130.000 Arbeitsplätze in der deutschen Autoindustrie gefährdet

Obwohl die deutsche Autoindustrie einen Großteil des 130-Milliarden-Konjunkturpakets der Bunderegierung erhält und weitere Milliarden über das staatliche Kurzarbeitergeld einstreicht, bereitet sie den Abbau von weit über 100.000 Arbeitsplätzen vor.

Laut Christian Malorny, dem Weltautochef der Unternehmensberatung Kearney, stehen „in den nächsten 18 Monaten rund 15 Prozent der Arbeitsplätze in der deutschen Autoindustrie auf dem Spiel“ – etwa 130.000 Jobs. Da biete auch das Kurzarbeitergeld, dessen Verlängerung im Herbst 2020 beschlossen werden müsse, auf Dauer keine Absicherung.

Der Autoindustrie-Experte Ferdinand Dudenhöffer glaubt, die deutsche Autoindustrie werde „von Kurzarbeit in die Entlassungswelle steuern“. Nach seiner Einschätzung „kostet die Krise in Deutschland gut 100.000 Arbeitsplätze in der Automobil- und Zulieferindustrie“.

Auch die Gewerkschaft IG Metall geht von der Vernichtung zehntausender Arbeitsplätze sowie zahlreichen Insolvenzen in der Zulieferindustrie aus. „Unsere jüngste Umfrage zeigt: Über 80.000 Beschäftigte in 270 Betrieben sind in hoher oder akuter Insolvenzgefahr. Und diese Zahlen steigen“, sagte der Vorsitzende der IG Metall Jörg Hofmann dem Tagesspiegel letzte Woche.

Der Autoabsatz ist aufgrund der Coronakrise tief eingebrochen. Laut Dudenhöffer sind in den ersten fünf Monaten des Jahres 2020 in den deutschen Werken nur noch knapp 1,2 Millionen Autos gebaut worden – 44 Prozent weniger als im Vorjahr. Er rechnet aufgrund der anhaltend schwachen Nachfrage in Europa, Afrika und Südamerika für das Gesamtjahr mit einem Rückgang der Produktion um 26 Prozent auf 3,4 Millionen Autos. Das wäre der niedrigste Wert seit 1974.

Die Autokonzerne nutzen diese Krise, um lang geplante Umstrukturierungsmaßnahmen umzusetzen. Schon vor der Corona-Pandemie hatten Experten mit dem Abbau von Hunderttausenden Arbeitsplätzen in der Autoindustrie gerechnet. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) war im Herbst 2018 zum Schluss gelangt, dass eine übereilte Umstellung der Produktion auf Elektromobilität in der deutschen Autoindustrie 600.000 Arbeitsplätze gefährden und einen Großteil der Zulieferer ruinieren würde. Aber auch ein „Hinausschieben von Systeminnovationen“ habe nicht weniger katastrophale Folgen. Das Münchner Ifo Institut hatte noch Ende letzten Jahres verkündet, dass allein in der bayerischen Automobilbranche 137.000 Arbeitsplätze auf der Kippe stehen.

Nun arbeiten Regierung und Konzerne eng zusammen, um diese Pläne zu verwirklichen. Die Bundesregierung hat entschieden, Elektroautos und Plug-in-Hybride mit einer Kaufprämie von bis zu 9000 Euro zu fördern, während es für Benzin- und Dieselfahrzeuge – außer der Senkung der Mehrwertsteuer um 3 Prozent – keine besondere Förderung gibt.

Die SPD hat auf diese Entscheidung gedrängt und versucht nun, sie als Beitrag zum Umweltschutz darzustellen. Doch das ist Unsinn. Spätestens seit der Zeit von „Autokanzler“ Gerhard Schröder hat die SPD den Autokonzernen jeden Wunsch erfüllt. Deren arrogantes Festhalten an Verbrennungsmotoren und einem Geschäftsmodell, das auf manipulierten Abgasen beruhte, hat die deutsche Autoindustrie in erhebliche Schwierigkeiten gebracht. Deshalb drängt die Bundesregierung jetzt darauf, die Umstellung auf Elektroautos zu beschleunigen.

Dabei geht es ihr vor allem darum, die deutschen Konzerne im erbitterten Kampf um den Weltmarkt gegen ihre internationalen Rivalen zu stärken. Auch andere Regierungen geben Milliarden zur Unterstützung ihrer Autoindustrie aus. So fördert Präsident Macron die französischen Autokonzerne mit acht Milliarden Euro. Die EU-Kommission setzt sogar 100 Milliarden Euro ein, um die europäische Autoindustrie gegen ihre asiatischen und amerikanischen Konkurrenten zu stärken.

Die Umstrukturierung und der Kampf um den Weltmarkt werden auf dem Rücken der Belegschaften ausgetragen. Die Autoarbeiter werden trotz anhaltender Coronapandemie unter Lebensgefahr in die Betriebe zurückgezwungen und müssen um ihre Arbeitsplätze, Löhne und sozialen Rechte fürchten. Insbesondere Leih- und Zeitarbeiter dienen den Konzernen als rechtlose Manövriermasse; aber auch die Stammbelegschaften sind betroffen.

Die Gewerkschaften und ihre Betriebsräte stehen in diesem Konflikt fest auf der Seite der Konzerne und der Regierung. Sie vertiefen die korporatistische Politik der „Sozialpartnerschaft“, die sie seit Jahrzehnten verfolgen. Deren arbeiterfeindlicher Charakter tritt immer offener in Erscheinung.

