Paul Hanebrinks Buch: „A Specter Haunting Europe“. Über den „jüdisch-bolschewistischen“ Mythos

Konterrevolution und Antisemitismus

Paul Hanebrink, „A Specter Haunting Europe. The Myth of Judeo-Bolshevism“ (Ein Gespenst geht um in Europa. Der Mythos des Judäo-Bolschewismus), Harvard University Press 2018. (Sofern nicht anders angegeben, stammen alle Zitate aus diesem Buch.)

Das neue Buch des Historikers Paul Hanebrink (Rutgers University) beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen der Angst vor dem „Gespenst des Kommunismus“, das in Europa umgeht (eine Anspielung auf das Kommunistische Manifest von Marx und Engels) und dem Antisemitismus.

In einem Großteil des Buches analysiert Hanebrink die Rolle, die der „jüdisch-bolschewistische“ Mythos in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Ideologie und die Verbrechen der europäischen Rechtsextremen spielte, die im Zweiten Weltkrieg im nationalsozialistischen Völkermord an 6 Millionen europäischen Juden gipfelten.

Er beginnt seine Darstellung mit der Revolution in Bayern 1918–1919. Er schildert, wie die katholische Kirche, internationale Politiker wie Winston Churchill und die noch junge Nazi-Bewegung auf die Russische Revolution von 1917 und die Deutsche Revolution von 1918–1919, insbesondere die kurzlebige Bayerische Räterepublik, reagierten: Sie begegneten ihnen mit wüstem Antisemitismus.

Bischof Eugenio Pacelli, der während der Revolution in München residierte, bezeichnete die bayerischen Revolutionäre als „Bande junger Frauen von zweifelhaftem Äußeren, jüdisch wie alle andern“. Max Levien, in Wirklichkeit kein Jude, war für Pacelli „ein junger Mann von etwa dreißig oder fünfunddreißig Jahren, auch Russe und Jude. Blass, schmutzig, mit trüben Augen, rauer Stimme, vulgär und abstoßend, mit einem Gesicht, das sowohl intelligent als auch durchtrieben war“. Etwa 15 Jahre später unterzeichnete er als Papst Pius XII ein Konkordat mit Hitler.

Solche Ansichten teilten rechte Intellektuelle und Politiker in ganz Europa. Es war ihre Reaktion auf die Welle von Revolutionen, die sich zum Ende des Ersten Weltkriegs auf ganz Europa ausdehnte. Nach der Revolution in Ungarn 1919 unter Führung von Béla Kun besuchten zwei rechtsextreme französische Intellektuelle, Jean und Jérôme Tharaud, das Land. In ihrem Buch „Quand Israël est roi“ (Wenn Israel der König ist) schrieben sie: „Am Ufer der Donau entstand ein neues Jerusalem, entsprungen aus dem Kopf von Karl Marx und errichtet von jüdischen Händen auf uralten [messianischen] Vorstellungen.“ Die darauffolgende blutige Konterrevolution forderte das Leben von mindestens 3.000 Menschen, etwa die Hälfte davon jüdischer Herkunft.

Rechtsextreme Publikationen „entlarvten“ führende Persönlichkeiten der revolutionären Bewegung als „Juden“. Bezeichnenderweise wurde Leo Trotzki, der zusammen mit Wladimir Lenin die Russische Revolution angeführt hatte, „Bronstein“ genannt, einen Namen, den er längst nicht mehr benutzte. Der polnische Revolutionär Karl Radek wurde „Sobelsohn“ genannt. In ihrer verblendeten antisemitischen Raserei bezeichneten die Rechtsextremen viele Revolutionäre als „Juden“, die überhaupt nicht jüdisch waren, darunter Lenin, Karl Liebknecht oder den bereits erwähnten Max Levien. Diese Kreise verwendeten die Bezeichnungen „asiatischer“ und „jüdischer“ Bolschewismus als beinahe identische Begriffe. Hanebrink erklärt: „Der Bolschewik war gleichzeitig ein wurzelloser Migrantenjude, Teil einer aus dem Osten einfallenden Horde und ein asiatisches Tier.“

