Nach fast fünf Tagen erbitterter Verhandlungen haben die 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union am Dienstagmorgen verkündet, dass sie sich bei ihrem Gipfeltreffen auf ein Konjunkturprogramm geeinigt haben, durch das 750 Milliarden Euro an die Banken und Konzerne transferiert werden.
Das Konjunkturpaket und der neue Haushalt der EU für sieben Jahre in Höhe von einer Billion Euro wurden wurde fast durchgängig als „historisch“ und als Zeichen der Solidarität angesichts einer Pandemie dargestellt, die in Europa bereits fast 200.000 Menschenleben gekostet hat. Der französische Präsident Emmanuel Macron twitterte: „Ein gemeinsamer Kredit, mit dem solidarisch auf die Krise reagiert und in unsere Zukunft investiert wird.“ Der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez von der PSOE sprach von einem „wahrhaftigen Marshallplan“.
In Wirklichkeit glich das Gipfeltreffen am ehesten einem Treffen einer Gruppe von Kriminellen, die eine neue Methode ausarbeiten, um die Bevölkerung auszurauben.
Die Gelder des Rettungspakets werden nicht in die Gesundheitsversorgung, in Arbeitsplätze oder Sozialprogramme investiert, um die Pandemie zu bekämpfen oder um die Gefahr von Massenentlassungen und eine globale Wirtschaftskrise abzuwenden. Vielmehr soll eine neue Einnahmequelle für die EU-Staaten geschaffen werden, um Zuwendungen an die Konzerne zu verteilen, die Aktienmärkte in die Höhe zu treiben und die Vermögen der Superreichen zu vergrößern, während gleichzeitig auf dem ganzen Kontinent der Austeritätskurs durchgesetzt wird.
Als die Einigung bekanntgegeben wurde, stiegen weltweit die Aktienkurse. Der deutsche DAX stieg um 1,7 Prozent und damit für 2020 in den positiven Bereich. Der französische CAC-40 stieg um 1,2 Prozent. Das Magazin Fortune schrieb über die Festtagsstimmung in der Finanzelite: „Nachdem mehr als 100.000 Europäer an dem Virus gestorben sind und die Wirtschaft wiederaufgebaut werden muss, warteten die Investoren auf eine Demonstration der Geschlossenheit, um den Anstieg der Aktienkurse zu stützen.“
Das Abkommen ermächtigt die Europäische Kommission erstmals, sich im Auftrag der EU-Mitgliedsstaaten direkt Geld an den Finanzmärkten zu leihen. Von den insgesamt 750 Milliarden Euro werden 390 Milliarden an die einzelnen EU-Staaten als Finanzhilfe verteilt, die nicht zurückgezahlt werden muss. Die Zuteilung an die einzelnen Länder orientiert sich an den Auswirkungen der Pandemie auf deren Wirtschaft. Die restlichen 360 Milliarden werden als Darlehen ausgegeben, wobei die Rückzahlungsmodalitäten noch nicht geklärt sind.
Klar ist allerdings schon jetzt, dass die Arbeiterklasse durch Kürzungen bei lebenswichtigen Sozialprogrammen und in der sozialen Infrastruktur für dieses Konjunkturpaket bezahlen wird. Genau wie nach dem Crash von 2008 ist der Zugang zu Geldern an die Durchsetzung von „Strukturreformen“ gebunden. Bevor die Mitgliedsstaaten Finanzmittel erhalten, müssen sie der EU nationale Reformpläne vorlegen. Wenn ein Mitgliedsstaat der Ansicht ist, dass ein anderer Staat die Austeritätspolitik nicht schnell genug umsetzt, kann er eine „Notbremse“ für die Auszahlung der Gelder durchsetzen. Diese Bremse ist auf maximal drei Monate begrenzt. In dieser Zeit muss die Europäische Kommission entscheiden, ob die „Reformen“ weit genug gehen.
Um die Billionen, die an die Reichen verteilt werden, wieder hereinzuholen, sollen die „Strukturreformen“, die in Griechenland während der letzten zehn Jahre unter der Troika aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und EU umgesetzt wurden, auf ganz Europa ausgeweitet werden.
Das EU-Gipfeltreffen war beinahe das längste in der Geschichte. Eigentlich sollte es nur über das Wochenende stattfinden und zeitweise war unklar, ob es überhaupt eine Einigung geben würde. Berlin und Paris schlugen anfangs ein Abkommen vor, das jedoch von den reicheren nordeuropäischen Ländern abgelehnt wurde, vor allem von den Niederlanden, Dänemark, Schweden und Österreich. Diese lehnten anfangs jegliche Aufnahme von gemeinsamen Schulden ab, von denen vor allem die ärmeren südeuropäischen Staaten profitiert hätten, in erster Linie Italien und Spanien. Italien soll etwa 82 Milliarden Euro in Zuschüssen und 127 Milliarden Euro in Darlehen erhalten.