Wie in der Vergangenheit, als die IG Metall und die Betriebsräte die Pläne für den Abbau zehntausender Arbeitsplätze bei VW und Opel, einschließlich der Stilllegung der Werke in Antwerpen und Bochum, unterstützten, übernehmen sie auch jetzt wieder die Verantwortung für den Arbeitsplatzabbau. Sie arbeiten die Pläne dafür aus, setzen sie durch und spalten die Autoarbeiter, indem sie die verschiedenen Länder und Standorte gezielt gegeneinander ausspielen. Dabei wäre ein vereinter Kampf der Arbeiter aller Länder und Standorte die einzige Möglichkeit, den Angriff der Konzerne abzuwehren.

Gleichzeitig betätigen sie sich als aggressive Lobbyisten für die milliardenschweren Konzerne, um weitere Milliarden öffentliche Gelder aus der Regierung herauszupressen. Das ist der Grund, weshalb die IG Metall tobt, weil die Regierung nicht auch eine Kaufprämie für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor beschlossen hat.

Bereits am 5. Juni teilte die Gewerkschaft mit: „Das sind schlechte Nachrichten für die rund 2,2 Millionen Beschäftigten, die in der Autoindustrie und den von ihr abhängigen Branchen arbeiten.“ Um mit einer Kaufprämie tatsächlich Beschäftigung zu sichern, „müssten neben Elektroautos auch der Kauf von emissionsarmen, modernen Verbrennungsmotoren gefördert werden“.

Daimler-Gesamtbetriebsratschef Michael Brecht polterte, er und seine Amtskollegen aus der Auto- und Zulieferindustrie seien „stinksauer“. Die Branche habe in Wachstum investiert, nun drohten Überkapazitäten, die man nicht drei oder vier Jahre lang überbrücken könne. 95 Prozent der Beschäftigten in der deutschen Autoindustrie arbeiteten an Fahrzeugen mit konventionellen Antrieben, sagte Brecht.

MAN-Konzernbetriebsratschef Saki Stimoniaris legte nach: „Die Parteispitze der SPD sollte sich hinterfragen. Vertritt sie tatsächlich noch die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer?“

Auch der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, der inzwischen von der Deutschen Bank in ihren Aufsichtsrat berufen wurde, mischte sich ein. Auf Facebook beklagte er, dass die Industrie „den Deutschen eher als Umweltproblem denn als zentraler Wohlstandsfaktor vorkommt“. Diese Haltung spiegele sich inzwischen auch in der SPD wieder. „Klimapolitik ist ihr inzwischen wichtiger als die Interessenvertretung von Arbeitnehmern.“

Tatsächlich denken die IG Metall und ihre Betriebsratsfürsten nicht im Traum an die „Interessen von Arbeitnehmern“, die auch die SPD seit langem nicht mehr vertritt. Ihnen geht es um die Profite der Autokonzerne und um die milliardenschweren Dividenden, die die meisten Autokonzerne trotz staatlicher Hilfen weiterhin an die Aktionäre auszahlen. Und es geht ihnen um die vielen Millionen Euro, die dabei für sie selbst abfallen.

Allein die 30 Aufsichtsratsmitglieder der IG Metall und der Betriebsräte bei VW, BMW und Daimler erhielten im letzten Jahr zusammen über 6 Millionen Euro für ihre Aufsichtsratstätigkeit. Bei VW kassierten MAN-Betriebsratschef Stimoniaris 482.040, IGM-Chef Hofmann 289.000, Konzernbetriebsratschef Bernd Osterloh 387.000 und Audi-Gesamtbetriebsratschef Peter Mosch 579.800 Euro für ihre Aufsichtsratstätigkeiten.

Bei Daimler steckten Betriebsratschef Brecht 499.129 und IGM-Bezirksleiter Roman Zitzelsberger 236.253 Euro ein. Bei BMW waren es jeweils 430.000 Euro für Gesamtbetriebsratschef Manfred Schoch und für den Betriebsratsvorsitzenden im Werk Dingolfing, Stefan Schmid.

Die Behauptung, eine staatliche Kaufprämie für Autos diene dem Erhalt von Arbeitsplätzen, ist absurd. Sie kommt vor allem den Reichen zugute, die sich eine Nobelkarosse leisten können, und den Unternehmen, die einen Dienstwagen brauchen. In Wirklichkeit tritt die IG Metall dafür ein, das Arbeitsplatzmassaker in der Autoindustrie mit Milliarden aus Steuergeldern zu begleiten, um die eigene Pfründe und die Dividenden der Aktionäre zu sichern und die deutschen Konzerne für einen vernichtenden internationalen Handelskrieg zu rüsten.

Um die Arbeitsplätze zu verteidigen, müssen Autoarbeiter mit den Gewerkschaften und ihren hochbezahlten Betriebsräten brechen, unabhängige Aktionskomitees bilden, sich international zusammenschließen und für ein sozialistisches Programm kämpfen. Es ist notwendig, die gesamte Autoindustrie – Hersteller und Zulieferer – in demokratisch kontrolliertes gesellschaftliches Eigentum zu überführen, um die Milliarden für die Aktionäre in die Sicherung der Arbeitsplätze und, mittel- wie langfristig, in die Weiterentwicklung der Branche im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen Mobilitätskonzeptes zu leiten.

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