Während des Bürgerkriegs von 1918–1922 und der Invasion von 19 ausländischen Armeen gegen das noch junge bolschewistische Regime wurden allein in der Ukraine 50.000 bis 200.000 Juden getötet, hauptsächlich von konterrevolutionären Weißen und ukrainischen Nationalisten. Auch die polnischen Streitkräfte, die gegen die Rote Armee kämpften, begingen antijüdische Massaker. So wurden bei dem berüchtigten Pogrom von Pinsk 35 Juden ermordet. Polens Premierminister und Außenminister Ignacy Paderewski rechtfertigte dieses Massaker damit, dass es sich um eine „Angelegenheit des reinen Bolschewismus“ gehandelt habe. „Wir haben die für das Verbrechen Verantwortlichen hingerichtet; zufällig waren sie Juden.“

Die nationalsozialistische Bewegung im Zwischenkriegsdeutschland entstand als direkte Folge dieser Gegenrevolutionen. Sowohl Deutschland als auch Österreich wurden zu Zentren der extremen Rechten, denn nach der bolschewistischen Revolution in Russland und der Revolution in Ungarn strömten nationalistische Emigranten nach Wien und Berlin. In ihrer antisemitischen Propaganda verwiesen sie sowohl in der bayerischen Räterepublik als auch in der Sowjetunion immer wieder auf die „jüdischen Revolutionäre“.

Die geostrategischen Ziele und militärischen und wirtschaftlichen Mechanismen des deutschen Imperialismus verschmolzen mit dem Mythos des Judäo-Bolschewismus. Daraus entstand die entscheidende ideologische Grundlage für den Krieg gegen die Sowjetunion, der als tödlichster und gewalttätigster Krieg der Menschheitsgeschichte 27 bis 40 Millionen sowjetische Opfer forderte, wie auch für den Völkermord an den europäischen Juden. Diese Ideologie war die Grundlage, auf der die Nazis in ganz Osteuropa faschistische Regime und rechtsextreme Kräfte mobilisieren konnten, einschließlich der Regierungen Rumäniens und Ungarns und der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-B), was sie als „antibolschewistischen und antijüdischen Kreuzzug“ darstellten.

In der Ukraine verübte die OUN-B schreckliche Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung, und ganz besonders in Lemberg (auch Lviv oder Lwów). Unter der Diktatur von Ion Antonescu und seiner faschistischen Eisernen Garde organisierte Rumänien die größten staatlich geförderten antijüdischen Massaker und Pogrome außerhalb der von den Nazis besetzten Länder. In Polen nahmen die Nazis zwar auch die polnische extreme Rechte aufs Korn, aber sie machten aus Polen den Hauptstandort der industriellen Vernichtung des europäischen Judentums. Das Land erlebte mehrere entsetzliche Pogrome, verübt von Nationalisten und aufgehetzten Bauern. Große Teile der polnischen Bourgeoisie und der Exilregierung in London waren extrem antisemitisch. Hanebrink weist darauf hin, dass die Exilregierung Berichte erhielt, die „ausführlich auf das Problem der jüdischen Beteiligung am neuen kommunistischen Regime eingingen … [und] Juden kollektiv als Verräter bezeichneten“.

Nach Kriegsende wurde der „jüdisch-bolschewistische Mythos“ in Westdeutschland an den Kontext des Kalten Krieges angepasst. Wie Hanebrink erklärt, mussten ehemalige Nazis, die in Westdeutschland wieder in die Justiz, die Medien, das diplomatische Corps und das Militär eintraten, statt „jüdischen Bolschewismus“ nur „asiatischen Bolschewismus“ sagen, um respektabel zu erscheinen. „Während veränderte politische Umstände denjenigen, die den sowjetischen Feind offen als jüdische Macht bezeichneten, schwerwiegende berufliche Konsequenzen auferlegten, ließ sich der von den USA geleitete ‚Kreuzzug zur Verteidigung der westlichen Zivilisation‘ leicht an andere Aspekte der antisowjetischen Nazi-Ideologie anpassen.“

