Die Vorbereitungen für den Umbau des Gesundheitswesens laufen

Ministerin Ulla Schmidt (SPD) spielt auf Zeit

In den letzten gut zwei Wochen hat sich eine lautstarke Debatte über das Gesundheitswesen entwickelt. Der Grund dafür sind einige halbherzige Reformen, die zurzeit verabschiedet werden, um den vorzeitigen und vollständigen Bankrott des Gesundheitswesens zu verhindern. Nach der Bundestagswahl im nächsten Jahr soll dann das Gesundheitswesen vollständig umgebaut werden.

Das bisherige System funktioniert immer schlechter. In den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg konnte das solidarisch, d. h. zu je gleichen Teilen von Unternehmen und Beschäftigten finanzierte Gesundheitssystem in Zeiten relativ hoher Beschäftigung und jährlichen Lohnzuwächsen der Versicherten gut gedeihen. Es entwickelten sich in der teilweisen Selbstverwaltung große Apparate, vor allem in der Ärzteschaft, aber auch bei den Krankenkassen. Zur damaligen Zeit ein Arztschild an die Tür zu hängen war gleichbedeutend mit Wohlstand, während die Krankenkassen ihre Strukturen weiter ausweiten und auch die Patienten eine gute gesundheitliche Versorgung genießen konnten.

Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre änderte sich diese Situation. Mit immer stärkeren Angriffen gegen Arbeitsplätze und Löhne begann auch die finanzielle Basis der gesetzlichen Krankenversicherung zu schrumpfen. Dies wurde durch die Kürzung der Leistungen und die Erhöhung der Beiträge kompensiert. In der Ära Kohl erreichte dies unter dem damaligen Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) mit der Streichung eines Großteils der zahnärztlichen Behandlung aus dem Leistungskatalog einen ersten Höhepunkt.

Nachdem seit fünf Jahren für die Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen die Möglichkeit besteht, jährlich ihre Kasse zu wechseln, findet eine immer stärkere Abwanderung von den Orts- und Ersatzkassen hin zu den wesentlich billigeren Betriebskrankenkassen statt. Erstere ohnehin schon finanziell gebeutelten Kassen haben dadurch massive Verluste eingefahren. Bis Ende März machten die gesetzlichen Krankenkassen ein Defizit von 2,2 Milliarden DM. Im ersten Quartal 2000 hatte dies noch bei 1,7 Milliarden gelegen. Einige der Ortskrankenkassen, vor allem in den neuen Bundesländern, stehen bereits kurz vor der Pleite.

Die Kassen reagieren darauf mit Beitragserhöhungen. Zurzeit hat eine weitere Welle bei den gesetzlichen Krankenkassen eingesetzt. Als erstes erhöhten die Ortskrankenkassen in Baden-Württenberg ihre Beiträge um 0,7 Prozent und in Hessen um ein Prozent. Es wird erwartet, dass in den kommenden Wochen Ersatz- und Betriebskrankenkassen nachziehen.

Da Beitragserhöhungen bedeuten gleichzeitig eine Erhöhung der Lohnnebenkosten für die Unternehmen. Da sich die rot-grüne Bundesregierung einer Verringerung dieser Kosten verschrieben hat, beschloss sie am Mittwoch vergangener Woche unter Federführung ihrer Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) die umstrittene Reform über den Finanzausgleich unter den gesetzlichen Krankenkassen. Geplant ist dabei die Bildung eines von allen Kassen gedeckten Risikopools, mit dem die Behandlung "teurer Patienten", zumeist chronisch Erkrankter, finanziert werden soll.

Der beschlossene Ausbau des Risikostrukturausgleichs, der im vergangenen Jahr einen Umfang von 23 Mrd. DM hatte, kommt vor allem den Orts- und Ersatzkassen zugute, deren Mitgliederstruktur hohe Ausgaben und vergleichsweise geringe Einnahmen zur Folge hat.

Ebenfalls zur Unterstützung der teureren Orts- und Ersatzkrankenkassen erschwerte Schmidt den Versicherten einen Wechsel der Krankenkasse in diesem Jahr. So haben ca. 50 Millionen Versicherte erst wieder nächsten März die Möglichkeit, die Kasse zu wechseln.

Ein Referentenentwurf aus dem Gesundheitsministerium sah außerdem gleichzeitig die Einführung eines Mindestbeitragssatzes in Höhe von 12,5 Prozent ab dem nächsten Jahr vor, um einen Kassenwechsel hin zu günstigeren Versicherungen unattraktiver zu machen. Die Einführung des Mindestbeitragsatzes wäre selbstverständlich ebenfalls mit einer Erhöhung der Lohnnebenkosten verbunden gewesen.

