Am Donnerstag kündigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Entsendung von türkischen Truppen nach Libyen an. Zur Begründung führte er an, die Nationale Einheitsregierung (Government of National Accord, GNA) in Tripolis habe ihn um militärische Unterstützung ersucht.
Die Entsendung türkischer Militäreinheiten in das vom Krieg zerrüttete nordafrikanische Land droht, die ohnehin komplexen und angespannten Beziehungen zwischen Ankara, Moskau und Washington noch weiter zu verschlechtern.
Die GNA wird von Ministerpräsident Fayiz as-Sarradsch geführt und von General Chalifa Haftars „Libysch-Nationaler Armee“ angegriffen, die wiederum mit einer rivalisierenden Regierung in der ostlibyschen Hafenstadt Tobruk verbündet ist. Die Türkei und die GNA haben letzten Monat Abkommen über militärische Zusammenarbeit und eine neue Grenzziehung in Hoheitsgewässern geschlossen. Auf diese beruft sich nun die Erdogan-Regierung, um alleinigen Anspruch auf die immensen Gas- und Ölreserven im östlichen Mittelmeer zu erheben.
„Da jetzt eine Einladung [aus Libyen] vorliegt, werden wir sie annehmen“, erklärte Erdogan bei einer Veranstaltung seiner regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP). „Gemäß unserer Vereinbarung hinsichtlich der Zusammenarbeit im Bereich von Sicherheit und Militär werden wir dem Parlament einen Antrag für die Stationierung von Truppen vorlegen, sobald es die Arbeit wieder aufnimmt.“
Die „Einladung“ aus Libyen ist bisher nicht veröffentlicht worden, doch Erdogan versprach, dass die Entsendung türkischer Truppen bis zur Wiedereröffnung des Parlaments am 8. Januar bewilligt sein wird.
Die Pläne zur Entsendung türkischer Truppen droht, einen Konflikt zu verschärfen, der weitreichende Folgen haben könnte. Die GNA wird zwar von den Vereinten Nationen als „legitime“ Regierung Libyens anerkannt, kontrolliert jedoch kaum mehr als das Gebiet um die belagerte Hauptstadt Tripolis herum. Für ihre Verteidigung ist sie von einer Ansammlung islamistischer und regionaler Milizen abhängig.
Haftar ist ein ehemaliger General der libyschen Regierung von Muammar Gaddafi, der in die USA übergelaufen ist und lange Jahre mit der CIA zusammengearbeitet hat. Er wird von Ägypten, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Russland und Frankreich unterstützt. Washington unterstützt zwar formell die GNA, doch Präsident Donald Trump hat Haftar im April für seine „bedeutende Rolle im Kampf gegen Terrorismus und die Sicherung der libyschen Ölvorkommen“ gelobt.
Die Aufspaltung der libyschen Regierung in zwei rivalisierende Fraktionen, die gegeneinander Krieg führen, ist das Endergebnis des Nato-Angriffskriegs von 2011, der mit massiven Luftangriffen und unter Einsatz von islamistischen Milizen als Stellvertretertruppen am Boden geführt wurde. Er endete mit dem Sturz und der Ermordung Gaddafis. Die imperialistische Intervention hat die libysche Infrastruktur zerstört, zehntausende Todesopfer gefordert und die reichste Nation Afrikas in einen sogenannten gescheiterten Staat verwandelt, in dem seit acht Jahren ununterbrochen Bürgerkrieg herrscht.
Erdogans Drohung, Truppen nach Libyen zu schicken, ist Teil einer zunehmend kriegerischen Politik. Ankara versucht damit, den Interessen der türkischen Bourgeoisie zu dienen und Nationalismus zu schüren, um die wachsenden Klassenspannungen in der Türkei nach außen abzulenken.
Die Beziehungen zwischen der Türkei und Libyen reichen bis zur Zeit des Osmanischen Reichs zurück. Dieses regierte das Gebiet des heutigen Libyens ab dem 16. Jahrhundert, bis es von Italien 1911–12 in einem Kolonialkrieg erobert wurde. Mustafa Kemal Atatürk, der zehn Jahre später die Republik Türkei gründete, hatte in diesem Krieg als Freiwilliger gegen die Italiener gekämpft. Das derzeitige GNA-Regime in Tripolis ist politisch mit der Muslimbruderschaft verbündet, was ihm zwar die politische Sympathie der Türkei einbringt, aber auch den Hass der Regimes in Ägypten, Saudi-Arabien und den VAE.
Haftars Libysch-Nationale Armee hat dem türkischen Geheimdienst vorgeworfen, er würde Kämpfer des ehemaligen syrischen Al-Qaida-Ablegers, der al-Nusra-Front, über Tunesien nach Libyen schleusen, um die GNA zu unterstützen. Erdogan reiste am vergangenen Mittwoch nach Tunesien, um ein Bündnis zur Unterstützung der Regierung in Tripolis zu festigen. Gleichzeitig sprachen sich beide Regierungen für einen Waffenstillstand aus.