Hanebrink erwähnt den bekannten Fall von Eberhard Taubert, dem Leiter und Gründer der Nazi-Büros „Institut zum Studium der Judenfrage“. Taubert war ein enger Mitarbeiter des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels. Er schrieb das Drehbuch für den berüchtigten nationalsozialistischen Propagandafilm „Der ewige Jude“, und er verfasste auch das Gesetz, das jüdischen Menschen das Tragen des Judensterns aufzwang. Nach dem Krieg leitete er eine von der CIA finanzierte antikommunistische Organisation, die sich „stark an Themen orientierte, die während der Nazizeit weit verbreitet waren, einschließlich der Darstellung von ‚Volksfeinden‘ als ‚Ratten und Schmeißfliegen‘ … Nach 1945 ließ Taubert alle Verweise auf den Judäo-Bolschewismus fallen, behielt aber alle anderen ideologischen und symbolischen Merkmale seines früheren Wirkens bei.“ Taubert blieb bis in die 1970er Jahre hinein eine einflussreiche Figur in der deutschen Politik und arbeitete als Berater des führenden bayerischen Politikers und einmaligen Kanzlerkandidaten Franz-Josef Strauß.

Hanebrink liefert eine Fülle von empirischen Nachweisen, die den engen Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Konterrevolution in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts belegen. Obwohl er so den Fokus auf den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Antikommunismus legt, verzichtet er jedoch bewusst darauf, Antisemitismus als die Ideologie der Konterrevolution zu definieren. Stattdessen besteht er darauf, Antisemitismus als „kulturellen Code“ zu betrachten, der in verschiedenen kulturellen und politischen Zusammenhängen unterschiedliche Formen annimmt. Für Hanebrink ist der Judäo-Bolschewismus nur eine spezifische, zeitgenössische Variation früherer antisemitischer Tropen der „jüdischen Verschwörung“ und des „jüdischen Teufels“.

Es stimmt zwar, dass die letztgenannten Sprachbilder zum Teil Einfluss hatten und oft mit dem Mythos des Judäo-Bolschewismus in Verbindung gebracht wurden. Aber ein solches Verständnis des modernen politischen Antisemitismus entzieht ihm letztlich den konkreten historischen und politischen Inhalt: Der moderne Antisemitismus war vor allem eine Reaktion und ein ideologisches Brecheisen gegen die sozialistische und marxistische Arbeiterbewegung.

Stalinismus, Kommunismus und Antisemitismus

Hanebrink stellt sein Buch als Versuch dar, zu verstehen, warum zwar „der Kommunismus weg ist… die Idee des Judäo-Bolschewismus sich aber weigert zu verschwinden“. Dieser Versuch, der auf der falschen Gleichsetzung von Stalinismus und Kommunismus beruht, führt zu einer erheblichen irreführenden Auslassung in seinen Argumentation über das Wiederaufleben des Antisemitismus in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, wie auch heute auf der ganzen Welt.

Hanebrink führt seine Antwort auf die Frage nach der Hartnäckigkeit des Antisemitismus zum großen Teil auf das scheinbar unüberwindliche Vorurteil der Bevölkerung gegen Juden in Ost- und Mitteleuropa zurück, das die Stalinisten hätten berücksichtigen müssen. Er stützt sich dabei auf die Arbeiten von Figuren wie dem antikommunistischen polnisch-amerikanischen Soziologen Jan Tomasz Gross. Die historischen Beweise widersprechen jedoch völlig diesem Theoriegebäude. Die europäische sozialistische Bewegung hatte eine lange, stolze Geschichte prinzipieller Opposition gegen den Antisemitismus, die in dem Kampf der Bolschewiki gegen antijüdische Pogrome in den Jahren 1917–1922 gipfelte. Hanebrink ignoriert dies völlig.

Die Russische Revolution von 1917 gewährte den Juden des ehemaligen Russischen Reiches erstmals volle demokratische Rechte und setzte damit der jahrzehntelangen staatlich geförderten Diskriminierung ein Ende. Marxistische Revolutionäre hatten den Kampf gegen den Antisemitismus längst als entscheidenden Bestandteil des Kampfes für ein sozialistisches, internationalistisches Bewusstsein in der Arbeiterklasse verstanden. Vor allem Lenin schrieb zahlreiche Artikel zu diesem Thema und bestand unnachgiebigen auf einer bolschewistischen Linie im Kampf gegen den Antisemitismus. (Siehe auch: Antisemitismus und Russische Revolution)

