Der tödliche Angriff am Frankfurter Hauptbahnhof am Montag letzter Woche, bei dem ein achtjähriger Junge getötet und seine Mutter verletzt wurde, hat in Deutschland und weltweit großes Entsetzen ausgelöst.
Am 29. Juli hatte der 40-jährige Habte A. mutmaßlich eine 40-jährige Frau und ihren achtjährigen Sohn auf das Gleis vor einen einfahrenden ICE gestoßen. Die Mutter des Jungen konnte sich noch rechtzeitig vor dem Zug retten, schaffte es aber nicht mehr, auch ihren Sohn aus dem Gleis zu ziehen. Der Junge, der gemeinsam mit seiner Mutter auf dem Weg in den Urlaub war, starb noch vor Ort.
Der mutmaßliche Täter hatte auch versucht, eine 78-jährige Frau auf das Gleis zu stoßen. Diese konnte sich jedoch dagegen wehren und stürzte auf den Bahnsteig. Sie kam mit einer Schulterverletzung und einem Schock davon. Anschließend versuchte der 40-Jährige zu fliehen. Er wurde schließlich von Zivilisten, darunter einem Polizeibeamten, festgehalten, bevor die Polizei ihn festnahm.
Oberstaatsanwältin Nadja Niesen erklärte, der Täter, der seit 2006 in der Schweiz lebt und in Eritrea geboren wurde, habe seine Opfer vermutlich willkürlich ausgewählt. Es sei keinerlei Beziehung zwischen Opfern und Täter bekannt.
Anders als in einigen Medienberichten zunächst spekuliert, war die Tat offenbar auch kein Racheakt für den rechtsterroristischen Anschlag in Wächtersbach, bei dem am 22. Juli ein Mann aus Eritrea aus einem fahrenden Auto heraus angeschossen und verletzt worden war. Auch ein extremistisches Motiv wird derzeit ausgeschlossen. Der Täter galt in seinem Umfeld nicht als besonders religiös.
Gegenwärtig nehmen die Ermittler an, dass bei Habte A. eine psychische Störung, möglicherweise in Form einer Paranoia, vorlag. Wie der Schweizer Tages-Anzeiger schreibt, legen Dokumente eine solche Erkrankung nahe, die bei der Wohnungsdurchsuchung nach der Tat gefunden wurden. Geprüft wird dahingehend auch, ob er bei der Tat überhaupt schuldfähig war.
Obwohl zu diesem Zeitpunkt über den mutmaßlichen Täter kaum mehr bekannt war als sein Name, sein Alter und seine eritreische Herkunft, begann schon am Montagmittag eine üble Hetze gegen Geflüchtete im Allgemeinen und Eritreer im Besonderen. Die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel twitterte: „Schützt endlich die Bürger unseres Landes – statt der grenzenlosen Willkommenskultur!“ Ähnliches gab die Bundestagsfraktion der rechtsextremen Partei von sich: „Wie viele Staatsbürger sollen eigentlich noch auf dem Altar dieser grenzenlosen Willkommenskultur geopfert werden?“
Die Bild-Zeitung veröffentlichte gleich den vollen Namen des mutmaßlichen Täters und begann eine üble Kampagne gegen Einwanderung und für die Aufrüstung der deutschen und europäischen Grenzen. Chefredakteur Julian Reichelt gab dabei in einem geifernden Kommentar vom Dienstag den Ton vor.