Kritik an Ministerin Schmidt übten neben der CDU/CSU vor allem die Grünen. Deren gesundheitspolitische Sprecherin Katrin Göring-Eckhardt lehnte die Einführung des Mindestbeitrags als "wettbewerbshinderlich" ab.

Bereits Anfang des Jahres hatten die Grünen unter Andrea Fischer ein Positionspapier zur Gesundheitspolitik vorgelegt, das den Positionen von CDU/CSU sehr nahe kommt. Die Grünen fordern ähnlich wie die Union eine radikalere und raschere Umwälzung im Gesundheitswesen. Im Vordergrund stehen dabei die Interessen der Wirtschaft und der Besserverdienenden. Der grüne Finanzexperte Oswald Metzger kritisierte Schmidt in der Berliner Zeitung mit den Worten, in der Gesundheitspolitik könne man nicht "everybodys Darling" sein, sondern es müsse "ein Reformzahn zugelegt werden". Der Widerstand der Grünen war verantwortlich dafür, dass der Mindestbeitragssatz schließlich doch nicht in die Kabinettsvorlage eingebracht wurde.

Ulla Schmidts Aufgabe

Seit etwa einem halben Jahr ist Ulla Schmidt (SPD) Gesundheitsministerin. Sie löste Anfang des Jahres Andrea Fischer (Grüne) ab, die im Zuge der BSE-Krise von ihrem Amt zurückgetreten war. Schmidt gilt als pragmatische Politikerin, der jegliche politische Eigenständigkeit fremd ist. Die stellvertretende SPD-Franktionsvorsitzende war vor ihrer Einberufung ins Gesundheitsministerium die rechte Hand von Arbeitsminister Walter Riester (SPD) und war hauptsächlich damit beschäftigt, dessen unsoziales Rentenkonzept zu verteidigen. Dies tat sie mit solcher Loyalität, dass es ihr sogar Kritik aus den eigenen Reihen und den Spitznamen "Riesters Rentenschatten" einbrachte.

In den Medien sind inzwischen wiederholt Berichte erschienen, wonach die Regierung eine große Gesundheitsreform plant. Experten gehen aber davon aus, dass die entscheidenden Weichen erst zu Beginn der nächsten Legislaturperiode gestellt werden. Denn nachdem in diesem Jahr eine Rentenreform beschlossen wurde, die das Solidarprinzip in diesem Sozialversicherungszweig abschafft, hält es die Bundesregierung für unmöglich, der Bevölkerung auch die faktische Abschaffung der zweiten Säule des deutschen Sozialsystems in einer Legislaturperiode zu verkaufen. Schmidt hat daher vorrangig die Aufgabe, in der Gesundheitspolitik die Wogen zu glätten und es allen Interessensgruppen bis zu den nächsten Bundestagswahlen recht zu machen.

Direkt nach Amtsantritt schaffte sie den möglichen, aber nie zum Einsatz gekommenen Regress an Ärzte ab, die ihr Arzneimittelbudget überschreiten. Schmidts Vorgängerin hatte mit der Einführung der Obergrenze bei Arzneimittelausgaben und dem Regress bei Überschreitung massive Proteste der Ärzte hervorgerufen. Kassenvertreter machen dieses Zugeständnis Schmidts an die Ärzte jetzt für die gestiegene Menge an verschriebenen Medikamenten und die damit gestiegenen Kosten der Kassen verantwortlich.

Gleich nach Amtsantritt hatte Schmidt auch einen "Runden Tisch" ins Leben gerufen. An diesem sind neben der Gesundheitsministerin Vertreter von Krankenkassen, Ärzten, Gewerkschaften und der Pharmaindustrie zugegen, die - wenn möglich - zu einer Einigung über den weiteren Kurs kommen sollen.

Alleine die Zusammensetzung dieser Gruppe - es sind keinerlei Vertreter von Verbrauchern bzw. Patienten dabei - sagt einiges über die Absichten Schmidts. Ihr Ziel ist es, die Umgestaltung der Gesundheitsversorgung weitgehend diesen Interessensgruppen zu überlassen. Dies deutete sich schon darin an, dass künftig Ärzte und Kassen die stetig steigenden Ausgaben für Medikamente selbst in den Griff bekommen sollen. Das dies gelingt, ist derzeit allerdings recht unwahrscheinlich, da sich Ärzte-, Kassen- und Pharmavertreter gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben und fordern, dass auf Kosten der jeweils anderen Gruppen gespart wird.

Über die genauen Pläne der Bundesregierung zur Gesundheitsreform in der nächsten Legislaturperiode lässt sich derzeit nur spekulieren. In welche Richtung diese Reform gehen wird, machen aber die Verlautbarungen von Schmidt und anderen SPD-Politikern deutlich.