Im Bewusstsein der Existenz antisemitischer Vorurteile, insbesondere in der ländlichen Bevölkerung, die leicht zu manipulieren und von konterrevolutionären Kräften gegen die Rote Armee aufzuhetzen war, hat die sowjetische Militärführung jeden scharf verfolgt, der sich eines Verbrechens gegen Juden schuldig gemacht hatte. Die frühe Sowjetregierung unternahm auch erhebliche Anstrengungen, um Bildungsliteratur zu diesem Thema auch unter der ländlichen Bevölkerung zu verbreiten. In den 1920er Jahren war die Sowjetunion der einzige Staat der Welt, der Schulen auf Jiddisch betrieb und akademische Einrichtungen förderte, die sich speziell dem Studium der jüdischen Geschichte, Kultur und Sprache widmeten.

Auf dieser Grundlage gewannen die Bolschewiki und die Sowjetunion weltweit immense Autorität und Ansehen unter den jüdischen Massen. Aus diesem Grund löste nach dem Krieg die Tatsache, dass die stalinistischen Regierungen antisemitische Politik betrieben, so ein ungläubiges Entsetzen aus.

Eine so tiefgreifende Veränderung kann nur im Zusammenhang mit der Entstehung des Stalinismus verstanden werden. Der Grundstein für eine Wiederbelebung des Antisemitismus wurde mit der zunehmend nationalistischen Ausrichtung der sowjetischen Politik im In- und Ausland auf der Basis des stalinistischen Programms des „Sozialismus in einem Land“ gelegt. Obwohl nur zögerlich und langsam, setzten die Stalinisten den Antisemitismus als Waffe in ihrem Kampf gegen die Linke Opposition von Leo Trotzki ein, die sich dem nationalistischen Verrat an der Revolution widersetzte und auf einer Ausrichtung auf die sozialistische Weltrevolution bestand.

Leo Trotzki

Die Verbindung zwischen der „jüdischen“ linken Opposition und ihrem Programm des revolutionären Internationalismus war die politische Grundlage für das Wiederaufleben des altrussischen, nationalistischen und antisemitischen Klischees des „wurzellosen, kosmopolitischen Juden“. Gerade weil der Stalinismus die kommunistische Revolution von 1917 nicht ausdehnte, sondern sich gegen sie richtete, fand der jüdisch-bolschewistische Mythos eine fruchtbare Grundlage innerhalb der stalinistischen Parteien und Bürokratien.

Trotzki erklärte diese Entwicklung 1937 und verwies auf die lange Tradition des russischen Chauvinismus, der historisch innerhalb der russischen Bauernschaft, in Teilen der Intelligenz und des städtischen Kleinbürgertums, sowie in den rückständigsten Schichten der Arbeiterklasse mit Antisemitismus verbunden war. Die Bürokratie peitschte diese Schichten vorsätzlich auf und mobilisierte sie gegen die linke Opposition. Trotzki schrieb:

„Um noch schärfer den Arbeitern die Unterschiede zwischen dem ‚alten‘ und dem ‚neuen‘ Kurs klarzumachen, wurden die Juden, selbst wenn sie vorbehaltlos der allgemeinen Linie treu waren, aus verantwortlichen Partei- und Sowjet-Posten entfernt. Nicht nur auf dem Land, sondern sogar in Moskauer Fabriken nahm 1926 die Hetze gegen die Opposition einen unzweideutig antisemitischen Charakter an. Viele Agitatoren äußerten unverhohlen: ‚Die Juden sind Aufrührer.‘ Ich habe Hunderte von Briefen erhalten, die die antisemitischen Methoden im Kampf gegen die Opposition beklagten. Während einer Sitzung des Politbüros schrieb ich Bucharin eine Notiz: ‚Sie können nicht umhin zu erkennen, dass sogar in Moskau im Kampf gegen die Opposition Methoden der Schwarzhundertschaften (Antisemitismus usw.) angewandt werden.‘ Bucharin antwortete mir ausweichend auf dem gleichen Stück Papier: ‚Vereinzelte Vorfälle kann es natürlich geben.‘ […].