Die Entsendung türkischer Truppen nach Libyen könnte eine Konfrontation mit Russland auslösen, das Haftar unterstützt. Die Erdogan-Regierung hat behauptet, die Kreml-nahe Sicherheitsfirma Wagner würde Haftars Truppen mit Söldnern unterstützen, was Moskau jedoch dementiert.
Für die erste Woche des neuen Jahres ist ein Treffen zwischen Erdogan und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin geplant, bei dem Libyen einer der ersten Punkte auf der Tagesordnung sein wird. Der Konflikt in dem nordafrikanischen Land wird von beiden Ländern im Licht ihrer problematischen Übereinkunft in Syrien gesehen, wo sie gemeinsame Patrouillen an der Grenze zwischen der Türkei und Nordostsyrien organisiert haben.
Gleichzeitig besteht weiterhin die Gefahr eines Konflikts wegen der Offensive der syrischen Regierung von Präsident Baschar al-Assad mit dem Ziel, die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens zurückzuerobern. Diese Offensive wird von Russland unterstützt. Die Türkei hat dort jedoch Truppen stationiert und unterstützt islamistische Milizen.
Die Erdogan-Regierung hat letzte Woche eine Delegation nach Moskau geschickt, um einen Waffenstillstand in Idlib auszuhandeln. Die Türkei befürchtet, dass eine Fortsetzung der Offensive eine weitere Flüchtlingswelle über ihre Grenzen auslösen wird. Seit Beginn des Kriegs für einen Regimewechsel in Syrien, der von den USA dirigiert wird, sind bereits 3,6 Millionen Syrer vor dem Blutbad geflohen und haben Zuflucht in der Türkei gesucht.
Die Spannungen zwischen Ankara und Moskau werden in ihrer Intensität nur von denen zwischen der Erdogan-Regierung und Washington übertroffen.
Vor Kurzem drohte Erdogan in einem Fernsehinterview, die Türkei könnte „Incirlik und Kurecik schließen“. Die beiden Luftwaffenstützpunkte haben eine wichtige Rolle bei den US-Militäroperationen im Nahen Osten gespielt, hier befinden sich auch US-Atomwaffen und wichtige Radaranlagen.
Mit dieser Erklärung reagierte die türkische Regierung auf die wachsende Gefahr umfassender US-Sanktionen gegen die Türkei wegen des Ankaufs des russischen Raketensystems vom Typ S-400. Washington hat der Türkei bereits die Teilnahme an der Entwicklung und dem Einsatz des F-35-Kampfflugzeugs untersagt, weil Russland angeblich das Radar des S-400-Systems nutzen könnte, um die Fähigkeiten des Flugzeugs zu beeinträchtigen. Daraufhin hat Ankara gedroht, stattdessen russische Kampfflugzeuge zu kaufen.
US-Verteidigungsminister Mark Esper erklärte als Antwort auf diese Drohungen, die Entscheidung der Türkei, keine Nato-Basen auf ihrem Boden zu unterhalten, stelle ihr „Engagement für das Bündnis“ in Frage. Zuvor hatte er mehrfach erklärt, Ankara verlasse den „Orbit der Nato“.
Die Spannungen zwischen Ankara und der US-geführten Nato hatten sich deutlich verschärft, seit Washington und Berlin im Jahr 2016 einen letztlich gescheiterten Militärputsch unterstützt haben, durch den Erdogan wegen seiner Beziehungen zu Russland gestürzt und ermordet werden sollte.
Der Deal zwischen der Erdogan-Regierung und dem GNA-Regime in Tripolis hat zudem weitreichende Folgen für die Verschärfung der Krise im östlichen Mittelmeer. Dort droht die Verwüstung in Folge der jahrzehntelangen US-Militärinterventionen im Nahen Osten, sich zu einem Konflikt zwischen allen Großmächten auszuweiten.
In dem Memorandum, das von Ankara und der libyschen GNA unterzeichnet wurde, erhebt die Türkei Anspruch auf große Teile des östlichen Mittelmeers als exklusive Wirtschaftszone (EEZ), darunter Gewässer vor Zypern, der griechischen Insel Kreta und Ägypten, sowie Öl- und Erdgasvorkommen vor den Küsten im Wert von schätzungsweise Hunderten Milliarden von Dollar.
Washington reagierte auf die Ansprüche der Türkei mit deutlicher Unterstützung für Griechenland und Zypern; für Letzteres haben die USA das seit Jahrzehnten andauernde Waffenembargo aufgehoben.
Die Kriege in Syrien und Libyen sowie der Kampf um die Kontrolle der Energievorkommen im östlichen Mittelmeer schaffen eine zunehmend instabile Situation, die einen regionalen oder sogar globalen militärischen Konflikt entfachen könnte.