist Zeit- und Personal-intensiv und deshalb für private Kliniken uninteressant. Je größer der Anteil der Privatkliniken an der Gesundheitsversorgung, desto geringer deshalb die Zahl der Kinderbetten. Sie fiel von fast 32.000 (1991) unter 18.600 (2017). In derselben Zeit stieg die Zahl der kleinen Patienten von gut 910.000 auf fast eine Million.

Der entscheidende Grund für den Kahlschlag ist die Privatisierungsorgie der letzten 30 Jahre. Während in dieser Zeit rund 500 Krankenhäuser geschlossen wurden, wuchs die Zahl der Privatkliniken zu Lasten der öffentlichen Einrichtungen kontinuierlich und erreichte 2018 einen Anteil von 37,5 Prozent. In Mecklenburg-Vorpommern stellen die Privatkliniken seit drei Jahren sogar mehr als die Hälfte der gesamten Krankenhausversorgung.

Die Entwicklung hat auch Folgen für die Gesamtzahl aller Krankenhausbetten. Im Jahr 2018 wurden deutschlandweit mit knapp einer halben Million rund ein Viertel weniger Betten gezählt als noch 1991. Der Abbau fiel dabei auf die öffentlichen und freigemeinnützigen Träger, während die Krankenhäuser in privater Trägerschaft ihre Kapazitäten stetig ausbauen konnten.

Da im selben Zeitraum die Anzahl der Patienten ebenfalls um ein Viertel anstieg, führte das unweigerlich zu einer schlechteren Versorgung. Die durchschnittliche Verweildauer in Krankenhäusern hat sich in den letzten 30 Jahren auf gerade mal sieben Tage fast halbiert. Mit möglichst wenig Personal in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Patienten durchzuschleusen – das ist das Motto einer privatisierten Kliniksituation.

Dabei ist Parchim natürlich kein Einzelfall, sondern ein Beispiel von Hunderten. Bedroht sind alle nicht-lukrativen Abteilungen oder Krankenhäuser. Sie werden sukzessive eingespart und geschlossen. Daran hat absurderweise auch die Corona-Pandemie nichts geändert. Im Gegenteil, wie die Filmemacher zeigen.

Sie werfen einen Blick auf eine weitere Privatklinik im bayrischen Rummelsburg, die dem Sana-Konzern gehört. Dort wurde im März die wenig lukrative Spezialstation für schwerbehinderte Patienten komplett geschlossen, angeblich um die vorgeschriebenen Betten für Corona-Patienten freizuhalten. Insider haben dem Reporterteam berichtet, dass dies kein Zufall gewesen sei. Die Spezialabteilung bringe viel zu wenig ein. Dagegen bezahlt die Bundesregierung aus dem Corona-Fonds den Krankenhäusern für jedes freigehaltene Bett 560 Euro pro Tag.

Im Interview mit den Filmemachern erklärt Dr. Alexander Risse (Klinikum Dortmund), zu welchen Zuständen eine Entwicklung führe, in der nur noch die Fallpauschalen zählten. Er vergleicht dies mit einem Bordell: „Die Kunden anlocken, und wenn sie da sind, möglichst schnell fertig werden“. Er zeigt dies anhand einer Diabetes-Patientin, deren schwer entzündeter Fuß eine zeit- und kostenintensive Behandlung erfordert. Finanziell sei dies de facto „ruinös“, und anderswo hätte man einfach den ganzen Fuß amputiert. Schlimmstenfalls wäre die Patientin gestorben.

Wie der Film aufzeigt, sind auch nicht-privatisierte Krankenhäuser und Einrichtungen (wie das Klinikum Dortmund) vor dem Profitdruck nicht gefeit. Auch wenn sie nicht unmittelbar unter dem Druck privater Aktionäre stehen, können sie diesem Druck auf die Dauer dennoch nicht entkommen. Ein Grund sind die mangelnden Investitionen, bzw. fehlende Zuschüsse durch die Bundesländer. Der Film zeigt anhand einer Statistik, dass die öffentliche Finanzierung seit fünf Jahren bei knapp über drei Milliarden Euro stagniert, während der Bedarf auf über 6 Milliarden kletterte und immer weiter steigt.

Ein weiterer Grund dafür, dass auch die nicht-privaten Einrichtungen dem Druck der Finanzmärkte nicht entkommen, sind die Diagnose-bezogenen Fallpauschalen. Sie zwingen auch kommunale und kirchliche Krankenhäuser, kostendeckend und profitabel zu arbeiten. Die Fallpauschalen bedeuten, dass die Krankenkassen die medizinische Behandlung eines Falls nach seiner Einordnung in eine bestimmte Kategorie bezahlen, und nicht nach den erforderlichen und tatsächlich erbrachten Leistungen.

Die Diagnose-bezogenen Fallpauschalen wurden vor einem Vierteljahrhundert eingeführt, als Horst Seehofer (CSU) Gesundheitsminister war. In der Ära der SPD-Grünen Schröder-Fischer-Regierung erhob die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) diese Pauschalen zum Gesetz, womit sie die Gesundheit vollends zur Ware degradierte. Das System setzt die Krankenhäuser einem starken Leistungswettbewerb aus, in dem die Privatkliniken die Nase vorn haben.