In den Monaten der Vorbereitungen für den Ausschluss der Opposition aus der Partei, der Verhaftungen, der Ausweisungen (in der zweiten Hälfte 1927) nahm die antisemitische Agitation einen völlig ungehemmten Charakter an. Der Slogan ‚Schlagt die Opposition‘ bekam oft die Bedeutung des alten Slogans ‚Schlagt die Juden und rettet Russland‘. Die Sache ging so weit, dass Stalin genötigt war, eine gedruckte Erklärung abzugeben, die besagte: ‚Wir kämpfen gegen Trotzki, Sinowjew und Kamenew, nicht weil sie Juden sind, sondern weil sie die Opposition sind‘ usw. Jedem politisch denkenden Menschen war es vollständig klar, dass diese bewusst doppeldeutigen Worte, die sich gegen die Auswüchse des Antisemitismus richteten, diesen zur selben Zeit mit vollem Bedacht nährten. ‚Vergesst nicht: die Führer der Opposition sind Juden!‘ Das war die Bedeutung der Feststellung Stalins, die in allen sowjetischen Zeitungen veröffentlicht wurde.“

Die Frage des Antisemitismus tauchte während des Großen Terrors der 1930er Jahre wieder auf, den Hanebrink völlig auslässt. Dem Terror fielen praktisch der gesamte Kader und die Führung der bolschewistischen Partei von 1917 zum Opfer: etwa 30.000 linke Oppositionelle und Hunderttausende Revolutionäre, marxistische Intellektuelle und Arbeiter aus ganz Europa, einschließlich Deutschland, Polen, Jugoslawien und den baltischen Staaten.

Die Moskauer Prozesse von 1936 und 1937 gegen die prominentesten Führer der Oktoberrevolution hatten eindeutig antisemitische Untertöne, wie Trotzki damals betonte: Von den 16 Angeklagten im ersten Moskauer Prozess waren nicht weniger als 10 jüdisch; im zweiten Fall waren 8 von 17 Angeklagten jüdischer Herkunft. In den verleumderischen Anklagen gegen Trotzkis Sohn und engen Mitarbeiter Leo Sedow (der kurze Zeit später in Paris von einem stalinistischen Agenten ermordet wurde) begann die sowjetische Presse plötzlich von „Bronstein“, zu reden, obwohl Sedow diesen Namen nie benutzt hatte. Der Name war damals schon ein Codewort für die antisemitische Verunglimpfung Trotzkis und des Trotzkismus‘.

Spätere Entwicklungen sollten Trotzkis Analyse voll und ganz bestätigen. Ein Überläufer hat später enthüllt, dass 1939 in einem vertraulichen Dekret des Zentralkomitees der Partei wieder Quoten für die Aufnahme von Juden an Bildungseinrichtungen festgelegt wurden. (Diese Quoten verstetigten sich in der Sowjetunion schließlich zu einer offiziellen staatlichen Politik.) Juden wurden auch aus den Hauptvertretungsorganen der Sowjetregierung und ihrem diplomatischen Korps entfernt.

Diese Tendenzen wurden durch den Krieg noch verschärft. Während Journalisten der Roten Armee als erste den Völkermord an der osteuropäischen jüdischen Bevölkerung durch die Nazis dokumentierten und darüber berichteten, wurden viele ihrer Berichte nur in zensierter Form veröffentlicht. Das von den Schriftstellern und Journalisten Wassili Grossman und Ilja Ehrenburg verfasste „Schwarzbuch“ des osteuropäischen Judentums war die erste umfassende Dokumentation des Holocaust in Osteuropa. Doch kaum wurde es 1946 in der Sowjetunion gedruckt, wurde es auch schon wieder verboten, und gedruckte Exemplare wurden vernichtet.

Obwohl antisemitische Diskriminierung zunehmend in die staatliche Politik integriert wurde, gab es immer noch keine offene Agitation mit antisemitischem Charakter. Darüber hinaus hat die Tatsache, dass die Rote Armee die nationalsozialistischen Vernichtungslager und Osteuropa als Ganzes vom Faschismus befreit hatte, das Ansehen der Sowjetunion enorm erhöht, wie Hanebrink am Beispiel von Massen von Arbeitern und Intellektuellen, einschließlich der Überlebenden des Holocaust, einräumt.