„NEIN, das ist ganz sicher kein Grund, jetzt jede politische Debatte über die Herkunft des Täters zu unterbinden“, hetzte Reichelt gegen alle los, die noch nach dem Motiv des Täters suchten. „Denn die Frage lautet nicht nur, wie ein Mensch so etwas nur anrichten kann. Die Frage lautet auch, wieso genau dieser Mensch und noch viele andere potenzielle oder bereits aktive Gewalttäter völlig ungehindert nach Deutschland einreisen können. […] es gibt keine systematische Kontrolle mehr darüber, wer nach Deutschland kommt oder sich bei uns frei bewegt.“
Ähnlich reagierten die Rechten in der Schweiz. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) im Kanton Zürich erklärte in einer Pressemitteilung, sie kritisiere „seit jeher die lasche Asylpolitik gegenüber Eritreern. Diese abscheuliche Tat zeigt einmal mehr auf, dass es sich bei solchen Personen um nichtintegrierbare Gewalttäter handelt, die in der Schweiz nichts verloren haben.“ Das Schweizer Boulevard-Blatt Blick nannte den Täter nur den „Gleis-Killer“.
Vertreter der Großen Koalition in Deutschland distanzierten sich zwar pro Forma von allzu offen rassistischen Kommentaren. Zugleich nutzten sie den Vorfall, um Forderungen nach Sicherung der deutschen und europäischen Außengrenzen aufzubringen und die innere Aufrüstung voranzutreiben.
Bundesinnenminister Horst Seehofer brach eigens seinen Urlaub ab, um nach Berlin zu reisen und sich mit den Chefs der deutschen Sicherheitsbehörden zu treffen. Am Tag nach der Tat hielt er gemeinsam mit den Chefs von Bundespolizei und BKA eine Pressekonferenz ab, auf der er die Aufstockung der Bundespolizei, eine verstärkte Videoüberwachung im öffentlichen Raum, sowie die Sicherung der Landesgrenzen durch Schleierfahndung und temporäre Kontrollen forderte.
Der SPD-Verkehrspolitiker Martin Burkert verlangte, die Bahn müsse „die Aufsicht an Bahnsteigen“ wieder verstärken. „Eine bessere Aufsicht würde schon mal helfen. Außerdem fehlen Bundespolizisten“, erklärte er gegenüber Bild.
Während bürgerliche Politiker und die Boulevardpresse den schrecklichen Vorfall ausnutzten, um Rassismus zu schüren und Staatsaufrüstung zu fordern, haben Berichte aus seinem Umfeld ein genaueres Bild des mutmaßlichen Täters ergeben. Wenngleich das Motiv bisher nicht sicher feststeht und Habte A. sich gegenüber der Staatsanwaltschaft darüber in Schweigen hüllt, deutet vieles auf eine schwere psychische Störung hin. Dabei ist es nicht unwahrscheinlich, dass angesichts einer Fluchtgeschichte aus Eritrea traumatische Erfahrungen eine ursächliche Rolle spielen, wie sie heute Millionen Geflüchtete auf der ganzen Welt machen müssen.
Habte A. ist verheiratet, Vater von drei kleinen Kindern im Vorschulalter, lebte mit seiner Familie in Wädenswil am Zürichsee und spricht Berichten zufolge sehr gut deutsch. 2006 kam er als Geflüchteter aus Eritrea in die Schweiz und beantragte dort Asyl. Es dauerte zwei Jahre, bis es ihm bewilligt wurde; weitere drei Jahre musste er warten, bis er eine Niederlassungsbewilligung erhielt. Erst diese ermöglichte es ihm, sich dauerhaft in der Schweiz aufzuhalten und einer Arbeit nachzugehen.
Sechs Jahre lang arbeitete A. Medienberichten zufolge als Bauschlosser in Aarau. Als er 2017 wegen ausbleibender Aufträge die Stelle verlor, nahm er an einem Integrationsprogramm des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks (SAH) teil. Er war offensichtlich derart vorbildlich in die Schweizer Gesellschaft integriert, dass seine Geschichte in einer Broschüre über das Programm als Musterbeispiel erwähnt wurde. Anschließend fand er eine Anstellung in der Karosseriewerkstatt der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ).
Auch ansonsten lebte Habte A. offenbar ein unauffälliges Leben. Außer durch ein „geringfügiges Verkehrsdelikt“, gab die Kantonspolizei Zürich bekannt, sei er nie polizeilich aufgefallen. Auch in seinem Umfeld sei er nie als aggressiv bekannt gewesen.