Schmidt sprach auf dem 104. Deutschen Ärztetag gegenüber Ärztevertretern über ihre Vorhaben. Die Beiträge zur Krankenversicherung sollen danach nicht mehr nur an die Arbeitslöhne gekoppelt sein, sondern sich auf sämtliche Einnahmen, wie Miete, Zinsen usw. erstrecken. Dieser Vorschlag ist nicht neu, sondern wird seit langem von Politkern und Experten aufgebracht. Die Absicht ist dabei weniger, die Finanzierungsbasis der Kassen auszudehnen, da Leute, die über nennenswerte Miet- und Zinseinkünfte verfügen, privat versichert und deshalb kaum Mitglieder gesetzlicher Krankenkassen sind. Vielmehr wäre mit einer Trennung der Beiträge vom Arbeitslohn der Weg bereitet, um die Arbeitgeber nach und nach ganz aus der Verantwortung für die Finanzierung zu entlassen.

Schmidt kündigte gegenüber Ärztevertretern auch an, die Krankenhäuser durch die Einführung von Fallpauschalen zu "revolutionieren". Die "Revolution" besteht darin, dass durch die Fallpauschalen Kliniken einem starken Wettbewerbsdruck ausgesetzt werden und Patienten nach minimalsten Aufenthaltszeiten entlassen müssen, auch wenn dies aus medizinischer Sicht nicht angebracht ist.

Der Berater der Bundesregierung, Bert Rürup, hat bereits weitere Punkte vorgestellt, die zur Gesundheitsreform der Regierung gehören werden. So sollen die Kassen die Wahlfreiheit gegenüber den Leistungserbringern (Ärzte, Kliniken) haben. Rürup dazu: "Der Wettbewerb würde dazu führen, dass ein Teil der Leistungserbringer auf der Strecke bleiben", also beispielsweise Krankenhausschließungen anstehen. "Andererseits würden diejenigen, die Überdurchschnittliches leisten auch überdurchschnittlich verdienen."

Des weiteren kündigte Rürup eine Aufspaltung der Kassenleistungen in "Wahl- und Pflichtleistungen" an. Für den Großteil der Bevölkerung, der sich die zusätzlich zu zahlende Gesundheitsversorgung ihrer "Wahl" nicht leisten kann, beinhaltet dies eine noch nicht absehbare Einschränkung der Gesundheitsversorgung. Zusätzlich verkündete Rürup die Einführung einer Arzneimittel-Positivliste und die Ausdehnung der Fallpauschale auf den ambulanten Bereich an.

Die Einführung dieser Maßnahmen würde im Grunde ein völliges Aufgeben der bisherigen Form der Gesetzlichen Krankenversicherung bedeuten. Sie würde eine gute, an den medizinischen Wissensstand angepasste medizinische Versorgung zu einem Privileg für eine kleine Schicht von reichen machen. Genau daran wird derzeit in Kanzleramt und Gesundheitsministerium gearbeitet. Nur aus Rücksicht auf den Wahltermin 2002 werden diese Pläne noch unter der Decke gehalten.

Die immer schlechter werdende Situation der Gesetzlichen Krankenversicherung wird allerdings nicht mehr nur auf die Versicherten allein abgewälzt. Neben der desolaten Lage der Krankenkassen nimmt auch die Situation der Ärzte und des medizinischen Personals immer schlimmere Formen an. Überarbeitung, Stress und die stetig wachsende Angst um einen Arbeitsplatz gehören heute auch zum Alltag für Ärzte, insbesondere für Krankenhausärzte, von Kranken- und Altenpflegern bzw. -pflegerinnen ganz zu schweigen.

Die Antwort der SPD und der Grünen auf die Krise des Gesundheitswesens besteht ebenso wie die von Union und FDP - sieht man von vorübergehenden, wahltaktischen Überlegungen ab - ausschließlich in einer Privatisierung des Gesundheitssystems, die mit dem Verlust unzähliger Arbeitsplätze und einer gewaltigen Verschlechterung der Versorgung für den Großteil der Bevölkerung verbunden wäre.

Siehe auch:
Grüne forcieren Entwicklung zur Zwei-Klassen-Medizin
(17. November 2000)
SPD beschließt Ausstieg aus der gesetzlichen Rentenversicherung
( 7. Juli 2000)
Riesters Rentenreform - Massive Einschnitte in die Renten
( 10. Juni 2000)
Gesundheit wird zur Ware - Andrea Fischers "Gesundheitsreform"
( 23. Mai 2000)
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