Eine Übereinkunft kam erst zustande, nachdem der Anteil an den 750 Milliarden Euro, der als Zuschuss verteilt wird, von 500 Milliarden auf 390 Milliarden Euro gesenkt wurde. Zudem wurde für alle vier reicheren Staaten die Summe gesenkt, die sie jährlich zum EU-Haushalt beizutragen haben. Zusammen mit Deutschland müssen sie in den nächsten sieben Jahren 50 Milliarden Euro weniger zahlen.
Der politisch kriminelle und arbeiterfeindliche Charakter des Abkommens zeigt sich in einem seiner Bestandteile, das von den Medien weitgehend übergangen wurde. Der Deal sieht eine Kürzung der zusätzlichen EU-weiten Fördergelder für Wissenschaft und Gesundheitsversorgung vor, die vor zwei Monaten Teil des ersten Vorschlags der Europäischen Kommission gewesen sind.
Der Haushalt für die nächsten sieben Jahre sieht 81 Milliarden Euro für Horizon Europe vor, dem wichtigsten europäischen Forschungsprogramm. Vor nur zwei Monaten lag diese Summe noch um 13,5 Milliarden höher. Ein Großteil dieser Gelder geht nicht in aktuelle wissenschaftliche Forschungen, sondern in Risikokapital-Investitionen in europäischen Technologiefirmen. Zudem wurden die Gelder für das europaweite Gesundheitsprogramm EU4Health von den im Mai vorgeschlagenen 9,4 Milliarden auf 1,67 Milliarden Euro gekürzt – inmitten der größten Pandemie seit einem Jahrhundert.
Marta Agostinho, die Koordinatorin von EU-Life, einem Bündnis aus 14 Biowissenschafts-Forschungsinstituten, erklärte am Wochenende: „Während Politiker und Bürger darauf warten, dass ihnen die Wissenschaft das Wundermittel gegen die Corona-Krise liefert, kürzen die führenden Politiker die Forschungsgelder. Wie verrückt ist das?“
Der Charakter dieser Entscheidung ist umso krimineller, da der Gipfel in einer Zeit stattfand, in der sich die Anzeichen für ein neues Aufleben des Virus in Europa mehren. In Barcelona wurden mehr als vier Millionen Einwohner aufgefordert, nicht ohne dringenden Grund das Haus zu verlassen. In Frankreich wurde ab Mittwoch in allen öffentlichen Gebäuden eine Maskenpflicht eingeführt, während Gesundheitsminister Olivier Véran am Wochenende bekannt gab, dass es über das ganze Land verteilt mehr als 80 aktive Infektionsherde gibt. Die Antwort der herrschenden Klassen Europas auf diese Situation besteht darin, sich Hunderte Milliarden Euro zu spendieren, die Kürzungspolitik zu beschleunigen und ihre militaristische Außenpolitik zu verschärfen.
Die wichtigsten Befürworter des Deals sowie eines gemeinsamen Kreditaufnahmesystems als Grundlage dafür waren Frankreich und Deutschland. Paris und Berlin sehen diese Schritte als entscheidende Faktoren für die Entwicklung einer aggressiven Militär- und Wirtschaftspolitik, die sie unabhängig von und in Opposition zu China und den USA verfolgen wollen.
Der französische Präsident Macron erklärte am Dienstag bei einer Pressekonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Wir haben bei dieser Gelegenheit gemeinsam und erfolgreich etwas Grundlegendes geändert, und zwar auf Basis einer Initiative, bei der wir uns gemeinsam Geld leihen und bei der es einen echten Mechanismus für die Übertragung von Haushaltsmitteln und für Solidarität gibt, der bisher noch nie existiert hat.“
Marcel Fratzscher, Ökonom und Professor an der Humboldt-Universität, schilderte in einem Spiegel-Gastbeitrag die aggressive imperialistische Strategie hinter dieser Politik. Er schrieb: „Deutschland ist der große Gewinner des beschlossenen Programms, auch wenn das hierzulande viele in diesem Augenblick so nicht sehen wollen.“
Weiter erklärte er: „Gegenüber China und den USA wird Deutschland seine Interessen nur als Teil eines starken Europas wahren können. Die beiden größten Volkswirtschaften der Welt werden immer nationalistischer und schrecken immer weniger vor Konflikten gegenüber Europa und vor allem gegenüber Deutschland zurück. Uns muss bewusst sein, dass Deutschland global gesehen eine kleine Volkswirtschaft ist und sich allein weder gegen China noch gegen die USA behaupten kann. Der EU-Wiederaufbaufonds bildet somit die Grundlage dafür, dass langfristig aus einer bipolaren eine tripolare Weltordnung wird, in der Europa einen festen Platz hat.“