Vor fünf Jahren ist im Berliner Verlag Metropol eine historische Studie von Ulrich Herbeck erschienen,1 die die Geschichte des Antisemitismus in Russland vom Zarenreich bis zum Ende des Bürgerkriegs 1922 beleuchtet.
Die Studie zeigt den engen historischen Zusammenhang zwischen Antisemitismus und der Reaktion gegen die sozialistische Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert. Von der Tages- und Fachpresse weitgehend ignoriert, dokumentiert Herbecks Studie die Geschichte der faschistischen Kräfte, auf die sich die imperialistischen Mächte während des Bürgerkrieges 1918 bis 1922 im Kampf gegen die Sowjetregierung gestützt hatten, die im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaborierten und auf deren Nachfahren sich heute die USA und Deutschland in der Ukraine stützen.
Teil 2: Der Kampf gegen die „jüdischen Bolschewiken“ und die Pogrome der Weißen
Die Revolution 1917 war für die Juden Osteuropas, was die Französische Revolution 1789 für die Juden in Westeuropa gewesen war: Durch den Sturz des Zaren erlangten sie erstmals volle demokratische Rechte.
Die Übergangsregierung unter der Führung von Alexander Kerenskij, die im Februar an die Macht gekommen war, verweigerte allerdings jede grundlegende Kursänderung in der Politik im Interesse der Arbeiter und Bauern, setzte den Krieg fort und verteidigte die Grundlagen des Kapitalismus in Russland. Dies schlug sich auch in ihrer Politik gegenüber den Juden und den Schwarzhundertschaften nieder.
Eine Regierungskommission, die gegen Antisemitismus vorgehen sollte, verpflichtete sich, dies nur im Rahmen der zaristischen Gesetze zu tun, eben jener Gesetze, die den blutigen Pogromen der Vergangenheit einen legalen Deckmantel geliefert hatten. Die Justiz war weiterhin durchsetzt mit Politikern, die der rechtsextremen SRN nahestand. So scheiterte unter anderem der Prozess gegen den ehemaligen SRN-Parteiführer und Schwarzhunderter Alexander Dubrowin (1855-1921).11
Ähnlich wie die demokratische Gleichberechtigung der Juden durch die Französische Revolution war die politische Emanzipation des Judentums 1917 in Russland die Zielscheibe konterrevolutionärer Kreise. Im Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution spielte im Kampf der Weißen gegen die Bolschewiki die antisemitische Agitation eine Schlüsselrolle.
Schon zuvor, nach dem gescheiterten Juliaufstand 1917, hatten die Gerüchte über „deutsches Geld für die Bolschewiki“, die antirevolutionäre Gruppierungen verbreiteten, häufig einen anti-semitischen Unterton und spielten auf die Verschwörungstheorien von einem internationalen jüdischen Komplott gegen Russland an. Die „Enthüllung“ der angeblichen, geheimen Finanzierung war meist verbunden mit einer „Entlarvung“ der Pseudonyme von jüdischen Revolutionären.
Ins Zentrum der konterrevolutionären Agitation rückte nach 1917 das Feindbild des „jüdischen Bolschewiken“. Die Antisemiten waren „von den Pseudonymen der Revolutionäre fasziniert“, da man nun hinter jedem russischen Namen einen jüdischen Revolutionär vermuten konnte. „Sämtliche antisemitischen Vorurteile über die jüdische Gerissenheit, Verschlagenheit, das instrumentelle Verhältnis zur Wahrheit etc. konnten mit den russischen Pseudonymen bestätigt werden.“12 Die Revolution konnte man damit als Machwerk von „ausländischen“ Kräften darstellen und neben Juden auch Chinesen, Letten und Armenier verantwortlich machen.