Seit dem Sommer 2018 allerdings bemerkten Menschen in seinem Umfeld Veränderungen und psychische Auffälligkeiten. Ein Freund, den das Magazin Focus interviewt hat, beschrieb, dass A. offenbar unter Verfolgungswahn gelitten und Stimmen gehört habe. „Wenn wir irgendwo allein saßen, drehte er sich plötzlich um und sagte: ‚Wer redet da über mich?‘“
A. habe sich zunehmend verfolgt gefühlt und sich durch Handystrahlen und elektromagnetische Wellen beeinflusst gesehen. Er fürchtete demnach, dass Zugpassagiere und Kollegen seine Gedanken lesen und ihn manipulieren könnten und möglicherweise sogar sein Leben zerstören wollten.
Im Januar 2019 wurde A. nach einem Bericht des Tages-Anzeigers erstmals mit Verfolgungswahn diagnostiziert, krankgeschrieben und an einen Psychiater verwiesen. Seither soll er nicht mehr gearbeitet haben.
Am Donnerstag vor der Tat in Frankfurt soll A. dann erstmals gegenüber seinem persönlichen Umfeld aggressiv und gewalttätig geworden sein. Er habe eine Nachbarin mit einem Messer bedroht. Anschließend habe er seine Ehefrau, ihre drei gemeinsamen kleinen Kinder sowie die Nachbarin in der Wohnung eingesperrt, wo sie später von Polizeibeamten befreit wurden. Die beiden Frauen seien Medienberichten zufolge schockiert gewesen, weil sie A. noch nie zuvor so erlebt hätten.
Danach fehlte von A. jede Spur, er wurde von der Schweizer Polizei landesweit zur Fahndung ausgeschrieben. Gegenüber der Polizei in Frankfurt gab A. später zu, mit dem ICE von Basel nach Frankfurt gefahren zu sein. Warum er dorthin fuhr, ist bisher unklar. Ob Frankfurt sein Ziel war, weil die Stadt neben Zürich eine der größten eritreischen Gemeinden in Europa hat, ist denkbar, bisher aber Spekulation.
Noch ist unklar, was die medizinischen Untersuchungen ergeben werden, die Habte A. gerade durchläuft. Doch es ist kaum denkbar, dass es zwischen seinen Erfahrungen als Geflüchteter aus Eritrea und seinem gewalttätigen und brutalen Verhalten in Frankfurt und gegenüber Frau und Kindern in der Schweiz keinen Zusammenhang gibt.
Ein kurzer Blick auf die humanitäre Lage in Eritrea und die Situation von Geflüchteten aus dem ostafrikanischen Kleinstaat macht erkennbar, welchen extremen Belastungen die Menschen sowohl vor Ort als auch auf dem Weg nach Europa ausgesetzt sind.
Das Land wird oftmals als das „Nordkorea Afrikas“ bezeichnet, weil es derart abgeschottet ist und der Staat weitestgehend das Leben der Bevölkerung kontrolliert. Es gibt einen so genannten Nationaldienst, der den Wehrdienst und anschließenden Arbeitsdienst umfasst und der schon im letzten Schuljahr beginnt. Zeitlich ist dieser nach Berichten von Amnesty International unbegrenzt. Das ist einer der wichtigsten Gründe, weshalb junge Eritreer aus dem Land fliehen. Bei nur 3,2 Millionen Einwohnern sind 500.000 Eritreer weltweit auf der Flucht.
Seit in der Schweiz 2006 die Flucht vor dem Wehrdienst offiziell als Asylgrund anerkannt wurde, sind nach einem Bericht des Focus tausende Eritreer hierher geflohen. Damals war der sogenannte Nationaldienst gerade von 18 Monaten auf unbegrenzte Zeit verlängert worden. Auch Habte A. kam in dieser Zeit in die Schweiz.