In Polen verfolgte die stalinistische Regierung zunächst einen Kurs, der sich stark von ihrer späteren, offen antisemitischen Politik unterschied. Den Juden wurden nicht nur gleiche demokratische Rechte gewährt. Bis 1948 gewährte die Regierung auch eine bedeutende kulturelle Autonomie, förderte verschiedene Kulturprogramme auf Jiddisch und unterstützte die Arbeit des Zentralkomitees der Juden Polens. Letzteres hat unter anderem das verborgene Archiv von Emanuel Ringelblums Untergrundarbeit im Warschauer Ghetto aufgedeckt.

Der Wandel zum offenen Antisemitismus in der UdSSR und in ganz Osteuropa erfolgte erst mit dem Ausbruch des Kalten Krieges 1947-1948. In der Sowjetunion startete Stalin eine erneute Serie von Säuberungen, diesmal mit offen antisemitischem Charakter, die vor allem auf die Intelligenz abzielten.

Die Überreste des jiddischen Lebens in der UdSSR wurden zerstört, als der Staat das Jüdische Antifaschistische Komitee auflöste und 1948 seinen Kopf, den Schauspieler Solomon Michoels, und anschließend die führenden jiddischen Schriftsteller der UdSSR ermordete. Juden wurden als „Kosmopoliten“ und „Zionisten“ dargestellt. Ähnliche Entwicklungen gab es in der Tschechoslowakei, Rumänien, Jugoslawien, Ungarn und anderen Ländern. (Gleichzeitig unterstützte die Sowjetunion die Gründung des Staates Israel und machte deutlich, dass es sich dabei nicht um Antizionismus, sondern um Antisemitismus handelte.) Die Säuberungen endeten erst mit dem Tod Stalins im März 1953.

Die Säuberungen erfolgten unter den Bedingungen einer schweren sozialen und politischen Krise. Noch jahrelang nach dem Krieg lebte die überwiegende Mehrheit der sowjetischen und osteuropäischen Bevölkerung im oder am Rande des Hungers, während die Bürokratie große soziale Privilegien genoss. Die eigentliche Ursache der Säuberungen war die tiefe Angst der Bürokratie, dass diese Bedingungen zu einem Wiederaufleben der linken Tendenzen in der Intelligenz und der Arbeiterklasse führen könnten, die sich gegen die stalinistische Bürokratie richten würden. George Kennan, der Architekt der imperialistischen Politik der USA im Kalten Krieg, erkannte das nur allzu gut: „Trotzki und alles, was Trotzki vertrat, war Stalins wahre Angst.“

Und tatsächlich entstanden in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren in der UdSSR eine Reihe von linken Jugendgruppen. Mehrere dieser Gruppen proklamierten als ihr Programm die Rückkehr der UdSSR und der Partei zum „wahren Leninismus“, den die Partei ihrer Meinung nach verraten hatte. Politisch gesehen war die bedeutendste unter ihnen die Union für den Kampf für die Sache der Revolution, die versuchte, ihr Programm an den Perspektiven von Leo Trotzki auszurichten, obwohl ihnen fast keine seiner Schriften zur Verfügung stand.

Sie wurde 1950 von einer Gruppe von 16- und 17-Jährigen gegründet. Sie lasen Marx, Engels, Lenins „Staat und Revolution“ und John Reeds „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“. Ihr Anführer, Boris Sluzki, war der Sohn eines Anhängers von Trotzki, der im Zweiten Weltkrieg gefallen war. Vermittels der Bibliothek seines Vaters hatte Sluzki Lenins Testament sowie Schriften von Trotzki in die Hände bekommen. Trotzki hielt er nach Angaben eines überlebenden Mitglieds dieser Gruppe für die „größte historische Figur“. Sluzki war entschlossen, sein Leben „dem Kampf gegen die bestehende sowjetische Staatsschicht und für die Rekonstruktion der historischen Wahrheit über Trotzki“ zu widmen, der „für die Sache der ‚Weltrevolution‘ gelitten hat“. Das Ziel der Gruppe war es, „den Kader auf die bevorstehende Weltrevolution vorzubereiten“. [1]

Die Gruppe wurde gewaltsam unterdrückt, und ihre Führer wurden 1952 hingerichtet. Einige ihrer Mitglieder waren zufällig Juden, und die Verhörprotokolle zeigen, dass für den NKWD die Anschuldigungen von „Trotzkismus“ und „Kosmopolitismus“ eng verflochten waren.