In einem Flugblatt, das in der Armee des zaristischen Generals Judenitsch verteilt wurde, hieß es beispielsweise:
„Wer leitet und führt die Angelegenheiten Russlands? Es ist peinlich und eine Schande, es auszusprechen: Herr Trockij (in Wirklichkeit Lejb Movševič Bronštejn), Herr Zinov’ev (in Wirklichkeit Srul‘ Morduchaevič Apfel’baum), Herr Steklov (in Wirklichkeit Moška Berkovič Nachamkis) und alle von derselben Sorte […] Dir, viel leidendes russisches Volk, geben die blutrünstigen jüdischen Herrscher, die Bronštejns und Apfel’baums, keinen Frieden, kein ruhiges Leben und keine billigen Waren […].“13
Von Anfang an konzentrierte sich die antisemitische Agitation auf Leo Trotzki, der neben Lenin der wichtigste Führer der Oktoberrevolution war und wie kein anderer für die Perspektive einer internationalen sozialistischen Revolution stand. „Fast in jedem Pogrom wiederholten die Angreifer ‚Das kriegt ihr für Trockij‘; fast kein antisemitischer Aufruf war ohne Verweis auf Trockij.“14
Auch in der konterrevolutionären Propaganda der Ultra-Rechten in Westeuropa und in den USA spielte dieser antikommunistische Antisemitismus eine Schlüsselrolle. Doch nicht nur die extreme Rechte unterstützte den Antisemitismus: Während des gesamten Bürgerkrieges finanzierten und rüsteten die imperialistischen Mächte im Kampf gegen die Bolschewiki die Weißen Armeen auf, obwohl die Weißen einen Massenmord an Juden verübten.
Der wichtigste Schauplatz der anti-jüdischen Massaker in den Jahren 1918 bis 1920 war die Ukraine. Hier fand „der größte Massenmord an Juden“ vor dem Holocaust statt.15 Mit 1,5 Millionen lebte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in der Ukraine ein Großteil der 2,5 Millionen-köpfigen jüdischen Bevölkerung Russlands (Weißrussland, Polen und Galizien und damit auch ihre umfangreiche jüdische Bevölkerung waren zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Teil Russlands).
In der ukrainischen Landbevölkerung war Antisemitismus seit Jahrhunderten stark verbreitet: Für die Bauern repräsentierten die Juden aufgrund ihrer sozialen Stellung den Wucherer, der sie ausbeutete. Hinzu kam, dass die Stadtbevölkerung größtenteils aus Russen, Deutschen und Juden bestand, die Landbevölkerung hingegen aus Ukrainern. So spiegelte sich im ländlichen Antisemitismus auch der Gegensatz zwischen Stadt und Land wieder. Auf diese Judenfeindschaft auf dem Land stützten sich sowohl die ukrainischen Nationalisten als auch die „Weißen“, die ansonsten kaum Unterstützung in der Bevölkerung hatten, um Bauern gegen die „jüdischen“ Bolschewiki zu mobilisieren.
Nach dem Frieden von Brest-Litowsk im März 1918, durch den das junge Sowjetrussland die Ukraine, das Baltikum, Polen und Weißrussland an die imperialistischen Mächte abgeben musste, brachten die Deutschen im April in einem Militärputsch den ehemaligen zaristischen General Pawlo Skoropadskyj an die Macht, der brutal gegen alle Unterstützer der Bolschewiki vorging. „Unter seiner Regierung wurde Kiew Sammelpunkt für rechtsradikale und antisemitische Politiker und Militärs aus ganz Russland.“16 Rechtsextreme Monarchisten konnten mit der finanziellen und politischen Unterstützung des deutschen Militärs und der deutschen Regierung rechnen.
Nach dem Sturz der Regierung gingen viele ihrer Mitglieder ins Exil nach Deutschland; mehrere von ihnen – auch Skoropadskyi selbst – beteiligten sich zwei Jahrzehnte später am Vernichtungskrieg der Nazis gegen die Sowjetunion und die osteuropäischen Juden.
Herbeck schreibt, die Pogromtätigkeiten seien unter Skoropadskyj vorübergehend leicht zurückgegangen. Der Grund dafür sei vor allem die Angst der deutschen Besatzer gewesen, ein Ausbruch von gewaltsamen Konflikten in der Bevölkerung könnte sich schnell gegen sie selbst richten. Gleichzeitig schürten die Besatzungskräfte und ihre Marionettenregierung aktiv den Antisemitismus in den besetzten Gebieten.17
Nach dem Sturz Skoropadskyis durch ukrainische Nationalisten und dem Abzug der deutschen Besatzungstruppen nach Ausbruch der Novemberrevolution 1918 in Deutschland übernahm in der Ukraine ein sogenanntes Direktorium der Ukrainischen Volksrepublik die Macht. 1919 kämpften die ukrainischen Nationalisten des Direktoriums, die Freiwilligenarmee unter General Denikin und die Roten Armee um die Ukraine.
Im Einflussbereich des Direktoriums verübte die ukrainische Nationalbewegung zahlreiche Pogrome. So wurden bei einem Pogrom in Proskurov am 15. Februar 1919 mindestens 1.200 Juden umgebracht. Weitere 560 wurden in Nachbarstädten ermordet. Als Vorwand für die Massaker dienten pro-sowjetische Aufstände der Bevölkerung, die von den ukrainischen Nationalisten den Juden zugeschrieben wurden.