Selbst die rechten EU-Regierungen, die mit allen Mitteln Geflüchteten das Asylrecht streitig zu machen versuchen, kommen nicht umhin, die Lage in Eritrea als katastrophal anzuerkennen. Nach Flüchtlingen aus den Bürgerkriegsländern Jemen und Syrien haben Menschen aus Eritrea innerhalb der EU die höchste Anerkennungsquote (85%), wie aus dem Jahresbericht 2018 des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) hervorgeht.
Doch traumatische Erfahrungen machen Menschen aus Eritrea nicht nur in ihrer Heimat, sondern auch auf dem Weg nach Europa. Wie Amnesty International schreibt, laufen sie auf dem langen Fluchtweg „Gefahr, willkürlich inhaftiert, verschleppt, sexuell missbraucht und misshandelt zu werden.“ In lybischen Folterlagern sitzen tausende Eritreer fest. Zahlen darüber, wie viele bei dem Versuch nach Europa zu gelangen im Mittelmeer ertrunken sind, gibt es nicht.
Gegenüber der Luzerner Zeitung erklärte die Kinder- und Jugendpsychiaterin Fana Asefaw, viele der aus Eritrea in die Schweiz Geflohenen erlebe sie „als verloren und orientierungslos“. Sie kämen „oft mit einer hohen Verletzlichkeit, verletzt durch die Zeit in der Heimat, aber auch die schlimmen Erlebnisse auf der Flucht“. Für Trauma und Aggressionsstörungen, deretwegen sie viele ihrer Patienten betreue, sei oft „ihre Situation in der Schweiz, die Perspektivlosigkeit“ verantwortlich. Etwa die Hälfte der aus Eritrea Geflüchteten sei nach ihrer Einschätzung von postmigratorischem Stress betroffen.
Und selbst wer es schließlich in die Schweiz schafft, ist dort alles andere als sicher. Unaufhörlich haben dort die rechtsradikale SVP und die wirtschaftsliberale FDP in den letzten Jahren mit einer gezielten rassistischen Kampagne dafür gesorgt, dass insbesondere Menschen aus Eritrea unter ständiger Angst leben müssen. Die Schweizer Wochenzeitung beschrieb das skandalöse Vorgehen in einem Artikel vom März dieses Jahres wie folgt:
„Das SEM [Staatssekretariat für Migration] verschärft seine Praxis gegenüber eritreischen Asylsuchenden seit Jahren: Zuerst wurde die illegale Ausreise aus Eritrea nicht mehr als Fluchtgrund akzeptiert, dann entschied es, dass eine Rückkehr nur in Ausnahmefällen unzumutbar sei, und zuletzt, dass selbst eine drohende Zwangsrekrutierung für den berüchtigten Nationaldienst nach der Rückkehr keine Gefährdung darstelle. Das Bundesverwaltungsgericht segnete diese Verschärfungen jeweils nachträglich mit drei Grundsatzurteilen ab.“ Außerdem werden seit April 2018 die Akten von 3000 eritreischen Geflüchteten geprüft, mit der Absicht, ihnen gegebenenfalls das Aufenthaltsrecht zu entziehen, wie die Zeitung schreibt.
Inwiefern hat möglicherweise auch die unaufhörliche rassistische Kampagne gegen Eritreer in der Schweiz zu Verfolgungswahn, Panik und schließlich der unkontrollierbaren Aggression beigetragen, die am vergangenen Montag einen achtjährigen Jungen das Leben gekostet hat? Diese Fragen sind in der medialen Berichterstattung zu dem tödlichen Angriff in Frankfurt so gut wie nicht thematisiert worden.
All das macht die schreckliche Tat nicht entschuldbar. Aber es wirft ein grelles Licht auf die Bedingungen, unter denen Millionen geflüchtete Menschen weltweit leben, und auf die Schatten, die Krieg und Flucht in einer Atmosphäre der staatlich geförderten Angst und Flüchtlingshetze noch Jahre später werfen können.