Ähnliche politische Motive und eine ähnliche Dynamik lagen den antisemitischen Kampagnen der Bürokratien in ganz Osteuropa zugrunde. Die Förderung des virulenten Antisemitismus, insbesondere in Polen, fiel immer mit einem Wiederaufleben von Arbeiterkämpfen zusammen: sei es 1956, dem Jahr der ungarischen Revolution und einem Aufstand in Polen, oder 1968, als eine Welle von Arbeiterkämpfen den Imperialismus und die stalinistischen Bürokratien international erschütterte.

Auch die soziale Zusammensetzung der Bürokratie und der stalinistischen Parteien trug zunehmend zur Entfaltung antisemitischer Vorstellungen bei. Ihre Nachkriegsführung bestand aus denen, die bei der Umsetzung des Großen Terrors geholfen hatten, und die Parteien selbst rekrutierten sich zu einem erheblichen Teil aus Mitgliedern der nationalistischen Intelligenz und der ländlichen Bevölkerung, die eine lange Tradition des Antisemitismus hatten.

Mit anderen Worten, der „jüdisch-bolschewistische Mythos“ blieb nicht trotz des Zusammenbruchs des „Kommunismus“ lebendig und stark. Im Gegenteil: Gerade weil in Form des Stalinismus eine nationalistische Konterrevolution stattfand, die sich gegen das marxistische und internationalistische Programm der Revolution von 1917 richtete, konnten antisemitische und nationalistische Kräfte in den von Stalinisten beherrschten Ländern bestehen und gedeihen. Und weil nicht der „Kommunismus“, sondern der Stalinismus zusammengebrochen war, musste die Bourgeoisie erleben, dass das Gespenst der sozialistischen Revolution wieder auferstand, was sie dazu veranlasste, erneut zu dem giftigen Gebräu aus Faschismus, Antikommunismus und Antisemitismus Zuflucht zu nehmen.

Dieser Prozess setzte in den 1980er Jahren ein. Die zweite Hälfte der achtziger Jahre brachte die endgültige Krise der stalinistischen Regime in Osteuropa und der Sowjetunion. Die Bürokratie zerschlug die letzten Überreste der deformierten und degenerierten Arbeiterstaaten und stellte den Kapitalismus wieder her. Parallel dazu fanden grundlegende ideologische Veränderungen innerhalb der Bourgeoisie und der akademischen Intelligenz statt. Hanebrink deutet sie mit seiner sehr kurzen Erwähnung des Historikerstreits in Deutschland an, und er erwähnt die Debatte über Arno Mayers Buch „Why did the Heavens Not Darken“ (1988; deutsch: „Der Krieg als Kreuzzug“, 1989). Aber seine Darstellung bleibt im Wesentlichen unzureichend.

Im Historikerstreit der 1980er Jahre nutzte der deutsche Historiker Ernst Nolte bewusst dieselben Argumente, mit denen die Nazis ihre Verbrechen rechtfertigt hatten: Ihre Politik sei eine notwendige und legitime Antwort auf die Bedrohung durch den „asiatischen“ Bolschewismus. Die Verbrechen der Nazis, so Nolte, seien eine „aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution“. Obwohl Nolte und seine Anhänger den Historikerstreit in den 1980er Jahren verloren haben, wie Hanebrink betont, sind seine revisionistischen Argumente seit den 1990er Jahren zur ideologischen Grundlage für starke Tendenzen innerhalb der nationalen Bourgeoisien und Regierungen in Ost- und Mitteleuropa geworden. Sie sind von zentraler Bedeutung für die Aussichten und die rechtsextreme Propaganda extrem nationalistischer Regierungen wie der ungarischen Regierung Orbán und der Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen.