Auch nachdem sich Symon Petliura, der Kopf der ukrainischen Nationalarmee und Mitglied des Direktoriums, im April 1920 mit Polen verbündete hatte, wurden die Pogrome fortgesetzt.
Doch die bei weitem grausamsten antijüdischen Pogrome „genozidalen Ausmaßes“ verübte die Freiwilligenarmee unter General Denikin zwischen Sommer 1919 und Anfang 1920. Nachdem ihr Vormarsch auf Moskau 1918 von der Roten Armee gestoppt worden war, musste sich Denikins Truppe in den Süden zurückziehen, wo sie zeitweise die wichtigen ukrainischen Städte Kiew und Charkow unter ihre Kontrolle brachte.
Auf ihrem Zug durch die Ukraine organisierte die Armee gezielte Plünderungen, Vergewaltigungen und Massaker an Zivilisten. Bei weitem am stärksten betroffen war die jüdische Bevölkerung. Bei den antisemitischen Pogromen, die wie Militäroperationen geplant und durchgeführt wurden, kam es zu „massenhafte[n] Vergewaltigungen, sadistische[n] Folterungen und scheinbar ziellose[m] Morden“.18 Die Weißen erhängten, erschossen oder erstachen ihre Opfer; manche wurden lebendig begraben, viele zu Tode gefoltert. Tausende starben an Hunger, Krankheiten und Kälte. Allein in den sechs Monaten zwischen Sommer 1919 und Anfang 1920 wurden von den Weißen schätzungsweise 50.000 Juden ermordet.
Auch in anderen Teilen Russlands kam es zu blutigen Pogromen. So ermordete die Armee der Weißen im Fernen Osten unter dem Kommando von Baron Roman von Ungern-Sternberg (auch „Blutiger Baron“ genannt) bei ihrem Rückzug 1921 die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt Ulan-Bator (heute Teil der Mongolei).
Ab 1920 kam es auch in Weißrussland vermehrt zu Pogromen, an denen sich viele Bauern beteiligten. Tausende Juden flohen vor den Pogromen vom Land in die Städte. Dort war die Versorgungslage jedoch derart schlecht, dass sie entweder verhungerten oder wieder zurück aufs Land fliehen mussten. Insgesamt wurden bei den Pogromen in Weißrussland nach Berechnungen aus dem Jahr 1988 rund 30.000 Juden umgebracht.
Dieses Blutbad wurde von den imperialistischen Mächten ebenso wie von den russischen Liberalen und rechten Sozialrevolutionären sowie Teilen der Menschewiki mehr oder weniger stillschweigend unterstützt. Die Kirche spielte wie zur Zarenzeit eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung übelster antisemitischer Hetzpropaganda.
Genaue Angaben über die Zahl der Opfer der Pogrome sind kaum möglich, da die Massaker derart umfassend waren, ganze Familien ermordet wurden und jüdische Gemeinden praktisch von der Landkarte verschwanden. Die Schätzungen belaufen sich allgemein auf bis zu 200.000 Todesopfer. Nach Angaben des russischen Historikers Budnitskii wurden weitere 200.000 Juden in Pogromen ernsthaft verwundet; Tausende Frauen wurden vergewaltigt.19 Wenn man die Getöteten, Verwundeten, vergewaltigten Frauen und verwaisten Kinder zusammenzählt, kommt man auf ungefähr eine Million Pogromopfer.20
Erst der Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg 1922 bereitete diesem Massaker an der jüdischen Bevölkerung ein Ende.
Wird fortgesetzt
Anmerkungen
1) Ulrich Herbeck: Das Feindbild vom „jüdischen Bolschewiken“: Zur Geschichte des russischen Antisemitismus vor und während der Russischen Revolution, Berlin 2009, 480 S. Alle Informationen in diesem Artikel stammen, wenn nicht anders angeben, aus diesem Buch.
11) Vgl. Ebd., S. 192.
12) Ebd., S. 196.
13) Zitiert Ebd., S. 309.
14) Ebd., S. 180.
15) Peter Kenez: Civil War in South Russia 1919-1920, Berkeley 1977, S. 166.
16) Herbeck 2009, S. 234.
17) Ebd., S. 269.
18) Ebd., S. 303.
19) Oleg Budnitskii: Russian Jews Between the Reds and the Whites, 1917-1920, Princeton/New Jersey 2012, S. 216-217.
20) Peter Kenez: Civil War in South Russia 1919-1920, Berkeley 1977, S.170.