Neben Sana, Asklepios, Helios und anderen gehört auch die Rhön AG zu den großen privaten Krankenhausbetreibern Deutschlands. Im Juni hat sie auf einer Aktionsversammlung beschlossen, mit Asklepios zu fusionieren. Die Asklepios Gruppe, die bereits 2013 bei Rhön mit einstieg, hält jetzt gemeinsam mit Rhön-Gründer Eugen Münch fast 93 Prozent der Anteile an der Rhön-Klinikum AG. Zu Rhön AG (16.700 Mitarbeiter) gehören unter anderem das Klinikum Frankfurt/Oder, der Campus Bad Neustadt und die Universitätskliniken in Gießen und Marburg.

Die Fusion von Asklepios und Rhön AG wird zwangsläufig zu weiteren Synergieeffekten und Einsparungen im Personalbereich führen. Im Film kommt ein Chefarzt der Ontologie im Marburger Klinikum, Prof. Andreas Neubauer, über die Auswirkungen des Personalabbaus der letzten Jahre zu Wort. Er erzählt, dass er seit Jahren die Politiker beknie, Krankenhäuser zurück in die öffentliche Hand zu geben, und jedes Mal zu hören bekomme, das sei „finanziell nicht zu stemmen“.

Aber jetzt, in der Coronakrise, stellt Professor Neubauer erstaunt fest, was finanziell alles möglich ist: eine neun Milliarden schwere staatliche Beteiligung am Lufthansa Konzern, weil diese angeblich eine „öffentliche Aufgabe“ sei. Das Krankenhaus dagegen wird dem „freien Markt“ überlassen.

Die ARD-Reportage hat ihre Grenzen. Sie dokumentiert zwar anschaulich die Profitgier auf Kosten der Patienten und zeigt auf, dass der Asklepios-Gründer und Eigentümer, der Milliardär und Besitzer von Luxushotels Bernard Grosse Broermann, allein im Jahr 2018 einen Gewinn von knapp 400 Millionen Euro erzielte. Sie zeigt auch, wie Rhön-Gründer und Aufsichtsratschef Münch den Zusammenschluss mit Asklepios mit Jubel begrüßt. Dagegen verschweigt sie einen anderen, ebenfalls wichtigen Protagonisten.

Das ist die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, ohne deren loyale Kooperation die Privatisierungsorgie der letzten Jahre niemals so reibungslos über die Bühne gegangen wäre. Insbesondere ist dabei Georg Schulze-Ziehaus zu nennen: Der Verdi-Fachbereichsleiter Gesundheit und Soziales in Hessen ist gleichzeitig seit vielen Jahren stellvertretender Vorsitzener des Aufsichtsrats der Rhön-Klinikum AG.

Für Schulze-Ziehhaus war die Umstellung der Krankenhäuser auf Gewinnorientierung von Anfang an alternativlos. Beispielsweise rechtfertigte er die Privatisierung in Offenbach, bei der das Klinikum vor zehn Jahren für einen symbolischen Euro an den Sana-Konzern verschenkt wurde, mit folgenden Worten: Es sei „festzuhalten, dass die Probleme im Offenbacher Klinikum nicht zu lösen sind, ohne die Strukturen im medizinischen Betrieb den erzielbaren Einnahmen anzupassen“.

„Die Strukturen den erzielbaren Einnahmen anpassen“ – das musste zwangsläufig auf Kosten von Mitarbeitern und Patienten gehen, wie die WSWS berichtete. Kurz nach der Privatisierung setzten in Offenbach massive Entlassungen und Ausgliederungen ein. Auch bei der Sana AG sitzt mit Sylvia Bühler ein prominentes Mitglied des Verdi-Bundesvorstands im Aufsichtsrat.

Die Missstände sind nicht aus heiterem Himmel gekommen. Sie wurden von den Gewerkschaften und Kommunalpolitiken wohlwollend begleitet und nach Kräften gefördert. Die Regierung förderte sie durch entsprechende Gesetze und machte beispielsweise den Weg frei für die Public-Private-Partnership (PPP, bzw. Partnerschaft zwischen Kommunen und privaten Trägern).

Die Coronakrise hat an dieser perfiden Gewinnorientierung im Gesundheitswesen nicht nur nichts geändert, sie hat sie noch zugespitzt und verschärft. Die Regierungen verweigern von Beginn der Pandemie bis heute ein vernünftiges und planvolles Vorgehen. Es mangelte und mangelt noch heute an Material und Ausrüstung. Hinzu kommt die chronische Personalknappheit. Die Mehrarbeit, Überstunden und Aufopferung von Hunderttausenden in der Gesundheitsbranche, die eigentlich mit Geld nicht aufzuwiegen ist, all das wurde in keiner Weise honoriert.

Stattdessen fordern Wirtschaftsvertreter und Politiker, gestützt auf eine Bertelsmann Studie vom letzten Jahr, auch mitten in der Pandemie eine „höhere Wirtschaftlichkeit“, sprich weitere Schließungen und Einsparungen. Wie die World Socialist Web Site seit Beginn der Pandemie schrieb, mach „die aktuelle Krise im Gesundheitswesen deutlich, dass die herrschende Klasse weder Willens noch in der Lage ist, die Bevölkerung hinreichend zu schützen und für eine flächendeckende, adäquate Behandlung zu sorgen“.

Die WSWS fordert: „Nicht Almosen, sondern umfangreiche finanzielle Mittel müssen unverzüglich in den Auf- und Ausbau von Kliniken und medizinischen Einrichtungen fließen. Sämtliche Kürzungen der letzten Jahrzehnte müssen rückgängig gemacht werden. Kliniken und Einrichtungen müssen in öffentliches Eigentum umgewandelt werden und nicht mehr der Profitgier von Aktionären, sondern dem Wohl der Gesellschaft dienen.“

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