Heute kann sogar eine Figur wie Jörg Baberowski an der Berliner Humboldt-Universität in Deutschland verkünden: „Nolte hatte historisch recht“, ohne auf nennenswerten Widerstand aus dem akademischen und medialen Bereich zu stoßen. Es ist ein schwerer Makel in Hanebrinks Buch, dass er nicht einmal den Namen Baberowskis oder die neofaschistische Alternative für Deutschland (AfD) erwähnt, die vorsätzlich zur wichtigsten Oppositionspartei im Deutschen Bundestag aufgebaut wurde. [3]

Die Tatsache, dass sich ein solcher offener neofaschistischer Revisionismus etabliert hat, ist nicht zuletzt mit der Dominanz der antimarxistischen und antisozialen Vorstellungen und Erzählungen des 20. Jahrhunderts verbunden, einschließlich der Quellen von Faschismus und Antisemitismus. Auch in dieser Hinsicht waren die 1980er Jahre ein Wendepunkt. Die bösartigen Angriffe von Leuten wie Daniel Goldhagen und Christopher Browning auf Arno Mayer's „Why did the Heavens not Darken“, die Hanebrink sehr kurz zusammenfasst, ohne eine klare Position zu beziehen, waren symptomatisch für eine viel breitere Verschiebung.

Mayer bestand darauf, dass das Hauptmotiv für den Völkermord am europäischen Judentum durch die Nazis ihr Antibolschewismus war. Browning und Goldhagen dagegen leugneten vehement, dass eine Beziehung zwischen dem Aufstieg der Nazis, oder auch ihrem völkermörderischen Hass auf die Juden, und der Reaktion der Bourgeoisie auf die Bedrohung durch die sozialistische Revolution und die marxistische Arbeiterbewegung gegeben habe.

Mitte der 1990er Jahre versuchte Browning, den Holocaust als Ergebnis der Handlungen und Gedanken von „ganz normalen Männern“ in der „modernen Gesellschaft“ darzustellen. Goldhagen behauptete in seinen „willigen Vollstreckern“, der Holocaust sei ein „nationales deutsches Projekt“ gewesen, das von „gewöhnlichen Deutschen“ unterstützt und umgesetzt worden sei. Solche völlig ahistorischen und antimarxistischen Vorstellungen dominieren inzwischen die akademischen Kreise. Sie haben viel dazu beigetragen, Arbeiter und Intellektuelle angesichts des Ansturms faschistischer Kräfte, auch an den Universitäten, zu entwaffnen. [4]

Vor diesem Hintergrund kommt Hanebrinks Versuch, erneut auf den Zusammenhang zwischen Konterrevolution und Antisemitismus hinzuweisen, eine gewisse Bedeutung zu. Dieser Versuch bleibt jedoch letztendlich halbherzig: Da Hanebrink nicht über den Rahmen des Antikommunismus und des Antimarxismus in der Wissenschaft hinausgeht, ist seine Darstellung nicht nur unzureichend und fehlerhaft, sondern bleibt auch zahnlos angesichts der sehr rechten Kräfte, deren Ideologie und Wiederbelebung er angreift.

Hanebrinks Buch verdient es, gelesen zu werden, sollte aber vor allem dazu ermutigen, im Kampf gegen den heutigen Faschismus die politischen und ideologischen Ursprünge des modernen Antisemitismus gründlicher zu erforschen. Dies erfordert eine viel ernsthaftere und tiefere Untersuchung, als sie Hanebrink vorlegt.

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Anmerkungen:

[1] Tumanova, Alla, "Shag vpravo, shag vlevo", in: I. A. Mazus (Hrsg.), Poka svobodoju gorim. O molodjezhnom antistalininskom dvizhenii kontsa 40-kh - nachala 50-kh godov, Moskva: Nezavisimoe izdatel'stvo "Pik" 2004, S. 223, 337.

[2] Ernst Nolte, „Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus?“, in: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München/Zürich 1995, S.32.

[3] Es sei darauf hingewiesen, dass Paul Hanebrink nicht auf eine E-Mail der World Socialist Web Site antwortete, die ihn auf ein Stipendium in Höhe von 300.000 Dollar aufmerksam machte, das die Princeton University kürzlich an Baberowskis Projekt „Diktaturen im Wandel“ vergeben hat. Siehe auch: „Princeton University stellt 300.000 Dollar für den rechten Historiker und Propagandisten Jörg Baberowski bereit“.

[4] Für eine Analyse von Goldhagens Positionen siehe: David North, „Der Mythos vom ‚ganz gewöhnlichen Deutschen‘: Eine Kritik von Daniel Goldhagens ‚Hitlers willige Vollstrecker‘“, Mehring Verlag, Essen 2015, S. 357ff.